BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Gemütlichkeit» von Holger Wyrwa
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Der Kleinbürger hält sich die Welt vom Leibe, indem er sie ausblendet oder zurichtet. Bei letzterem spinnt er die Welt in ein Netz, in einen Irrgarten von ‹Wirklichkeiten›, von dem er glaubt, daß nur er allein sich darin auskennt. Denn der Kleinbürger hat den Überblick und den Durchblick. Immer. Alles, was ihn an die Aporien, die Unmöglichkeiten, die Unsagbarkeiten seines Lebens heranführen könnte, verbannt er strikt und hart aus seinem Bewußtsein. So lernt er sich nie kennen. Der Kleinbürger verschließt die Augen vor sich selbst, so wie er die Augen vor allem verschließt, was ihm begegnet und nicht in seinen Irrgarten paßt.

Der Kleinbürger muß ständig vor sich selbst fliehen, um in seiner Welt überleben zu können. Sich der Angst vor den mannigfaltigen Unwägbarkeiten seines Lebens oder gar der Vorstellung seines möglichen Todes zu stellen, liegt ihm noch ferner als einen anmutigen Gedanken zu fassen. Deswegen ist er ständig auf der Überholspur und sättigt sich mit Aktivitäten, die ihn von seinem Leben - und dem Nachdenken darüber - ablenken. Niemand kann sich selbst entkommen. Der Kleinbürger schon. Denn Fliehen ist sein Tagesgeschäft, dem er sich hemmungslos hingibt. Deshalb konsumiert er, was zu konsumieren ist, und läßt sich anziehen von blitzenden Lichtern, der schlimmsten Lichtquelle der Welt, und vom täglichen medialen Feuerwerk, welche seine Sinne wirkungsvoll und dauerhaft betäuben. Er konsumiert eine Ablenkung nach der anderen. So ist der Kleinbürger ein Mensch, der im Modus des Wegseins lebt, der in die Welt fällt, wie Heidegger es nennt. Ein Fallen, das ein Verfallen ist und kein Ende nimmt in der Bodenlosigkeit des Abgrunds. Da er auf diese Weise das Leben in sich nicht mehr spürt, sucht er es anderswo: Unter seinesgleichen.

Unter seinesgleichen ist der Kleinbürger sofort beim Du. Er hält die Distanz nicht aus. Auch ein Fremder muß unmittelbar einverleibt werden: «Ich bin der Helmut! Wie heißt Du?» Was als Offenheit, Vertraulichkeit und Natürlichkeit erscheint, ist nichts anderes als das Aufheben einer an sich notwendigen Distanz. Das mühsame sich Annähern und Herantasten an einen Fremden wird vermieden, indem man den Anderen, den Fremden an sich selbst und den spezifischen kulturphysiognomischen Ort der Geselligkeit heranzieht und anpaßt. Der Kleinbürger interessiert sich nicht für das Anderssein des Anderen. Deswegen wird ein Fremder vereinnahmt, indem man ihm unterstellt, er teile die kleinbürgerliche Meinungswelt. Dieses Gleichmachen ist der Königsweg des Kleinbürgers, der sich der Differenz eben dadurch entzieht, daß er sie wegpustet. Nur nebenbei: Was Kleinbürger ‹wirklich› voneinander halten und denken, tut nichts zur Sache. Es geht um soziale Konventionen und um die Leichtigkeit geborgter Nähe.

Der Kleinbürger braucht geradezu den geselligen Kleinbürgerkreis, wie immer sich dieser auch zusammensetzen mag. Denn erst wenn er mit anderen Kleinbürgern zusammen ist, sich unter seinesgleichen mischt, läßt ihn die Gegenwart anderer die Illusion entwickeln, daß er mehr als nur eine Dekoration ist. Durch die von ihm halluzinierte Bewunderung seiner Person, die er den anderen Kleinbürgern unterschiebt, erfährt der Kleinbürger, daß er noch nicht tot ist.

So sehr benötigt er seine Nächsten, daß er fast alles dafür in Kauf nimmt. Bei Kaffee und Kuchen, dem Sonntagsbraten, bei Bier und Wein, bei solch betäubenden Aktionen wie Familien-, Einkaufs-, Brauchtums- und Weihnachtsfesten produziert der Kleinbürger Gemütlichkeit. Die Gemütlichkeit ist das Sedativum des Kleinbürgers, die Wohligkeit von der Stange, die alles von ihm fern hält, was ihm sein Spiel in seinem kognitiven Irrgarten verderben könnte. Gemütlichkeit heißt, die Welt abzulegen wie einen Mantel, sobald man mit anderen Kleinbürgern gefüllte soziale Räume betritt. Gemütlichkeit heißt, sich in falscher Friedfertigkeit einzulullen. Gemütlichkeit heißt, zu glauben, daß der Intimbereich der Kleinbürgergeselligkeit all das zu ersetzen imstande sei, was die schnöde Welt verweigert.

Indem sich der Kleinbürger in wohl inszenierte Momente eingebildeter Harmonie, Gemütlichkeit, Zufriedenheit und Wohligkeit flüchtet, schafft er sich die Illusion einer heilen Welt. Und dann, in dieser ‹heilen› Welt, in den ‹eigenen› vier Wänden, im Kreise der ‹eigenen› Familie, während der Zusammenkunft mit den ‹eigenen› Freunden, wenn es vor Gemütlichkeit nur so tropft, dann, ja dann erst legt er seinen von ihm in seinem kognitiven Irrgarten nur äußerst diffus gespürten ‹Weltschmerz› ab - und ißt Grillwürstchen.

Unter seinesgleichen igelt sich der Kleinbürger ein, indem er eine fötale Gemütlichkeits-Stellung einnimmt. Im Kreise seiner Kleinbürger zelebriert der Kleinbürger das Ritual der Gemeinsamkeit. In der Zeremonie des Beisammenseins erfährt er jene Ordnung, die die Grundlage seiner Geborgenheit darstellt. Das Klischee von der Gemütlichkeit ist sein Rettungsanker im tobenden Meer der Grausamkeiten, die ihm alltäglich begegnen. Die Insignien der Gemütlichkeit sollen der Garant dafür sein, daß die Welt bleibt, wo sie ist und sich nicht in seinen privaten Irrgarten verläuft. Darüber hinaus verdeckt die Gemütlichkeit gleichsam und gezielt die Monotonie des Lebens, die Sinnlosigkeit des Daseins - kurz jene Verzweiflungen, die der Kleinbürger sich nicht einmal als dumpfe Ahnung leisten will.

‹Gemütlichkeit› und ‹Geborgenheit› im Kollektiv sind das Produkt einer kollektiven Farce. Doch jeder der Beteiligten spielt in diesem Theaterstück gerne mit - um Ruhe vor den anderen und vor sich selbst zu haben: «Laßt uns gemütlich Kaffee trinken!»; «Laßt uns gemütlich beieinander sein!»; «Laßt uns gemütlich miteinander feiern!», das sind die Schlachtrufe der Kleinbürger als Antwort auf die nicht gestellte, aber ständig präsente Frage «Wer bin ich?»

Solange sich der Kleinbürger nicht seinen eigenen Dämonen stellt, wird er niemals jene Freiheit erlangen, die ihn befähigte, seine sozialen Marionettenfäden zu zerreißen und seinen kognitiven Irrgarten zu verlassen. Könnte er es, würde er sich nicht mehr nach einer Geborgenheit sehnen, die außerhalb seiner selbst liegt und gerade dort nicht zu finden ist. Da er es aber nicht kann, ist er dazu verdammt, zu hoffen, wo nichts zu hoffen ist.

Denn der Flucht in die heile Welt der Gemütlichkeit ist die gleiche Enttäuschung beschieden wie einst der Flucht in den Glauben, den Nationalismus, den Patriotismus. Auch die Familie versprach dem Kleinbürger mehr, als sie zu halten fähig war. Als Refugium der Geborgenheit trat sie an und endete im Desaster. Denn überall, wo Menschen zusammen sind, offenbart sich früher oder später die alle Hoffnungen auf Gemeinsamkeit verschlingende Differenz.

Die Hölle - dies hat Sartre richtig erkannt - das sind die anderen. Die Hölle, das ist ein überindividuelles Muster von Gemeinsamkeit, Gemütlichkeit und Geborgenheit zerstörenden Verhaltensweisen, das sich wie ein Netz gleichsam auf die Individuen legt, die dieses Muster in den Augenblicken ihrer zwischenmenschlichen Begegnungen erschaffen und aktivieren. Wo immer mehr als einer anwesend ist, da ist die Hölle mitten unter ihnen und kein Kleinbürger kann ihr entrinnen. Und früher oder später ist sie zu erkennen, getarnt durch Höflichkeiten und Freundlichkeiten - so wie es nun einmal des Kleinbürgers Art ist. Die von Verlogenheiten geschwängerte Luft des sozialen Raumes gibt Zeugnis ab vom Irrsinn des Heile-Welts-, Gemütlichkeits- und Geborgenheits-Kitsches.

Was wäre der Kleinbürger ohne den sozialen Kitt der Gemütlichkeit? Ein Illusionist der Leere, ein Psychopath des Alltags, einer, der mit sich alleine wäre. Und genau das hält er nicht aus.



Erstellt: 16. Oktober 2003 – letzte Überarbeitung: 16. Oktober 2003
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