BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (3) 2. Hauptstück: Konstruktivismus:
Die Epistemologie der Postmoderne» von Albertine Devilder
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Der Konstruktivismus ist die Erkenntnistheorie der Postmoderne (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 11), die den Boden für eine neue, postmoderne Wissenschaft, für eine neue Psychologie, für eine neue Welt bereiten wird. Wie soll ich Euch den Konstruktivismus näherbringen? Vielleicht durch ein kleines literarisches Propädeutikum?

  • Epiktet (55–135) schreibt im Encheiridion, der Quintessenz seiner Lebenslehre als Stoiker: «Unsere Meinungen von den Dingen quälen uns, nicht die Dinge selbst.»
  • Marsilio Ficino (1433–1499), ein italienischer Arzt, Humanist und Philosoph, sagte: «Das Urteil folgt der Form und Natur des Urteilenden, nicht des beurteilten Gegenstands.»
  • Michel de Montaigne (1533–1592) schreibt in seinen Essais: «Wären aber die Dinge wirklich das, für was wir sie halten, so müßten alle Menschen sie gleich empfinden.»
  • Immanuel Kant (1724–1804) sagte: «Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind.» Und: «Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten. Man versuche einmal, ob wir nicht besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten.»
  • Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) meint: «Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.»
  • Friedrich Hölderlin (1770–1843), der ab 1788 mit Hegel und Schelling im Tübinger Stift studierte, schreibt in der vorletzten und letzten Fassung des Fragmentes Patmos: «Schauen, müssen wir mit Schlüssen, der Erfindung, vorher. Wie Morgenluft sind nämlich die Namen seit Christus. Werden Träume. Fallen, wie Irrtum auf das Herz und tötend, wenn nicht einer erwäget, was sie sind und begreift.»
    Ist das nicht ein Weltenklang, ein Weltenhauch, ist das nicht ein kosmischer Akkord? Kein Wunder, daß Hölderlin die letzten 36 Jahre seines Lebens in völliger geistiger Umnachtung im Hause eines Tübinger Tischlers verbringen mußte. Mit solchen Gedanken war man um 1800 nicht lebensfähig! Schreibt heute mal einen solchen Satz in einer universitären Diplomarbeit, und ihr müßt 36 Jahre in die Psychiatrie! Diagnose: schizoaffektive Mischpsychose!
  • Novalis (1772–1801) studierte in Leipzig mit Friedrich von Schlegel. Eines Abends sagte nach einigen Gläsern Wein: «Zur Welt suchen wir den Entwurf: dieser Entwurf sind wir selbst.»
  • Fernando Pessoa (1888–1935), der große Dunkle aus Lissabon, sagte es fast endgültig: «Was wir sehen ist nicht, was wir sehen, sondern das, was wir sind!»
  • Björnstjerne Björnson (1832–1910) schrieb am 27.7.1857 in einem Brief an Clemens Petersen: «Die Natur hat doch keine andere Sprache, als die der Mensch ihr leiht, kann also auch nicht ohne ein Medium wiedergegeben werden.»
  • Paul Valery (1871–1945) sagte: «Sehen heißt, den Namen des Gesehenen zu vergessen.»
  • Und noch einmal Fernando Pessoa: «Sehen heißt schon gesehen haben!»
  • Christian Morgenstern (1871–1914): «Unser Begreifen ist Schaffen; seien wir doch selig in diesem Bewußtsein.»
  • Und zum Schluß der große Dunkle, der Einzige: Ludwig Wittgenstein (1889–1951). Er sagt im Tractatus im Punkt 5.62: «Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten.»

  • Vielleicht habt ihr jetzt eine Ahnung, was Konstruktivismus sein könnte. Ich will es ganz einfach ausdrücken: Der Konstruktivismus legt Fragen nach Beschaffenheit, Sinn und Bedeutung von Wirklichkeit in die Betrachter selbst. Unsere Erkenntnisaktionen können nicht mehr eine objektive, ontologisch vorhandene Wirklichkeit betreffen oder gar widerspiegeln, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens! Alle Aussagen über die Wirklichkeit sind zu 100% unser Erleben. Der Konstruktivismus sagt also, daß jede Wirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer ist, die diese Wirklichkeit zu entdecken glauben. Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes ihrer Erfindung nicht bewußt sind, sondern es vielmehr als etwas von ihnen Unabhängiges zu entdecken glauben. Eine wirklich unglaubliche These, nur, das glauben nicht nur eben die merkwürdigen Literaten und Philosophen, die ich euch eben näher gebracht habe, sondern auch «anständige» NaturwissenschaftlerInnen wie PhysiologInnen, KybernetikerInnen, PsychologInnen und NeurobiologInnen.


    Mittlerweile gibt es mehrere konstruktivistische Richtungen:

    Ich will den zentralen Gedanken der radikalen KonstruktivistInnen (z.B. Humberto Maturana) kurz erläutern: Es wird hier gesagt, daß wir über unser Wahrnehmungssystem und unsere Sinnesorgane nicht in direktem Kontakt mit der Welt stehen und daß sich deswegen die Welt über unsere Sinnesorgane gar nicht direkt in unserem Gehirn abbilden kann. Warum? Wir müssen uns das so vorstellen: Unser Gehirn ist kein umweltoffenes System, sondern es ist funktional geschlossen. Es versteht nur seine eigene Sprache, es geht nur mit sich selbst um, ist nur auf sich selbst bezogen. Und es können keinerlei bedeutungshaltige Informationen von außen hineingelangen. Diese Vorstellung von der Selbstreferentialität (der Auf-Sich-Bezogenheit) unseres Gehirns ist der entscheidende Gedanke des radikalen Konstruktivismus.

    Nun zum zentralen Gedanken der kybernetischen Fraktion des Konstruktivismus (z.B. Heinz von Foerster): Goethes Aphorismus «Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.» ist schon sehr nahe dran. KybernetikerInnen sagen es so: Die Verbindung unseres Gehirns zur «Welt» erfolgt über Sinnesrezeptoren, die bereichsspezifisch arbeiten (Sehen, Hören, Riechen etc.). Diese Rezeptoren werden nun durch Umwelteinflüsse in ihren Eigenschaften so verändert, daß sie elektrische Impulse abgeben. Die Rezeptoren übersetzen Ereignisse, die dem Gehirn als einem geschlossenen System unzugänglich sind, in dessen Sprache. Und nun kommt's, ich bitte um Obacht: Bei diesem Übersetzungsprozeß geht das Original verloren. Die Sprache des Nervensystems ist bedeutungsneutral. (Klick, Klick machen die Spikes, sonst nichts!). Unsere Wahrnehmung vollzieht sich also nicht in den Sinnesorganen, sondern in spezifischen sensorischen Hirnregionen. Wir sehen also zum Beispiel gar nicht mit den Augen, sondern mit den visuellen Zentren des Gehirns.

    Weil aber im Gehirn der signalverarbeitende Teil, wo die Klicks ankommen, und der bedeutungserzeugende Teil, wo die Wirklichkeit erfunden wird, eins sind, können die an sich bedeutungsneutralen Klick-Signale der Rezeptoren nur das bedeuten, was entsprechende Gehirnregionen ihnen an Bedeutung zuweisen: Wahrnehmung ist demnach Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen Klick-Prozessen, ist Konstruktion und Interpretation.

    Nun zum zentralen Gedanken der sozial-konstruktivistischen Fraktion: Wir gehen an die vermeintlich «da draußen» objektiv bestehende Wirklichkeit immer mit einem bestimmten Habitus, einer spezifischen, kulturell, sozial und kommunal definierten Haltung, mit Gewohnheiten, mit gewissen Grundannahmen, mit Mustern, Kategorien, Schemata, Begriffen und Worten heran. Und diese Schemata halten wir für gewöhnlich bereits feststehende objektive Aspekte der Wirklichkeit, während sie doch nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen. Durch unser Hineingeborenwerden in eine bestimmte Kulturepoche und in bestimmte soziale Systeme existieren wir also zu einem sehr großen Teil bereits, bevor wir selbst als Person zum Zuge kommen.

    Ludwik Fleck (1896–1961), ein polnischer Denker, hat den Umstand, daß wir nur das wahrnehmen können, für das wir Begriffe haben, so ausgedrückt: Um zu sehen, muß man zuerst wissen! (Denkt an Hölderlin, an Valery, an Pessoa!) Und sehen heißt, im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört. Das heißt, unsere Wahrnehmungsbegriffe, unsere Einheiten der Wirklichkeitsbetrachtung, erhalten wir aus unserem spezifischen kommunalen System, woher sonst. Fleck drückt es unwiederbringlich so aus: «Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs!»

    Was ist also Wirklichkeit? Wirklichkeit ist Gemeinschaft. Dinge sind erst dann wirklich, wenn sich eine Gemeinschaft von Menschen darauf geeinigt hat. Was in uns letztlich wahrnimmt und denkt, ist also gar nicht unser Ich, sondern die soziale Gemeinschaft, der wir angehören, Kultur.

    Gehen wir weiter: Wenn die Welt, die wir zu erleben glauben, notwendigerweise von uns selbst konstruiert wird, ist es kaum erstaunlich, daß sie uns so relativ stabil erscheint. Wir sehen ja eigentlich nur Bekanntes! Ganz buchstäblich begreifen wir nur das, was von uns längst interpretiert ist. Verum ipsum factum: Was wir sehen, ist wahr, weil wir es selbst gemacht, hergestellt, konstruiert haben. Und weil wir das, was wir sehen, selbst machen, erscheint uns die Wirklichkeit auch so stabil! Nur ein Beispiel: Ein roter Ball unter den verschiedensten Beleuchtungsbedingungen am Morgen, Mittag oder Abend wird von uns immer als der gleiche rote Ball gesehen, erstaunlich!


    Fassen wir die Erkenntnistheorie des sozialen Konstruktivismus zusammen:

    1. Wirklichkeit als Möglichkeit

    Der soziale Konstruktivismus behauptet, daß alle Aussagen über diese Welt Konstruktionen sind. Wir erfinden unsere Welt, wir entdecken sie nicht. Die Konstruktionen, die wir von der Welt und von uns errichten, beherrschen uns, nicht die Ereignisse selbst. Wir können uns durch unsere eigenen Ideen zu Sklaven machen und wir tun dies. Michel de Montaigne sagt das unwiederbringlich so: «Uns genügt das eigene Gemüt als Spielverderber!» Und sofort ahnen wir, wie z.B. eine konstruktivistisch orientierte Psychotherapie aussehen könnte: Sie müßte KlientInnen dabei helfen, ihren festgefahrenen, eingeschränkten Wirklichkeitsraum von Konstruktionen zu erweitern nach dem Motto: «Das Wirkliche ist eine Bürde, das Mögliche eine Versuchung!» Von wem ist der Aphorismus? Sollte er von der großen Dunklen sein, von mir?


    2. Epistemologischer Solipsismus

    Der Konstruktivismus ist kein ontologischer Solipsismus, wie ihm oft vorgeworfen wird, sondern ein epistemologischer Solipsismus. KonstruktivistInnen bestreiten nicht die Existenz einer von ihnen unabhängigen Außenwelt. Damit erscheinen alle so beliebten Vorwürfe gegen den Konstruktivismus, die vor allem von Methodisten und Materialisten erhoben werden, sinnlos.


    3. Die Stabilität der Welt als Autosuggestion

    Unsere Wirklichkeit erscheint uns so stabil und eben so, wie sie ist, weil wir sie schließlich so gemacht haben. Und daß uns die Welt als so stabil erscheint, liegt daran, daß wir fast immer in einem kommunalen System mit anderen Menschen zusammenleben, die unsere Annahmen über die Welt in vielen allgemeinen oder grundsätzlichen Punkten teilen. Is wie's is, sagt man im Ruhrgebiet. Stimmt!


    4. Wissen als Prosa

    Menschliches Wissen erscheint somit im Konstruktivismus als nichts anderes, als das Reden über die «Dinge» in eine schöne Reihenfolge zu bringen, ohne je erfahren zu können, ob das auch wirklich alles so ist, wie wir uns das vorstellen und anderen ständig erzählen! Auch wissenschaftliche Erkenntnis ist also im Gegensatz zur Auffassung des Realismus keinesfalls ein Widerspiegelungsakt von etwas, was «da draußen in der Welt» ist, sondern ein Konstruktionsakt, ist Prosa. Und wenn ihr mal in wissenschaftliche Zeitschriften guckt, werdet ihr sagen, es ist wohl meist schlechte Prosa.


    5. Konstruktivismus als Konstruktion

    Der Konstruktivismus ist nur ein erkenntnistheoretisches Modell. Er setzt sich nicht absolut. Er behauptet auch nicht, daß seine Sicht nun die einzig wahre wäre. Der Konstruktivismus ist auch nur eine Konstruktion.



    Erstellt: 20. Juli 2000 – letzte Überarbeitung: 20. Juli 2000
    Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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