BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Allein»
von Holger Wyrwa
Als PDF-Datei laden

Der Kleinbürger spürt in sich oder aus sich heraus kein Leben. Deswegen sucht er es anderswo. Erst wenn er sich unter Seinesgleichen mischt, läßt ihn die Gegenwart anderer die gemütliche Illusion entwickeln, daß er mehr ist als nur Dekoration oder Kulisse. Nur in der von ihm halluzinierten Bewunderung durch andere Kleinbürger erfährt er, daß er noch nicht tot ist.

Mit sich selbst allein zu sein, bedeutet für den Kleinbürger die Gefahr, in einen Abgrund oder in eine Leere zu starren, die selbst er mit seinen Routine-Phrasen und Standard-Floskeln nicht mehr füllen kann. Aus diesem Grunde heiratet er oder geht eine Beziehung ein, setzt Kinder in die Welt oder kauft sich einen Hund.

Angst vor der Leere und Einsamkeit ist für den Kleinbürger also die Triebfeder des Sozialen. Er kann auf seinen zwei Beinen nicht alleine gehen. er braucht noch zwei dazu. «Doppelatemzüge machen, auf vier Füßen gehen; und da liegt noch so einer in Fleisch gewickelt», sagt Musil. Wenn der Kleinbürger sich also an einen anderen Menschen bindet, verknüpft er sich mit sich selbst. Und die Bewegungen des anderen Fußpaares bewegen ihn so sehr, daß diese ihm gleichsam als die Verlängerung seiner eigenen Bewegungen erscheinen. Das macht ihn glücklich. Indem er sich die Lebendigkeit eines anderen einzuverleiben versucht, glaubt er selbst am Leben zu sein. Den anderen spüren, um sich selbst zu spüren, den anderen berühren, um wieder berührt zu werden, damit hofft er dem Zurückgeworfensein auf sich selbst entgehen zu können. Allein sein? Nur für sich sein? Gleichsam nur mit sich selbst verheiratet sein? Dazu ist der Kleinbürger nicht fähig.

Der Kleinbürger erkennt nicht, daß er in seinem Wunsch nach der Einverleibung des anderen nur sich selbst liebt. Er knetet den anderen, den er zu lieben behauptet, in die Form, die er bei sich selbst nicht gestalten kann. Das Eigen-Verlorene im Fremden fühlen zu wollen und ihm dort wieder den Garaus zu machen, das ist eine Passion, der sich nur ein Kleinbürger exzessiv hingeben kann. Denn nur die von ihm vorgestellte Fremdheit des anderen kann er ertragen. Die wirkliche Fremdheit und Andersartigkeit, dessen, den er zu lieben vorgibt, könnte er nicht verwinden. Er liebt ja nur sich selbst im anderen.

Sollte er er eines Tages sein geliebtes Gegenüber einmal überraschend genau anschauen, kämen ihm die vertrauten Gesichtszüge unvertraut vor. Er sähe dann plötzlich einen Ausdruck, der ihm fremd wäre, der sich einem seiner üblichen Einordnungsversuche entzöge. Er würde diesen Gesichtsausdruck, ja dieses Gesicht hassen. Es würde sich etwas in sein Bewußtsein drängen, was ihn mit Entsetzen erfüllte. Und vielleicht käme er gar zu der grandiosen Frage: «Kenne ich den Mensch überhaupt, den ich zu lieben glaube?»

Doch ein guter Kleinbürger überlebt auch dieses kurze Melodram momentaner Verwirrungen und kehrt schnell wieder zur vertrauten Gedanken- und Gefühlsroutine zurück. Erst dann, wenn die zunächst nicht wahrgenommene - aber natürlich schon immer vorhandene - kleinbürgerliche Gewöhnlichkeit des anderen sich im Laufe der Zeit der eigenen kleinbürgerlichen Gewöhnlichkeit angeglichen hat, macht der Kleinbürger seine Augen auf, weicht entsetzt vor seinem Spiegelbild zurück - und läßt sich scheiden. Der Kleinbürger hat keine andere Wahl. Solange er versucht, sich selbst - über einen anderen - zu lieben und zu finden, muß er immer wieder in diese Falle laufen.

Der Kleinbürger ist immer allein, selbst in Gesellschaft oder in seiner Ehe. Dies wäre ein Grund, ihn zu bedauern. Doch letztlich bekommt er nur das, was er verdient.



Erstellt: 12. August 2004 - letzte Überarbeitung: 12. August 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.