BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Eine Erleuchtung»
von Helmut Hansen
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Ich hatte eine Erleuchtung. Am Dienstag, im Garten. Erich Jantzsch beginnt ja eines der Kapitel (ist es das Achte?) in der «Selbstorganisation des Universums» mit dem Bateson Metalogue «About Games and Being Serious», über den ich immer wieder gerne grüble. Durch meine ständige Beschäftigung mit moderner Physik und da wiederum ausgerechnet durch ein Hawking-Zitat, steht dann plötzlich eine Ahnung vor mir, warum wir Spielregeln nicht fassen können. Aber dazu später. Zunächst zu Hawking, den ich nun wirklich überhaupt nicht leiden mag, ja ich finde ihn unerträglich. Leider habe ich mal ein Buch von ihm gekauft, und auf den letzten Seiten wetterte er plötzlich und unerwartet gegen einen meiner unbedingten Lieblinge, nämlich gegen Ludwig Wittgenstein. Und das so dumm, so durchsichtig, so niveaulos und so billig, daß ich damals dachte, wer so wenig Ahnung von Wittgenstein hat, wird auch sonst nicht viel Ahnung haben. So wird es sein. Aber ich schweife ab.

In einem Vortrag über die Grenzbedingungen des Universums muß Hawking etwas gesagt haben wie: «Die Grenzbedingung des Universums ist, das es keine Grenzen gibt». Wie dem auch sei, für eine Erleuchtung reicht das natürlich nicht. Als ich aus dem Garten wieder zurück in die Küche ging, nervte mich der späte Oswald Wiener nämlich gleichzeitig mit seinem «Komplikator», durch den wir die Welt so erleben, wie wir sie erleben. Er faltet die Welt, die sich vor uns entfaltet, wieder so zusammen, daß sie in das Sammelsurium von Erlebnisapparaten (unsere «Laufumgebung», wie Oswald Wiener sagt) paßt. Oder anders: Wir sind eine Ansammlung von Vorstellungen, durch die wir erkennen und durch die wir sind. Komplikator und Laufumgebung sind dabei «offen und geschlossen zugleich», was sich bemerkenswert mit obigem Hawking-Zitat trifft. Und mit meinem Verständnis von Schopenhauers Begriff des Erhabenen, aber das nur nebenbei, ich will versuchen mich zu konzentrieren.

Die Urknallvariante, die ich gerade versuche zu begreifen, gründet sich auf das implizite, holographische Weltbild: Indras Netz, in dem sich Glasperlen in Glasperlen spiegeln und ein Glasperlennetz bilden, in dem das makroskopische Ganze aus mikroskopischen Spiegelungen gebildet wird. Die Anfangsbedingungen des Universums sind in diesem Fall nicht mehr starr, sondern quantendynamisch verschwommen. Seitdem sich die moderne Physik die Quantensuppe eingebrockt hat, wird's ja wirklich interessant. Aus sich überlagernden Zuständen wählt der Beobachter in der Kopenhagener Variante der Interpretation nichtörtlicher Effekte ja einen Zustand aus und läßt diesen Zustand wirklich werden (was so ziemlich dem epistemologischen Solipsismus sensu Bochumer Arbeitsgruppe entspricht). Obwohl sich also unser Universum aus konkreten Anfangsbedingungen entfaltet, schöpfen wir unsere Variante des Universums mit jeder Betrachtung und können nicht sagen, daß das Universum so ist, sondern nur, daß wir es so sehen. Das Universum ist, aber erst Beobachter machen es zu dem, was es für sie ist. Schlaue Physiker sprechen also nicht mehr von Ursachen, sondern von Interpretationen, nicht mehr von Erklärungen, sondern von Geschichten. Kommt uns bekannt vor, oder?

Wer an dieser Stelle nun erwartet, es gäbe eine nachvollziehbare Überleitung zu meiner Erleuchtung, wird enttäuscht sein. Schließlich handelt es sich um eine Erleuchtung, und der Weg dahin dürfte kaum nachvollziehbar, geschweige denn logisch sein. Irgendwie ahnte ich auf einmal, daß sich eine Spielregel in dem Augenblick ändert, in dem wir sie begriffen haben, und daß wir sie daher nicht begreifen können. Ziemlich einfach, aber so sind Erleuchtungen nun mal. Lächle ruhig, lieber Leser.

Das «Wissen» um etwas hat ja immense Konsequenzen, progrediente (wirklichkeitsformende) Wirkungen, nach vorne also im Zeitstrahl. Und das Wissen killt gleichzeitig (nach vorne und zurück). Ändert also, Geschichte und Zukunft. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung wird so oft nur einseitig gesehen. Weil ich es beschwöre, tritt es ein. Viel häufiger: Weil ich es beschwöre oder unbedingt will, tritt es nicht ein. Und: Die Ausgangsregeln haben sich geändert, durch die Beschwörung, durch das Begreifen. Das ist es. Im Kreis also: Wenn wir etwas begriffen haben, haben wir es gerade nicht begriffen, denn das zu Begreifende ist durch den Erkenntnisvorgang schon wieder weggeflutscht. Darum versuchen wir auf's Neue, es zu begreifen. Wir hangeln uns von Unwissen zu Unwissen und ändern ständig das, was wir erkennen wollen. Noesis manipuliert unsere Welt. Übertrieben: Noesis macht Welterkenntnis (Erkenntnis der Spielregeln) unmöglich. Paradox! Ein starkes Argument.

Gibt's für meine Erleuchtung eigentlich schon einen Namen? Irgendwie bin ich an Kassandra erinnert. Sie darf ja vermutlich die Zukunft nicht vorhersagen, weil sonst die Vorhersage nicht eintrifft. Normale Menschen spielen nur und wollen die Regeln nicht begreifen. Da tun sie gut daran, wenn sie in ihrer Stasis verharren wollen, denn sobald nach den Regeln gegriffen wird, entwickelt sich ein dynamisches Spiel. Und um da mitzuspielen, bedarf es vermutlich einer gewissen Dezentrierung. Wer schafft das schon?



Erstellt: 8. August 2000 – letzte Überarbeitung: 8. August 2000
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