BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (1): Einführung»
von Albertine Devilder
Als PDF-Datei laden

Vorbemerkung

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Was soll das? Was heißt das? Nun, ganz einfach, selbst in diesen geistesfernen Zeiten kommt mitunter dem einen oder anderen Menschen in eigentlich harmlosen und unverfänglichen Situationen des Alltags plötzlich die gefährliche Frage in den Sinn, ob denn nun wirklich alles so wirklich sei, wie es scheint. In diesen potentiellen Sternstunden menschlichen Geistes, in denen bisher Fragloses plötzlich fraglich wird, in denen ehemals Geordnetes auf einmal ungeordnet oder gar verrückt erscheint, haben leider die meisten Menschen recht wenig erkenntnistheoretisches Denkwerkzeug bei der Hand, so daß es, falls man diese eigentlich merk- und denkwürdigen Gedanken über Möglichkeitswelten nicht unverzüglich einstellt, gelegentlich zu allerlei unnötigen psychischen und kognitiven Deformierungen dessen kommen kann, was der erkenntnistheoretisch unbedarfte Zeitgenosse für sein «Ich» halten könnte.

Damit dies – und manches andere – in Zukunft nicht mehr vorkommt, werde ich im folgenden einen kleinen Streifzug durch zwei erkenntnistheoretische Paradigmen unternehmen. Und alle geneigten Leserinnen und Leser, die den Mut haben, die erste der hier vorgestellten Erkenntnistheorien (die des naiven Realismus) abzuschütteln und in Zukunft weit hinter sich zu lassen, sind aus dem Gröbsten raus, wirklich! Da kann nix mehr passieren, ehrlich!


Einführung

In der Moderne (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 11) wird in Alltag und Wissenschaften in völlig selbstverständlicher und fragloser Weise ein ganz naiver Realismus betrieben. Im Alltag werden Erfahrungen erfahren, Erlebnisse erlebt und Gefühle gefühlt. Anschließend wird darüber gesprochen. Pausenlos. In den Wissenschaften werden Beobachtungen gemacht, Daten erhoben, also hochgehoben, und Befunde gefunden! Anschließend wird alles publiziert. Pausenlos. Dabei wird völlig vergessen, daß es keine Erfahrungen, keine «Wahrnehmungen», keine Beobachtungen ohne eine zugrundeliegende Epistemologie geben kann. Epistemologische Vorstellungen davon, was ich überhaupt sehen, hören und «erkennen» kann, gehen der Erfahrung, der Beobachtung, dem Hingucken immer voraus. Zuerst Epistemologie, dann Empirie und Erfahrung! Sehen heißt wissen!

In der Moderne wird in Alltag und Wissenschaft der epistemologische Teil unserer Erfahrungen abgeschnitten. Ja es wird in aller Regel so getan, als müsse man oder frau sich um diesen Anteil gar nicht kümmern, und die schweigende Mehrheit applaudiert! Fragt mal einen «normalen» Menschen danach, was er oder sie denn von epistemologischen Fragen halte. Nur ganz wenige werden diese Frage überhaupt verstehen, und deren Antwort wird dann deutlich machen, daß erkenntnistheoretische Fragen etwas für Wortverdreher, Spinner oder Philosophen seien, also alles Leute, über die man heute nur lachen kann. Im allergünstigsten Fall ist zu hören, erkenntnistheoretische Fragen seien – wie wissenschaftstheoretische Fragen – überaus «interessant» und man wolle sich schon seit längerer Zeit «einmal» damit beschäftigen.

Ja, es ist seltsam, daß für moderne Menschen die Frage: «Was können wir erkennen?» eine ganz und gar seltsame Frage ist. Aber es ist eine Frage, die zunehmend an Bedeutung gewinnen wird, da unsere derzeitigen populären Vorstellungen von Erfahrung, Erkenntnis und Empirie scheitern. Deswegen läßt sich zur Zeit, parallel zum Abschied der finalen Moderne und dem vorläufigen Höhepunkt der Postmoderne (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 11), in Kunst, Literatur und Wissenschaft eine Abkehr beobachten, eine Abkehr vom real existierenden Realismus. Immer mehr Leute verständigen sich über das grundsätzliche Scheitern des traditionellen Erkenntnisweges, auch wenn die Medien des Kapitals wirklich alles tun, um unsere gedanklichen Eigenbewegungen wegzududeln.

Aber der Reihe nach. In der Geschichte unseres Geistes gab es schon immer einen Konflikt zwischen zwei großen Schulen des Denkens. Auf der einen Seite standen Objektivismus, Materialismus und Realismus, und auf der anderen Seite Subjektivismus, Idealismus und Konstruktivismus. Sehen wir uns beide Richtungen ausführlicher an. Orientieren wir uns zunächst einmal!


Objektivismus, Materialismus und Realismus

Drei Grundgedanken einen diese philosophische Richtung:
  1. Die Dinge und die Materie existieren außerhalb von uns und unabhängig von unserem Bewußtsein, also objektiv, positiv, materiell, real.
  2. Die Materie wirkt auf unsere Sinnesorgane ein und erzeugt Empfindungen.
  3. Und unser Erkenntnisvermögen ist ein spiegelartiges Instrument, welches die Dinge der Welt, die Materie, widerspiegelt, abbildet.
Dieses Denken, dieses Vorgehen wird heute als Kybernetik 1. Ordnung bezeichnet: Ein Beobachter beobachtet etwas, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Und die Kybernetik 1. Ordnung entwickelt Theorien über Beobachtungsgegenstände und fragt z.B.: Wie funktioniert eine Maschine, ein Körper?

Und dieses Denken ist weit verbreitet, es ist «normal». Es füttert den «Fortschritt» allüberall! Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) macht in seinem Buch «Materialismus und Empiriokritizismus» (1909) einige hochinteressante Bemerkungen dazu: «Der ‹naive Realismus› eines jeden gesunden Menschen, der nicht im Irrenhause oder bei den philosophischen Idealisten war, besteht in der Annahme, daß die Dinge, die Umgebung, die Welt unabhängig von unserer Empfindung, von unserem Bewußtsein, von unserem Ich und dem Menschen überhaupt existieren. […] Unsere Empfindungen, unser Bewußtsein sind nur das Abbild der Außenwelt […] Die ‹naive› Überzeugung der Menschheit wird vom Materialismus bewußt zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht.» (Seite 61 und 62) Und etwas später, auf Seite 134, sagt Lenin: «Das menschliche Denken ist also seiner Natur nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die eine Summe von relativen Wahrheiten ist, zu geben, und gibt sie uns auch. Jede Stufe in der Entwicklung der Wissenschaft fügt dieser Summe der absoluten Wahrheit neue Körnchen hinzu […].»

Deswegen also «Naiver Realismus». Und ist das nicht absolut schön und faszinierend, daß Politiker von CDU, CSU oder SPD oder Professoren beliebiger Fachbereiche genau dasselbe sagen könnten wie Lenin, wenn sie es denn denken könnten? Kapitalismus und Marxismus-Leninismus haben in Alltag und Wissenschaft die gleiche Erkenntnistheorie und den gleichen Glauben an den ewigen Fortschritt! Wunderschön! Das sollten wir erst einmal in Ruhe genießen und verdauen. Vor allem können wir uns überlegen, was denn aus dem Kapitalismus wird, nachdem der Marxismus ja schon gescheitert ist? Aber schließlich glimmte der ja auch nur noch so vor sich hin und konnte von Helmut Kohl locker mit seiner Strickjacke ausgepatscht werden. Oder wurde er ausgepustet?


Subjektivismus, Idealismus und Konstruktivismus

Aber weiter in diesem uralten Streit philosophischer Systeme: Subjektivismus, Idealismus und Konstruktivismus sagen nun, daß da draußen, außerhalb von uns, ohne uns, sicherlich eine Welt existiert, daß wir aber diese wirkliche Welt leider niemals erkennen können, da diese immer nur unsere Vorstellung sein kann. Und woher sollen wir wissen, ob unsere Vorstellung von der Welt der Welt selbst entspricht? Hier wird also gesagt, daß jedes Erkennen prinzipiell an einen Organismus, an einen Beobachter gebunden ist. Das nennt man/frau heute Kybernetik 2. Ordnung. Die Kybernetik 2. Ordnung ist die Kybernetik der Kybernetik, hier wird gefragt, wie funktioniert die Beobachtung von Systemen.

Warum wird diese Richtung nun oft Relativismus genannt? Nun, weil unsere Vorstellungen von der Welt niemals Abbild der Welt sein können, sondern immer nur von uns abhängig, auf uns bezogen, relativ zu uns sein können.

Warum Idealismus? Idealisten werden diejenigen Philosophen genannt, die nur ihre eigene Existenz und die Existenz ihrer eigenen Empfindungen anerkennen und sagen: Woher soll ich wissen, was wirklich da draußen, ausserhalb von mir, ist? Auf diese alte und sehr deutsche Philosophie-Tradition schlagen die Materialisten und Positivisten besonders gerne ein, wie wir gleich sehen werden!

Warum Konstruktivismus? Dieses Wort soll beschreiben, daß die Welt nicht passiv, also ohne unser Zutun in unseren Kopf hineinkommt. Die Welt erzeugt nicht von selbst in unserem Kopf irgendwelche Bedeutungen! Statt dessen konstruieren wir unser Wissen über die Welt selber!

Es ist völlig klar, daß moderne Realisten den KonstruktivistInnen nun ontologischen Solipsismus vorwerfen, das heißt, sie werfen ihnen vor, daß sie die Existenz einer von ihnen unabhängigen Welt da draußen verneinen würden (vgl. dazu das obige Zitat von Lenin). Über diese ihre eigene Erfindung, können sich Realisten ziemlich lustig machen. Leider ist dieser Vorwurf aber Unsinn: KonstruktivistInnen vertreten keinen ontologischen Solipsismus, sondern einen epistemologischen Solipsismus. Das ist der entscheidende Unterschied: Es wird hier nicht die Existenz einer von uns unabhängigen Welt bezweifelt, sondern es wird gesagt, daß wir die von uns unabhängig existierende Welt leider nicht sehen und empfinden können, wie sie wirklich ist, sondern nur, wie wir sie mit Hilfe unserer Erkenntniswerkzeuge konstruiert haben (Kybernetik 2. Ordnung). Das ist der Punkt, und damit fällt die materialistische und kapitalistische Solipsismus-Kritik in sich zusammen! Diese alte Debatte läßt sich heute mit dieser entscheidenden begrifflichen Trennung ganz gut präzisieren.

Soviel zur Einführung. Im 1. Hauptstück schauen wir uns den Realismus näher an, die Leib- und Magentheorie aller Menschen also, die über einen gesundem Menschenverstand verfügen und «nicht im Irrenhause oder bei den philosophischen Idealisten» waren. Es lohnt sich immer, das zu lesen, was man schon immer gedacht hat, aber nie darauf gekommen ist, daß man es gedacht hat.


Kommentare:

5. Oktober 2000
Liebe Albertine!
Eines der Killerargumente gegen den Konstruktivismus ist ja unter anderem die hässliche Geschichte mit dem «vom Auto überfahren werden». (Da geht die Konstruktivistin über die Straße und denkt sich, die Ampel ist grün, und dann kommt aber die gemeine objektive Wirklichkeit, also ein Auto, und fährt die Konstruktivistin tot…)
Hier gibt es ja vielerlei einzuwenden, z.B. dass Konstruktivistinnen überhaupt nicht sagen würden, dass sie völlig frei und willkürlich konstruieren können. Vor allem aber ist zu dem konkreten Beispiel «Autounfall» einzuwenden, dass Unfälle im Straßenverkehr doch eher die Konstruiertheit unserer Wahrnehmungen bestätigen. Denn viele UnfallverursacherInnen sagen doch tatsächlich, sie hätten die rote Ampel, das Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung, die Oma auf dem Zebrastreifen und den Wagen von rechts gar nicht gesehen (obwohl sie nachweislich weder blind sind, noch notorische LügnerInnen oder gar KonstruktivistInnen). Solche Unfälle scheinen mir demnach doch eher wesentliche konstruktivistische Annahmen zu unterstützen. Sie illustrieren nämlich genau das, was Ernst von Glasersfeld mit Viabilität von Konstruktionen meint, also ein Kernkonzept des Radikalen Konstruktivismus.
Herzliche Grüße
Ellen


2. März 2001
Liebe Albertine, auf der Suche nach Texten, die geeignet sind für die Einführung (vermutlich großteils, bislang, vielleicht aber auch nicht) Konstruktivismus-unbedarfter Mathematik-Studentinnen zum Zecke eines Seminars «Mathematische Modellierung aus der Sicht konstruktivistischer Philosophie» bin ich im Skepsis-Reservat auf deine wunderbaren Texte «Wie wirklich ist die Wirklichkeit?», «Wirklichkeit, Wahrheit, Wissenschaft, Ethik» und «Psychometrie» gestoßen. Das war, was ich gesucht habe: Forsch, klar und packend, und ohne viele (sicherlich spannende, doch ein kurzes Seminar vielleicht überfordernde) Umwege landend beim Thema «Was bedeutet das für das Treiben und die Symbole der Wissenschaft?» Selbst Zahlen und Mathematik kommen am Rande vor, das wird meine TeilnehmerInnen sicher freuen.
Leider wird Konstruktivismus nicht «gelernt», indem die eifrige Studierende einfach nur gute Texte liest. Heinz von Förster schreibt als Appell an alle Lehrenden in «Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen»: «Laßt sie deppert sterben!» Nicht ich, als Seminar-Veranstalter, soll mich dafür verantwortlich fühlen, daß geballte Informationen über konstruktivistischen Lehrstoff unverfälscht und wahr in die Hirne der Studentinnen gerät.
Trotzdem begehe ich die kleine «Sünde», die Leute mit deinen Konstruktionen (und evtl. noch ein paar anderen, z.B. von Heinz von Förster selbst) zu konfrontieren, bevor sie sich selber ihren eigenen Konstruktivismus konstruieren, wenn sie es denn tun. (Ob ich ein erfolgreiches Medium dabei bin? Spannend. Ich werde es erleben.) Ein wenig Anregung kann ihnen jedenfalls nicht schaden, oder?
Und so schreibe ich diesen Brief als Abwechslung, während ich mich eigentlich heute darum kümmern wollte (und ein wenig auch kümmere), mir Arten und Weisen auszudenken, wie in einem solchen Seminar ein Umfeld herstellbar ist, in dem jemand, die nicht deppert sterben will, Konstruktivismus selbst entdeckt? Nein, erfindet.
Wer weiß, vielleicht komme ich ja auf Ideen, die das Publikum des Skepsis-Reservates einmal skeptisch mustern kann. Abwarten.
Liebe Grüße an dich und alle,
Christian



Erstellt: 20. Juli 2000 – letzte Überarbeitung: 2. März 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.