BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kunst des Verstehens (2): Stichomantie»
von Edna Lemgo
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«Was bleibet aber, stiften die Dichter.»
(Hölderlin)

Da das ‹mesostichon› auch eine beliebte Ausdrucksform von John Cage war, bietet es sich an, den Zugang zum ersten lyrischen Eintrag in das ‹Skepsis-Reservat› in den Ideen des Komponisten der Stille zu suchen. In einem Mesostichon wird ein Text von einem Wort reflektiert, das sich senkrecht gelesen quer zum Text stellt. Eindimensionale Interpretationen werden erschwert, da die Bedeutung des Texts kaum noch zu fixieren ist. Auf diesem Weg näherte sich John Cage der Idee einer Struktur, die flexibel genug sei, kaum noch Struktur zu sein. Ziel eines derart verflüssigten Ausdrucks war für ihn die Öffnung eines Raums, in dem sich Leben zumindest ansatzweise befreit von formalen Zwängen zeigen kann. Dabei wäre es irreführend, diesen bezeichneten Raum gelöst von der tragenden Struktur selbst zu suchen. Ein Mesostichon weist so wenig über sich hinaus wie jener zufällige Klang, der für John Cage Sinnbild des unbedingten Daseins im Augenblick war.

Was nun eröffnet in diesem Licht das ‹mesostichon›? Untypisch ist in dem anonym eingereichten Gedicht die Wiederholung des Wortes ‹seite›, als zentrales Subjekt des kargen Textes und als das für ein Mesostichon charakteristische Wort. Wort und Text reflektieren einander nicht, sondern zeigen quasi als Doppelgänger aufeinander. Der Versuch zu verstehen wird von dem Wort ‹seite› fixiert, und die Struktur wirkt erstarrt. Das ist sie natürlich nicht. Da auf eine ‹leere seite› gedeutet wird, eröffnet sich eine alternative Perspektive. Das ‹mesostichon› zeigt sich als eine Art Paradox, denn die ‹seite› ist natürlich nicht leer. Die Worte des Mesostichons selbst sind auf das virtuelle leere Blatt geschrieben. Zeichnet ein traditionelles Mesostichon der Dialog zwischen den Bedeutungen von Text und zusätzlichem Wort aus, so befindet sich das ‹mesostichon› im Wechselspiel mit seinem tragenden Medium: der Seite, auf die die Worte geschrieben sind.

Das ‹mesostichon› deutet also auf ein Jenseits von Inhalt und Form, um aber doch nur ins Leere zu weisen, denn die Seite offenbart sich weder als leer noch beschrieben, sondern als eine quasi quantendynamische Wellenfunktion, die je nach Beobachtungsstandpunkt in einen der beiden Zustände zerfällt. Im Raunen des Gedichts öffnet sich also eine unbestimmte Weite, die erst durch die betrachtende Fixierung auf ein Menschenmaß zurecht gestutzt wird. Das ‹mesostichon› kann insofern als eine Aufforderung gedeutet werden, sich dieser unwesentlichen Sehgewohnheiten zu entledigen, um den Blick für das Wesentliche zu schärfen. Und damit wäre es eine würdige Eröffnung für die Lyrikabteilung des Skepsis-Reservats.



Kommentare:


2. Dezember 2002

Edna, Sandra:
Da schaffe ich es über Monate, glaubhafte Ausreden für alle Einladungen in die ‹Surrealismus›-Ausstellung in Düsseldorf zu erfinden, und jetzt öffnet das Skepsis-Reservat ungehemmt seine Tore für das Irrationale. Koinzidenz? Für mich zumindest ein Anlass kurz zu erklären, was ich von solchen Tendenzen halte. Ich will es versuchen, indem ich beschreibe, warum mir Sandras Geschichte sehr, Ednas lyrische Deutung aber - sorry Edna! - fast gar nicht gefällt.
In «Believe it or not!» nimmt Sandra Dick die Leser mit auf eine kleine Reise ins unwirtliche unwirkliche Orlando, und drückt ein mit Wörtern nicht fassbares Gefühl des Unbehagens in einem kaum vermittelten Abgleiten in den Halbschlaf aus, wo sich in bester surrealistischer Tradition unbewußte und bewußte Ebenen miteinander vermischen. Der Leser verliert den Handlungsfaden, um ihn kurz darauf von der Autorin durch ein elegantes ‹klick› wieder gereicht zu bekommen. Das kurze Abdriften ins Irrationale ist ein pointiert eingesetztes surrealistisches Stilmittel, und erinnert mich an die besseren Geschichten von Alberto Savinio.
Im Gegensatz zu diesem gezielten Einsatz eines surrealistischen Werkzeugs wirkt Edna Lemgos «Stichomantie» arg verstrickt im Irrationalen. Sie arbeitet das Gedicht als eine Art Paradoxon schön heraus, scheitert dann aber daran wie eine uninspirierte Zen-Novizin. Um es deutlich zu sagen: Erhellend ist ihr dunkles Raunen nicht. Dabei halte ich – dies zur Transparenz und um ehrlich zu sein – auch John Cages Aleatorik für künstlerisch weit überschätzt, und politisch mindestens fatal. Mit ihm muß Edna sich vorwerfen lassen, eine weltabgewandte und verkünstelte Spiritualität zu fördern, statt den Blick für gesellschaftlich relevante ethische wie ästhetische Schieflagen zu schärfen. Genau dieser Punkt ist es auch, der den Surrealismus in seiner dekadenten Periode ab spätestens 1930 unerträglich macht: Was als Befreiung der Begierden und gegen die Gesellschaft gerichtetes Programm begann, verelendete in seinem genauen Gegenteil – einem beschämenden Okkultismus.
In Edna Lemgos Deutung manifestiert sich – leider – diese Phase des Verfalls einer großen Bewegung. Was von der fruchtbaren Phase des Surrealismus zu lernen war, zeigt Sandra Dick: Offenheit für Überraschungen und eine Ausdrucksform, die sich dem ‹Unbewußten› poetisch öffnet, um einer oberflächlich logischen Gesellschaft ihre eigene Irrationalität entgegen zu halten.
Stefan
PS: Edna, als Entschuldigung eine Möhren-Spinat-Lasagne?



Erstellt: 1. Dezember 2002 – letzte Überarbeitung: 2. Dezember 2002
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