BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Mütter»
von Holger Wyrwa
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Was eine Mutter von einer Kleinbürgermutter unterscheidet, ist der Grad an Souveränität, mit der sie gebiert und damit das von ihr in die Welt gesetzte Kind nicht zum Zwecke der Selbstbefriedigung mißbraucht. Einer Selbstbefriedigung, die die Kleinbürgermutter mit dem Mantel der Liebe umgibt und damit jenes Unheil anrichtet, das zwangsläufig nur neue Kleinbürger erzeugt. Ihrer vor sich selbst verheimlichten Sehnsucht nach Macht verleiht die Kleinbürgermutter im Geburtsakt Ausdruck. Damit hat sie die Diktatur der Liebe ausgerufen, dem jetzt ein zappelndes und schreiendes Etwas hilflos ausgeliefert ist. Hier spielt sich der Wille zur Macht auf einer untersten Ebene ab. Er zielt nicht darauf ab, sich selbst zu überwinden - wie Friedrich Nietzsche es sich vorstellte - sondern den Widerstand eines anderen - mittels ‹Liebe›.

Was liegt da näher als sich der Ressource zu bedienen, welche die Natur der Frau verliehen hat? Wer noch im Schatten eines von Männern gemachten Lebens sein Dasein fristet, sich der eigenen Zukunftsleere bewußt zu werden glaubt oder die geistige Ausweglosigkeit, die im Kopf herrscht, erahnt, sehnt sich früher oder später danach, nicht mehr das letzte Glied in der Kette der Ohnmächtigen zu sein. So ist das Kinderkriegen letztlich für die Kleinbürgermutter das nicht eingestandene Eingeständnis einer Niederlage, das sich in den zweifelhaften Sieg verkehrt, nunmehr das vorletzte Glied der Kette zu sein. So beschließt die Kleinbürgerin, sich eines vermeintlich Schwächeren zu bedienen, um sich selbst zu erhöhen.

In ihrem ganzen Leben besitzt die Kleinbürgerin niemals eine solche Art von Macht, wie vor, während und nach der Geburt, welche sie in einen fast gottähnlichen Status katapultiert. Hierbei ist die Prozedur des Versorgens eines Kindes nur ein Symbol. Denn die Kleinbürgermutter führt ein Leben wie ein absolutistisch regierender Monarch. Sie bestimmt den Ablauf des Tages, die Art der Bekleidung, die Nahrung, die Interaktion. So sehr geht die Kleinbürgermutter in ihrem Herrscherinnendasein auf, daß sie kein eigenes Leben mehr haben will, wenn sie es denn je wollte. Denn jetzt hat sie etwas ‹Eigenes›, das ihrem Willen untertan ist und das sie besser kontrollieren kann als sich selbst.

Doch getäuscht von dem gesellschaftlichen Mythos der Unschuld, Heiligkeit und Hilflosigkeit des Kindes, macht sich früher oder später eine Enttäuschung über die ihr entgangenen oder eingebildeten Lebenschancen breit. Allerdings gesteht sie sich ihre immer wieder aufflackernde Wut und ihren Haß auf ihr Kind nicht ein, statt dessen bestreut sie eben diese Gefühle mit dem Zuckerguß der Güte. So ausgerüstet ‹liebt› sie in doppelter Stärke und macht sich an das Werk der Erziehung. In der verkehrten Überzeugung gefangen, nur das Beste für ihr Kind zu wollen, überschüttet sie es mit ihrer hinterhältigen und niederträchtigen ‹Liebe›, daß den davon Betroffenen die Luft wegbleibt. Das ist ihre spezielle Art von Macht, die sie einem Schwächeren auferlegt wie man einem zum Tode Verurteilten die Schlinge um den Hals legt.

«Ich will nicht tun, was sie sagt. Doch sie sieht mich mit ihren Augen an, aus denen soviel Entsagung, Traurigkeit und Liebesbereitschaft spricht, daß ich sogleich ein schlechtes Gewissen bekomme. Ich möchte ihr sagen, daß mich ihre Güte anwidert, daß sie sich zum Teufel scheren soll, daß sie mich erstickt, doch ich tue es nicht. Statt dessen mache ich, was sie sagt. Ihre Liebe klebt an mir wie ein unendlich sich dehnendes Kaugummi.»

Wer auf eine falsche Weise geliebt wird, kann sich dem Druck dieser Liebe nicht entziehen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen, das den Genuß des eigenen Lebens einschränkt. Und auch dann, wenn Trotz und Wut gegenüber der Kleinbürgermutter stärker sind, bleibt ein Gefühl der Niederlage zurück, ein Stich, der nicht blutet, aber Spuren hinterläßt. Niemand ist wehrloser als derjenige, der von einer Kleinbürgermutter geliebt wird und sich nicht dagegen wehren kann, so unangenehm ihm diese Liebe auch sein mag. Auf diese Weise wird der Gedanke und das Gefühl einer Verpflichtung in den Köpfen der zukünftigen Kleinbürger implementiert. Nur wer sich verpflichtet fühlt, gibt sich Dingen hin, um die er ansonsten einen großen Bogen machen würde. Eltern und ihre Kinder sollten sich beizeiten aus dem Weg gehen, um jene peinlichen Begegnungen zu vermeiden, die den Nachwuchs dazu veranlaßt, ihren Eltern aus Verpflichtung entgegenzukommen. Vor allem gibt es am Wochenende auch Schöneres zu tun, als Pflichtbesuche zu absolvieren.

Die Kleinbürgermutter ist nicht selten eine willige Vollstreckerin eines Gehorsamkeitskultes, in dem Liebe wie Bonbons verteilt wird. Damit tut sie der Gesellschaft einen großen Gefallen, die einen nur dann an der Macht schnuppern läßt, wenn man sich vorher ausführlich der Ohnmacht des Gehorsams auslieferte. Der Gehorsam als Brutstätte der Unterdrückung entwickelt sich, wenn man nur auf Grund von entsprechenden Vorleistungen geliebt wird. Natürlich wird die Kleinbürgermutter dem eigenen Kind ihre Liebe nicht grundsätzlich verweigern, aber im Gefolge ihrer gleichzeitig gezeigten Enttäuschung und Zuwendung, erpreßt sie den Gehorsam doch, und löst beim Kind einen Unterwerfungsreflex unter das Diktat der Liebe aus. Dort, wo dieser Ritus der Anpassung noch funktioniert, lernt der angehende und schließlich ausgewachsene Kleinbürger sich beizeiten zu krümmen und in der Welt Bonuspunkte dafür zu sammeln, daß er brav seine Arbeit erledigt. Auf diese Weise wird aus ihm ein weiterer Buchhalter der Konvention, der einen Strich unter seine Freiheit zieht und lächelt, sobald man ihm über sein Köpfchen streichelt.

Doch die ursprüngliche Macht der Kleinbürgermutter über ihr Kind hat schon seit geraumer Zeit Risse bekommen. Ein Wandel ist zu verzeichnen. Einem gesellschaftlichen Kodex der Überwertigkeit des Kindes folgend, entsagt die Kleinbürgermutter heute immer öfter ihrer Macht, um sich von nun an der Macht des Kindes zu unterwerfen. Damit wird sie wieder zum letzten Glied der Kette. Die Diktatur der falschen Liebe wird nun zu einer Tinktur der Verliebtheit.

Vom Zeitgeist überfordert unterfordert sie nun ihr Kind und wird zur willigen Vollstreckerin seiner Wünsche. Die postmoderne Kleinbürgermutter will ihrem Kind jegliches Leid ersparen. Sie ist in einer Art hündischer Ergebenheit in ihre Kinder verliebt und auf diese fixiert. Und so verkehrt sich die Macht, die sie heimlich ersehnte, wieder in eine neue alte Ohnmacht, ohne daß es ihr je bewußt würde. Sie will von ihren Kindern nur geliebt werden und ist bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. Das Ich im Auge des Anderen sehen, wie James Joyce es ausdrückt, das ist der Narzißmus der Kleinbürgermutter, der über die eigene Leiche geht. Sie gleitet in einen neuen Zustand hinein, von einer ihr nicht bewußten Offensive der Unterdrückung zu einer nicht bewußten Defensive gesteigerter Abhängigkeit. In beiden Fällen redet sie sich ein, das alles nur im Interesse ihres Kindes geschieht, ohne daß ihr auch nur im Ansatz deutlich wird, daß ihre Beweggründe zu guter Letzt in einem brutalen Egoismus wurzeln. Sie glaubt frei in ihren Entscheidungen zu sein und ist dabei doch nur ein ausführendes Organ, eine Marionette, in einem Spiel, das sie nicht versteht. Kaum eine Mutter, die das Format hätte, zu denken, geschweige denn zu sagen, daß es ein Irrtum war, zu gebären, bei dem, was da herausgekommen ist.



Erstellt: 19. Juli 2004 - letzte Überarbeitung: 19. Juli 2004
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