BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«‹Skeptizismus› und ‹Sozialer Konstruktivismus›»
von Helmut Hansen
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Einführung

Artus P. Feldmann, der treue und unermüdliche ‹Sachbearbeiter› der ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung›, erzählte uns während einer der letzten hinreißenden Redaktionskonferenzen, er werde immer wieder mit Anfragen molestiert, in denen er um Auskunft gebeten werde, warum ‹Konstruktivisten› so skeptisch seien. Wobei der Tonfall dieser Erkundigungen, so Artus P., meist im Bereich liege von «Die Welt liegt doch gleichsam vor uns! Warum tut ihr immer so, als könnte man sie nicht sehen und erkennen?» und «Sprache dient doch dazu, die Wirklichkeit abzubilden!». Nun, Artus P. ist diese Art von Fragen seit Jahrzehnten gewohnt, und wir wissen, daß er meist kurz und freundlich mit einem «scepticism is our business» antwortet und im übrigen auf die Rubrik ‹Wahrheiten und Wirklichkeiten› unseres ‹Skepsis-Reservates› verweist.

Während der oben erwähnten Konferenz nun machte Lisa Blausonne den Vorschlag, einer von uns sollte doch einmal ein grundsätzliches Traktätchen verfassen, in dem die Ursprünge und Grundgedanken des ‹Skeptizismus› geschildert würden. Die Idee fand Anklang, alle stimmten zu - und schauten mich an. Nun, da ich seit vielen Jahren an den Redaktionskonferenzen und dem ‹Literarischen Salon› teilnehmen darf, kann ich die nonverbalen Signale dieser lokalen sozialen Räume gut deuten. Hier ist also mein bescheidener Versuch über die Philosophie des ‹Skeptizismus›.


Ursprünge

Heraklit

Es gibt schöne Geschichten über die Ursprünge des skeptischen Denkens. Bestimmt gab es Vorläufer und Vordenker zu allen Zeiten und in den verschiedensten Kulturen. Darüber wissen wir aber leider viel zu wenig. Und so werden gemäß unseres eurozentrischen Denkens die Ursprünge des Skeptizismus gerne in der Antike, im ‹alten› Griechenland gesehen, etwa bei Heraklit (550 - 480 v. Chr.), der in seiner Lehre vom dauernden Fluß der Dinge, in dem sich alles Erkennbare zu jeglichem Zeitpunkt in jeglicher Hinsicht bewege und in seinen Qualitäten verändere, darauf verwies, daß es keine ‹eigentliche› Erkenntnis geben könne, da Erkenntnis so immer nur Erkenntnis einer bestimmten, vorübergehenden, beweglichen, fließenden Beschaffenheit eines Erkenntnisobjektes sei. Dennoch bleibe der Gegenstand, ein Fluß etwa, oder ein Feuer, in unseren Augen stets der gleiche.


Pyrrhon von Elis

Meist beginnen die Erzählungen über die Ursprünge des skeptischen Denkens jedoch mit dem griechischen Philosophen Pyrrhon von Elis, der von 360 bis 270 vor Christus lebte. Pyrrhon und seine Anhänger begründeten eine philosophische Schule, die sich ein Denken ohne Skepsis, also ohne Zweifel und Bedenken aller Art, nicht vorstellen konnte. Ja, Pyrrhon von Elis und seine Schüler erhoben den Zweifel zum Denkprinzip und stellten damit die Möglichkeit in Frage, auf irgendeine Art und Weise zu einer ‹sicheren› Erkenntnis von der Welt kommen zu können. So nannte man denn auch in späteren Jahren die Lehre, daß wir Menschen kaum je die Wirklichkeit so sehen können, wie sie wirklich ist, oder daß wir uns in unseren Erkenntnisbemühungen kaum je einer wie auch immer gearteten ‹Wahrheit› nähern können, ‹Pyrrhonismus›. Und ‹Pyrrhonismus› ist - ‹Skeptizismus›.

Von Pyrrhon von Elis selbst wurden keine schriftlichen Aufzeichnungen gefunden, so wissen wir alles über den ‹Pyrrhonismus› nur von einem seiner Schüler, Timon von Phleius. Dieser berichtet darüber, wie sie - gemeinsam mit Pyrrhon - zu erfahren suchten, wie die Dinge dieser Welt in Wirklichkeit beschaffen seien, denn sie wollten ‹richtige› und ‹vernünftige› Einstellungen zur Wirklichkeit entwickeln und dann prüfen, was sich aus diesen ihren Einstellungen und Haltungen zu verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit als Verhaltensvorschrift ergäbe. In ihren Diskursen nun, so berichtet Timon von Phleius, kamen sie alsbald auf den Gedanken, daß die Dinge in der Welt unbeständig und unbestimmbar seien und sie so ihren Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht trauen könnten. Und so sei auch die Frage, welche Haltung sie zu den Dingen einnehmen sollten, unentscheidbar, denn für die unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Seiten eines Dings oder einer ‹Tatsache› gebe es jeweils gleichwertige Argumente. Das Fazit all ihrer Diskurse ist leicht zu sehen: Pyrrhon von Elis und seine Schüler schlugen vor, sich unter allen Umständen eines Urteils zu enthalten. Ein ‹Pyrrhonist› sollte sich weigern, zu dieser oder jener Angelegenheit eine Meinung zu äußern und Stellung zu beziehen, er sollte ‹sprachlos werden - und dadurch seine innere Ruhe finden.


Die Schule der Stoa

Nun, bei dem Stichwort ‹innere Ruhe› fällt Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, vermutlich sogleich das Wort ‹stoisch› ein, und dies zu Recht. Denn noch zu Pyrrhons Lebzeiten, so um 300 v. Chr. herum, begann Zenon von Kition in einer mit Bildern geschmückten Säulenhalle (einer ‹stoa poikile›) auf der Agora Athens Vorlesungen zu halten. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit die Schule der ‹Stoa›, die zu einer sehr einflußreichen philosophischen Richtung werden sollte. Meist kennen wir hiervon nur deren oberste ethische Maxime, daß wir in großer Übereinstimmung mit uns und der uns umgebenden Natur zu leben und Affekte aller Art als hinderlich anzusehen hätten. Ja, das große Ziel der ‹Stoiker› war die ‹Ataraxie›: Gleichmut, Unerschütterlichkeit, Seelenruhe.

Wenig bekannt ist, daß die Lehre der Stoa neben der Ethik auch noch die Disziplinen Physik und Logik umfaßt, wobei die letztere Grundzüge einer Erkenntnislehre entwirft und damit für uns sehr interessant ist. Denn die stoische Erkenntnislehre unterteilt den Prozeß der Wahrnehmung in zwei Phasen, die uns bekannt vorkommen: Die erste Phase besteht schlicht in einem passiv erworbenen Sinneseindruck, der zu einer ‹Vorstellung› führt. Das erinnert an alle möglichen modernen Abbildtheorien in der Wahrnehmungspsychologie. Jetzt kommt bei den Stoikern aber eine zweite Phase dazu, in der der ‹Logos›, also die Vernunft, der Verstand oder besser noch das Bewußtsein, prüft, ob die momentane Vorstellung mit der dem Bewußtsein vertrauten Wirklichkeit übereinstimmen kann. Falls ja, gibt das Bewußtsein seine Zustimmung und entscheidet, ok, diese Wahrnehmung führt bei mir zu einer Vorstellung, die nach meiner Einschätzung mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Falls nein, lehnt das Bewußtsein, der Verstand, die Vernunft seine oder ihre Zustimmung ab und entscheidet, die momentane Wahrnehmung habe mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

Sehen Sie die Faszination dieser stoischen Wahrnehmungslehre, lieber Leser und liebe Leserin? Die Aufteilung des Wahrnehmungsprozesses in eine vorgelagerte passive Reizaufnahme (Perzeption) und eine darauf folgende bewußte kognitive Reizannahme (Apperzeption) erinnert ganz deutlich an den in der Postmoderne so beliebten ‹radikalen Konstruktivismus›. Alte Kamellen, könnten wir jetzt sagen.


Skeptische Tropen

Die Lehre vom ‹Pyrrhonismus› oder ‹Skeptizismus› wurde nach Zenons Tod immer weiter ausgebaut und verbreitet. Ja, über mehr als 400 Jahre hinweg war sie eine der einflußreichsten philosophischen Schulen überhaupt. Im 2. Jahrhundert nach Christus veröffentlichte Sextus Empiricus den ‹Grundriss der pyrrhonischen Skepsis›, der die berühmt gewordenen zehn ‹skeptischen Tropen›, die zehn skeptischen Redewendungen enthielt. Hier sind die von der antiken griechischen Philosophie angeführten Gründe, warum wir uns in Alltag und Wissenschaft um eine skeptische Grundhaltung bemühen sollten:
  1. Die Verschiedenheit beseelter Wesen, aus der verschiedene Auffassungen der Objekte folgen;
  2. die Verschiedenheit der Menschen untereinander;
  3. die Verschiedenheit der Struktur der Sinneswerkzeuge;
  4. die Verschiedenheit unserer geistigen und körperlichen Zustände;
  5. die Verschiedenheit der räumlichen Lagen, Entfernungen und Orte;
  6. das Vermischtsein des wahrgenommenen Dinges mit anderen Wahrnehmungen;
  7. die Verschiedenheit der Erscheinung eines Dings je nach Art des zusammenfügenden Blicks;
  8. die Relativität überhaupt;
  9. die Verschiedenheit der Auffassung je nach der Zahl bereits erfolgter Wahrnehmungen;
  10. die Verschiedenheit der Bildung, Sitten, Gesetze, mythischen Vorstellungen und philosophischen Annahmen der Wahrnehmenden.
Ist das nicht ein grandioser Katalog? In der Tat! All diese Tropen kreisen um die Verschiedenheit der Menschen, lassen aber auch Ähnlichkeiten erahnen, wenn Menschen in einer bestimmten sozialen Gruppe leben. Und wir sehen auch auf Anhieb, wie redundant diese skeptischen Tropen sind. So ist es nicht verwunderlich, daß die zehn skeptischen Tropen von Sextus Empiricus später zunächst auf acht reduziert wurden, und dann auf fünf. Das kann uns hier aber nicht weiter interessieren.

Lieber Leser, liebe Leserin, das waren die Ursprünge einer skeptizistischen Philosophie. In den folgenden Zeitläuften herrschten in Europa über viele Jahrhunderte mehr oder minder Dunkelheit und Dogmatismus. Das Mittelalter. Skeptische philosophische Richtungen wurden in dieser Zeit vermutlich in statu nascendi ausgerottet und skeptische Denker als Ketzer verbrannt.


Michel de Montaigne

Weit über tausend Jahre später richtete sich der Schloß- und Gutsherr Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) in einem Turm seiner Schloßanlage ein Schlafzimmer, eine Bibliothek und eine kleine Kapelle ein mit der Absicht, sich, wann immer möglich, aus den alltäglichen Händeln zurückzuziehen und über sich selbst, das Leben und die Menschen nachzusinnen. Auf einen Balken an der Decke seiner Bibliothek schrieb er ‹Que sais-je?›, und so wundert es uns nicht, daß Michel de Montaigne nicht nur der bedeutendste Vertreter der französischen Renaissanceliteratur sondern auch der Begründer eines neuzeitlichen Skeptizismus wurde.

Montaigne knüpft zwar an die oben genannten Pyrrhon von Elis, Zenon von Kition und Sextus Empiricus an, seine Empfehlung, sich Urteilen zu enthalten und seine immer wieder erörterten Zweifel an der Möglichkeit gesicherter Erkenntnis, kommen jedoch bei ihm in einer ganz eigenen, in einer ganz und gar wunderbaren Weise daher. Wer Montaignes ‹Essais› nur einmal mit Bedacht, Muße und Geduld gelesen hat, ist für immer gefangen und wird sein ganzes Leben lang immer wieder aufs Neue reich beschenkt. Was sagt Thomas Bernhard? «Montaigne habe ich immer geliebt, wie keinen zweiten. Immer bin ich zu meinem Montaigne geflüchtet, wenn ich in Todesangst gewesen bin. Von Montaigne habe ich mich lenken und leiten, ja auch führen und verführen lassen. Montaigne ist immer mein Retter und Erretter gewesen.» Oh ja. Michel de Montaigne ist einer unserer Leitsterne.

Ich möchte im folgenden nicht Montaignes erkenntnistheoretischen Skeptizismus darlegen. Nein, Montaigne kann nur für sich selbst sprechen. Einige wenige Zitate aus den Essais mögen genügen, um zu verdeutlichen, was wir Montaigne zu verdanken haben: Der folgende Aphorismus sollte allen naiven Realisten, Wahrnehmungspsychologen sowie Abbild- und Informationstheoretikern zu denken geben, er wird es aber nicht: Wie charmant wir heute den Freigeist Montaigne empfinden, mögen noch folgende überaus aktuellen Aphorismen zeigen:

Sozialer Konstruktivismus und Skeptizismus

Der ‹Radikale Konstruktivismus› postuliert, daß lebende Systeme sich selbst organisieren und informationell so geschlossen sind, daß sie aus ihrer Umwelt nur Perturbationen empfangen können, deren Sinn sie dann selbst erfinden. Autopoiese heißt hier, daß jedes lebende System dazu verdammt ist, sich seine eigene Wirklichkeit konstruieren zu müssen. ‹Radikale› Konstruktivisten binden also ihre erkenntnistheoretische Skepsis an biologische oder neurologische Parameter.

Dem können wir gut folgen, interessanter finden wir jedoch die sozial-konstruktivistische Variante, die behauptet, soziale Räume würden den einzelnen Personen-Systemen die Hauptarbeit bei den allfälligen Wirklichkeitskonstruktionen abnehmen. Albertine Devilder hat das in ihrem Essay ‹Konstruktivismus - Die Epistemologie der Postmoderne› so formuliert: «Wir gehen an die vermeintlich «da draußen» objektiv bestehende Wirklichkeit immer mit einem bestimmten Habitus, einer spezifischen, kulturell, sozial und kommunal definierten Haltung, mit Gewohnheiten, mit gewissen Grundannahmen, mit Mustern, Kategorien, Schemata, Begriffen und Worten heran. Und diese Schemata halten wir gewöhnlich für bereits feststehende objektive Aspekte der Wirklichkeit, während sie doch nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen. Durch unser Hineingeborenwerden in eine bestimmte Kulturepoche und in bestimmte soziale Systeme existieren wir also zu einem sehr großen Teil bereits, bevor wir selbst als Person zum Zuge kommen.»

‹Soziale› Konstruktivisten binden also ihre erkenntnistheoretische Skepsis an soziale Parameter, an soziale Räume. Das finden wir wesentlich spannender, als auf einzelne informationell geschlossene Wesen zu gucken. Für uns ist somit die zehnte der oben genannten skeptischen Tropen mit die interessanteste. Wir sehen auf «die Verschiedenheit der Bildung, Sitten, Gesetze, mythischen Vorstellungen und philosophischen Annahmen der Wahrnehmenden.» Denn diese Verschiedenheit wird vermittelt in unterschiedlichen sozialen Räumen. Und ‹Soziale Konstruktivisten› interessieren sich sehr für die Inhalte des Vermittelten und die Art und Weise dieser Vermittlungen. Aus diesem Grund betreiben wir ‹Wirklichkeitsprüfungen›, Kulturphysiognomik, Mythographie, ‹Sozialpsychologie›, ‹Ethnosoziologie› oder, um einen schönen Begriff Wilhelm Wundts zu verwenden, ‹Völkerpsychologie›. Ja. Aufregend!

Wir denken, daß soziale Räume wie philosophische Schulen wirken und wirken wollen, in denen den Rauminsassen, den Schülern, enge Leitplanken oder Leitseile vermittelt werden, innerhalb derer sie sich dann zu bewegen haben. Nicht nur die Angemessenheit sondern vor allem die Plausibilität dieser Leitseile immer wieder zu bezweifeln, das ist eine der anstrengendsten, spannendsten und schönsten Aufgaben einer Ich-Werdung!

Der entscheidende Gedanke eines skeptizistischen ‹Sozialen Konstruktivismus› ist nun, daß wir angesichts verschiedener sozialer Räume und unterschiedlicher Wahrheitssysteme nicht entscheiden können, welche Wahrheit nun die wahre sei. Klar, soziale Räume neigen dazu, ihr Wirklichkeitserkennungssystem als das überlegene anzusehen und alle anderen Wirklichkeitserkennungsbemühungen zu verspotten oder zu verdammen. Die Betrachtung einer Talkshow mit Politikern oder das Anhören einer Wahlrede macht ja bis zum Erbrechen deutlich, was hier gemeint ist.

Soziale Räume konstruieren nun Sinn- und Wahrheitssysteme (sagen wir mal als Beispiel so was lustiges wie: «Wachstum schafft Arbeitsplätze») und schließen sich mit diesen ein und von allem, was da draußen ist, ab, denn da draußen, außerhalb des eigenen Sinn- und Wahrheitssystems, ist ja das jeweils ‹Fremde› oder ‹Absurde›, wie es ein über sechzehn Jahre hinweg ‹regierender› Kanzler unserer Republik gerne benannte. Ein sozialer Raum lebt davon, daß er sich seine Sinnkonstruktionen immer wieder aufsagt und ‹fremde› Sinnkonstruktionen abwertet und/oder beschimpft. Von Skeptizismus also keine Spur. Denn soziale Systeme halten zusammen, das macht Sinn. Friedrich Wilhelm Nietzsche sagt dazu: «Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.» Ja, lärmend zu behaupten, daß man mit dem Sinnsystem seines sozialen Raumes den einzig angemessenen Zugang zur Wirklichkeit habe, ist scheußlich. Und es ist der freiwillige Weg in ein Erkenntnis-Ghetto: «Systeme sind Gebäude, worin sich die Erfinder, aber besonders die Jünger selbst einsperren.» Das sagt Rahel Varnhagen von Ense.

Aus einem ‹sozial-konstruktivistischen› Denken erwächst nun eine Skepsis, eine Haltung zur Welt, die wir als achtsame Zurückhaltung, als Ungläubigkeit bezeichnen könnten. Wobei eines unserer Steckenpferde darin besteht, immer wieder auf die geringen Möglichkeiten zu verweisen, mit Hilfe von Sprache auf die Welt zeigen zu wollen. Denn «Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an den bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.» (Maurice Maeterlinck)

Die skeptische Grundhaltung des Sozialen Konstruktivismus hat aber auch ganz praktische Konsequenzen, wenn es etwa um die Benennung von Wirklichkeiten geht. So gibt es heute kaum mehr eine moderne Form der Psychotherapie, die nicht eine Art von ‹Refraiming›, ein Umdeuten, ein ‹Etwas in einen anderen Rahmen setzen› implementiert hätte: «Unsere Meinungen von den Dingen quälen uns, nicht die Dinge selbst», sagt Michel de Montaigne. Und er ergänzt: «Wenn uns die Übel nur auf dem Umweg unserer Vorstellungen quälen können, müßte es in unserer Macht liegen, sie zu verachten.» Tja, damit hat er die postmoderne Psychotherapie erfunden.

Soziale Konstruktivisten freuen sich, Lehrmeister der Skepsis wie Pyrrhon von Elis, Zenon von Kition, Sextus Empiricus und Michel de Montaigne zu haben.



Erstellt: 10. Oktober 2005 - letzte Überarbeitung: 10. Oktober 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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