BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (2): 1. Hauptstück: Realismus:
Die Epistemologie der Moderne» von Albertine Devilder
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Was uns bei der Betrachtung von RealistInnen fast immer als erstes auffällt ist ihr pralles, dralles, unbekümmertes, gläubiges, unerschütterliches Wirklichkeitsgefühl und Wirklichkeitsverständnis, ja ihre Wirklichkeitssicherheit. Wie sich der gesunde Menschenverstand als RealistIn in Alltag und Wissenschaft in aufreizend selbstverständlicher Weise zweifelsfrei durch ihre fraglose Wirklichkeitswelt bewegt und sich selbst in erster Linie für unglaublich wirklich hält, ist kaum zu glauben. Dieses unbefangene körperliche und geistige In-der-Welt-Sein, dieses völlig selbstverständliche körperliche Raumeinnehmen, dieses Platz nehmen in der Wirklichkeitswelt, dieses unbedenkliche Einfach-da-sein, ist wahrlich faszinierend.

Wenn wir zwei RealistInnen beobachten, wie sie sich unterhalten, etwa beim Einkaufen, auf einer Party, beim beziehungsträchtigen Geflüster, in einer Talkshow, in einer Daily-Soap, in einem «Untersuchungsausschuß» oder aber in einem experimentalpsychologischen Labor, wo also auch immer, was da an selbstverständlichen Wirklichkeiten hin- und hergeworfen wird, ja wie wirkliche Wirklichkeiten als selbstverständliche Wirklichkeitsgefühle und Wirklichkeitssicherheiten gleichsam im Gesichtsausdruck herumgetragen und nicht nur unaufgefordert, sondern auch permanent vorgezeigt werden, das ist kaum zu fassen. Deswegen ist das Daten- und Faktengesicht von Politiker- und WissenschaftlerInnen ziemlich ausdruckslos. Die ganze Schwere der selbstverständlichen, datenliefernden Wirklichkeit läßt die Züge so wichtig erscheinen.


Analysieren wir den Realismus, indem wir vier essentielle Mythen oder Dogmen skizzieren, die den Realismus abschließend beschreiben.


1. Das Dogma von der Existenz der Wirklichkeitswelt

Ausserhalb von uns existiert eine Welt, die auch ohne uns, ohne unser erkennendes Zutun, unabhängig von uns, einfach da ist.


2. Das Dogma von der Wahrnehmbarkeit der Wirklichkeitswelt

RealistInnen gehen davon aus, daß die Wirklichkeitswelt erkannt werden kann, wie sie eben ist, da sie sich ohne unser Zutun in unseren Köpfen abbildet, widerspiegelt, repräsentiert. RealistInnen stutzen nicht einmal bei dem Wort «Wahrnehmen». Das heißt nämlich: etwas für «wahr» nehmen, etwas für «wahr» halten. Es heißt nicht, daß etwas «wahr» ist! Besser als das Wort «Wahrnehmung» wäre wohl das Wort «Wahrgebung»!


3. Das Dogma vom Abbildcharakter der Sprache

Der Realismus gilt nicht nur für den dinglichen, physikalischen Raum, sondern auch und besonders für Worte aller Art. RealistInnen glauben nämlich, daß jedes Wortzeichen auf etwas zeigt, daß jedem Wort also ein konkreter Phänomenbestand in der Wirklichkeitswelt, eine spezifische Realität, eine spezifische wirkliche Wirklichkeit entspricht. Alles für das der gesunde Menschenverstand Worte hat, ist wirklich, es existiert. Also Liebe, Freundschaft, Vaterland, Heimat, Atom, Ich, Geist, Ursache, Gefühl, Kraft, Schuld, Erbanlage, Motivation, Spontaneität, Vertrauen, Normalität, Macht, Demokratie, Betroffenheit, Statistik. Dies nennen wir einfach mal mit Fritz Mauthner Wortaberglaube (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 2).

Zwei Beispiele: Glaubt ihr, daß die folgenden beiden Sätze wirklich auf etwas zeigen? Karl-Heinz Rummenige: «Na gut, das 1:0 war mit Sicherheit von Haus aus ganz einfach ein Stück weit schon so etwas wie eine kleine Vorentscheidung!» Und ein beliebiger Polit-Wichtel sagt uns: «Wir erhalten die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland nur, wenn wir die Herausforderungen der Globalisierung annehmen und mit Phantasie, Flexibilität und Augenmaß handeln!» Noch einmal: Auf was sollen diese Sätze zeigen?

Doch weiter: Wirklichkeit ist also einfach da, sie kann entdeckt werden und sie kann in Worte gefaßt werden. Aber wie kommt das, daß der gesunde Menschenverstand glaubt, daß die Wirklichkeit so einfach zu entdecken und in Worte zu fassen ist, warum können wir uns mit einigen wenigen Begriffen erfolgreich der Welt erwehren, oder anders: Warum kommt unser Denken so prompt zur Ruhe, sobald es zum Wort gekommen ist? Da lauert doch


4. Das Dogma von der Existenz und Wahrhaftigkeit eigener Wahrnehmungen und Gefühle

Ich denke, daß eine wichtige Ursache für den weit verbreiteten Realismus ist, daß der gesunde Menschenverstand gelernt hat, die sprachliche Beschreibung seiner Wahrnehmungen und Gefühle völlig distanzlos als Wirklichkeit anzusehen. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir können uns nämlich einbilden, daß das, was wir gerade sehen und fühlen, wirklich und qualitativ spezifisch genauso existiert. Die RomantikerInnen hatten da oft ihre Zweifel, aber in der Moderne heißt es kühl, klar und unwiderlegbar: Ich sehe doch, was ich sehe, ich fühle doch, was ich fühle! Mit diesem Mißverständnis haben die meisten Menschen große Schwierigkeiten. Dies führt zu unendlich viel Leid unter den Menschen!

Beispiele: Jemand wacht morgens auf und denkt: «Das Leben liegt wie ein Berg vor mir!» Welche Konsequenzen wird das haben? Jemand steht vor einer Prüfung und denkt: «Ich fühle, daß ich heute durchfalle!» Welche Konsequenzen wird das haben? Jemand denkt: «Sie liebt mich nicht wirklich!» und sucht und findet den ganzen Tag über Beweise dafür! Und ein Jemand denkt: «Sie liebt mich wirklich!» und sucht und findet den ganzen Tag über Beweise dafür! Welche Konsequenzen werden diese beiden Strategien haben?

Der realistisch arbeitende gesunde Menschenverstand besteht also leider ausdrücklich darauf, daß seine Wahrnehmungen und Gefühle wirklich sind, weil er sie ja hat. Der gesunde Menschenverstand sagt also eigentlich: Mein Sinneseindruck ist mein Sinneseindruck! Ein alberner und schlichter Zirkel! Und diese Auffassung von der unmittelbaren Existenz und Entdeckbarkeit der Wirklichkeitswelt ist die Absage an jeglichen Zweifel. Wer nicht zweifelt, hat immer gute Laune! Denkt an unseren ehemaligen Bundeskanzler: Da er meint, daß sich die unbefangene Einfachheit der Wirklichkeitswiderspiegelung auch in seinem Gesicht widerspiegeln muß, ist er immer fröhlich. Alles andere wäre ja auch absurd, abwegig und töricht. Werden ihm Fragen gestellt, lacht er schon, weil er weiß, warum diese Fragen gestellt werden. Und, ganz ehrlich, wo soll es im Realismus der Moderne denn Fragen geben, die nicht beantwortet werden können? Oder anders, wo soll es im Realismus der Moderne Probleme geben, die sich nicht wegreden lassen? Robert Musil hat alles vorausgesehen: Was ist Demokratie? «Tun, was geschieht!»


Fassen wir mal kurz zusammen:

Eine RealistIn hält sich selbst und alles andere für wirklich, sie glaubt, daß Wirklichkeit einfach da ist und natürlich entdeckt werden kann. Ja, sie glaubt gar, daß sie einfach nur ihren Kopf hinzuhalten braucht, dann wird sich die Wirklichkeit schon in ihrem Gehirn abbilden. Darüberhinaus glaubt sie, daß jedem Wort eine bestimmte Wirklichkeit entspricht und sie glaubt, daß insbesondere ihre eigenen Wahrnehmungen wirklich und wahr sind. Und wer das alles nicht glaubt, sollte ins Irrenhaus.

Das reicht. Während sich der moderne Realismus nun hurtig ins Museum der Philosophiegeschichte begibt, betrachten wir uns im 2. Hauptstück eine völlige Abkehr von diesen vertrauten Vorstellungen. Aber Obacht: Das ist nur etwas für Mutige!



Erstellt: 20. Juli 2000 – letzte Überarbeitung: 20. Juli 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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