BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Kinder»
von Holger Wyrwa
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Die Kleinbürgermutter glaubt, ihrem Kind einen großen Dienst zu erweisen, wenn sie sich für es aufopfert. Was natürlich genau aus diesem Grunde nicht funktionieren kann. Denn mit grenzenloser Liebe überschüttet, lernt das Kleinbürgerkind schon sehr früh, unverschämt in seinen Ansprüchen zu werden und die ihm gebotene Liebe passiv zu konsumieren - ohne sie lernend zurückzugeben. Denn daß man lernen kann, einen Menschen zu lieben, indem man ihm beibringt, was lieblos und was liebevoll ist, von all dem will die Kleinbürgermutter nichts hören und nichts wissen. Es stört ihr romantisches Empfinden, Tatsachen - also dem Verhalten ihres Kindes - ins Auge zu schauen. Und ihren lieben Kleinen Rücksichtnahme und Verzicht abzuverlangen - was eine erste Stufen bei der Entwicklung zu einer Liebesfähigkeit sein könnte - ist ihr erst recht nicht möglich. Denn dafür müßten Kleinbürgermutter und Kleinbürgervater nicht nur eine Meinung haben, sondern vor allem Stellung beziehen. Und genau das kann der Kleinbürger eben nicht. Das hat er nicht gelernt. So ist es ihm ein Greuel, sein Kind in Schranken zu weisen oder es aufzufordern, etwas zu tun oder zu lassen - und sich damit der Gefahr auszusetzen, es zu beleidigen, zu verletzen, zu verstören oder zum Weinen zu bringen. Das kann der Kleinbürger nicht ertragen. Kleinbürgerkinder lernen das als erstes. Also versäumt der Kleinbürger, seine Kinder zu erziehen: Laisser-faire. Und das heißt, ein Kind wird im Wesentlichen sich selbst überlassen.

Der Kleinbürger mutet so seinen Kindern die Konfrontation mit einem anderen Willen nicht zu. Statt dessen beugt er sich ihnen in einer freiwillig eingenommenen Unterwerfungspose. Im weitgehenden Verzicht auf jede Anforderung wollen Kleinbürgereltern ihren Kindern jegliches Leid ersparen - selbst so etwas Banales wie das Aufräumen des eigenen Zimmers gilt bereits als Leid - und schaffen damit das Leid anderer, die einst unter ihren Kindern nichts zu lachen haben werden. Ganz abgesehen davon, daß die Kleinbürgerkinder an ihren eigenen unerfüllbaren Ansprüchen - etwa daß die Welt nur ihnen und sonst niemandem zu Diensten zu sein hat - zugrunde gehen werden.

Und so entstehen durch die Unfähigkeit des Kleinbürgers, seine Kinder zu erziehen, die Heerscharen jener charmanten Ungeheuer,

  • die zwar andere durch einen Blick, einen Satz, ein Lächeln zu betören verstehen, aber innerlich kalt wie Eis sind - solange eine Angelegenheit nicht sie selbst betrifft;
  • die in vielen Fällen schön anzusehen sind, aber doch nur eine innere Unbarmherzigkeit und Schonungslosigkeit verbergen;
  • deren sensibler Blick ausschließlich ihnen selbst gilt
  • und deren Roheit und Plumpheit die ihrer Eltern bei weitem übersteigt.

  • Die Signaturen der Gleichgültigkeit, der Rücksichtslosigkeit und des Egoismus sind unübersehbar. Ein Kleinbürger hat mitunter noch Skrupel, sein Kind, das charmante Ungeheuer, hat diese nicht.

    Erwachsen geworden präsentieren sich die Kleinbürgerkinder der Welt in den Masken der ‹Schönheit› und Tadellosigkeit. Im Kreis der ihnen ‹nahe stehenden› Menschen - falls man eine solche Formulierung überhaupt wählen kann, steht doch das Kleinbürgerkind nur sich selbst nahe - und insbesondere gegenüber ihren Eltern lüften sie in Momenten der Wahrheit ihre Masken, um eine Seite ihres Ichs zu zeigen, die radikal die eigenen Interessen vertritt.

    «Lauernd sieht sie mich an, sie will wohl wieder Geld von mir haben. Sie tut freundlich, doch nur so lange, bis sie bemerkt, daß sie damit bei mir keinen Erfolg hat. Dann begafft sie mich abfällig und wirft mir vor, daß ich eine schlechte Mutter sei, die sie stets vernachlässigt, sich nie um sie gekümmert habe. Sie tut mir damit weh, doch ihr fordernder Blick bannt mich in die Ausweglosigkeit meiner Situation. Sie glaubt einen Anspruch auf mein Geld zu haben, weil das, was mir gehörte, auch stets das ihre war - aber auch nicht einmal andersherum. Sie hat kein schlechtes Gewissen mir gegenüber. Absolut nicht. Ihr erbarmungsloser Blick - wie ein Stachel auf mich gerichtet - zeigt mir, daß sie glaubt, im Recht zu sein. Ich sehe das alles. Also greife ich zum Portemonnaie, um diesem Gesicht, diesem Blick meines Kindes zu entkommen. Ich gebe ihr das Geld. Jetzt lächelt sie und streichelt mir die Wange.»

    Erwachsene Kleinbürger leben in einem von Phrasen und Gesten gestifteten Miteinander, das sie gegenseitig stärkt und stützt, auch wenn es sie in die Schlünde der Banalität reißt. Kleinbürger können miteinander schunkeln und sich verbunden fühlen. Sie haben ihre Werte, auch wenn sie diese weder selbst erzeugt haben noch um sie Näheres wissen. Das Kleinbürgerkind als charmantes Ungeheuer ist dagegen ein Virtuose der Selbstsüchtigkeit. Nie an Werte gekettet, befriedigt es sich selbst. Immer. Das charmante Ungeheuer genügt sich selbst und das reicht völlig aus, um in dieser globalisierten Welt als ‹Ich-AG› zu überleben. Das Kleinbürgerkind hat keine Gemeinsamkeiten mit anderen, außer unwesentlichen und zeitlich limitierten äußeren Moden und Konsum-Interessen. Verpflichtungen, ein Engagement, ja ein Commitment sind ihm völlig fremd. Das charmante Ungeheuer lauscht den archaischen Regungen aus seiner Kindheit, schenkt ihnen Gehör und folgt so seinen Augenblicks-Empfindungen. Die Laune als Richter.

    Kleinbürgerkinder benutzen zwar die gleichen Worte wie ihre Erzeuger, aber die Begriffe werden immer leerer. Sprechen Kinder von einem ‹Bedauern›, von ‹Mitgefühl›, ‹Toleranz› oder ‹Verständnis›, so sind dies nur ephemere Phrasen, die die dahinterstehende Gleichgültigkeit schlecht kaschieren. Als voreinander isolierte Egomanen - die sie voller unbewußter Überzeugung sind - dokumentieren die charmanten Ungeheurer ihre Unfähigkeit zu menschlichen Begegnungen. Die natürliche Grausamkeit des Kindes, das endlose Haben-Wollen steht auf ihrer Stirn geschrieben. Kleinbürgerkinder fühlen nichts, weil sie nicht gelernt haben, etwas zu fühlen, was über ein stumpfsinniges Lust-Unlust hinausgeht. Kleinbürgerkinder denken nichts, weil sie nie gelernt haben, welche Freude es machen kann, über öde Allgemeinplätze hinauszudenken. Kleinbürgerkinder sind so sehr in sich selbst verliebt, daß sie keine Zeit haben, andere zu lieben. Der Rest ist Schminke.



    Erstellt: 9. August 2004 - letzte Überarbeitung: 9. August 2004
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