BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Theorien über Theorien»
von nele
Als PDF-Datei laden

«Glaubt niemandem, auch mir nicht!» Mit diesen Worten verabschiedet ein Psychologieprofessor seine Studenten und Studentinnen aus seiner Vorlesung. Damit hat er die Entschärfung, welche Paul Feyerabend in einem seiner fiktiven Dialoge problematisiert, aufs radikalste formuliert und umgesetzt. Feyerabend selbst «möchte nicht einfach nur eine Sorte von Verrückten durch eine andere Sorte von Verrückten ersetzen.» Was könnte es vor diesem Hintergrund bedeuten, niemandem Glauben zu schenken? Und was hat das alles mit Theorien zu tun?

Nehmen wir an, dieser Professor habe eine Vorlesung über das A - B - C Modell von Albert Ellis gehalten. Er stellte die Möglichkeiten und Konsequenzen der Theorie dar und als er am Ende ein siegreiches Flackern in den wahrheitssuchenden Augen seiner Studierenden sah, desillusionierte er sie sogleich.

Nein, so will er sagen, wir sollten nicht glauben, dass das, was uns von sogenannten Autoritäten erzählt wird, einen Anspruch auf Wahrheit hat. Wir müssen uns schon selbst auf die Suche begeben im Wald der Theorien. Das heißt aber, lange Wege in Kauf zu nehmen und auch nach kleinen unscheinbaren Bäumchen Ausschau zu halten - nicht nur nach den großen, jahrhundertealten Riesen, die die ganze Sicht versperren und in deren Schatten kaum ein Pflänzchen wächst. Toleranz könnte in diesem Sinne bedeuten, alle Bäumchen stehen zu lassen und zu pflegen, für die Nachwelt. Für die Menschen, die auch suchen werden.

«Man kann nicht keine Theorie haben.» Freundinnen und Freunden der Bochumer Arbeitsgruppe ist dieser Gedanke längst vertraut. Ja, unser Alltag ist ohne Theorien gar nicht zu denken. Haben Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser, schon mal gefragt, was Sie alles glauben, wenn Sie Medikamente einnehmen, wenn Sie sich über Ihre pubertierenden Kinder unterhalten, wenn Sie ‹Hyperaktivität› mit Ritalin bekämpfen wollen, ja wenn Sie auch nur Nachrichten sehen oder ins Flugzeug steigen, wenn Sie lernen oder Kinder betreuen, wenn Sie sich streiten oder dem Wetterbericht glauben und Ihr Fest im Freien verschieben? Dass diese ‹Theorie›, man könne nicht keine Theorie haben, nicht nur Konsequenzen für die Praxis hat, springt ins Auge. Und abgesehen von der praktischen, alltäglichen und wissenschaftlichen Relevanz, können wir leicht sehen, dass sich Erklärungsmodelle immer wieder auf andere Erklärungsmodelle beziehen.

Wir könnten nun versuchen, das zu spezifizieren, indem wir zum Beispiel eine Einteilung in implizite und explizite Theorien vornehmen. Diese Zweiteilung ist an Universitäten gut zu beobachten. Hier werden den Studierenden explizite Modelle (Relativitätstheorie, Lerntheorie, Kommunismus, Systemtheorie, etc.) vorgestellt. Aber was könnte mit impliziten Theorien gemeint sein? Es würde Sinn machen, hier von Erkenntnistheorien zu sprechen. Und in erster Linie ist ein Mensch Erkenntnistheoretiker, ehe er andere Theorien favorisiert. Damit meine ich keine temporäre Folge von Theorien, sondern dass ‹meine› Erkenntnistheorie bestimmt, wie ich mit anderen Theorien verfahre. Bei der bewussten Internalisierung spielt das eine ausschlaggebende Rolle.

An den Universitäten machen sich implizite Erkenntnistheorien dadurch bemerkbar, dass entweder nur eine Theorie in einem Seminar für Erkenntnistheorien angeboten wird; dann haben wir es mit einem Realisten zu tun. Oder wir haben das Glück, ein Seminar besuchen zu dürfen, in dem verschiedene Modelle der Verhaltenserklärung bezüglich ihrer Konsequenzen und Möglichkeiten behandelt werden. Dann haben wir es nicht mit Realisten zu tun, oder doch? Interessant ist nun der Unterschied zwischen einer realistischen und einer sozial-konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Realisten untersuchen Theorien auf ihren Wahrheitsgehalt, Wahrheit soll hier die letzte Konsequenz und der letzte Zweck aller Erkenntnis sein. Ein sozialer Konstruktivist hingegen würde sich fragen: Wozu Wahrheit? Wem soll die Wahrheit nützen, wem soll sie zugute kommen? Deshalb wird er sich Gedanken machen, welche Möglichkeiten sich für seine Praxis aus einer Theorie ergeben. Denn wem soll das ganze Theoretisieren nützen, wenn nicht den Menschen selbst, dem Zusammenleben, der Kommunikation? Man könnte fast vermuten, dass sich Erkenntnistheorien durch die ethische Grundhaltung unterscheiden. Aber möglicherweise haben wir es da mit einer impliziten Ethik zu tun. Oh je! Das zu behandeln würde noch dreier zusätzlicher Traktate bedürfen! Und wenn dann ein solcher Realist ethisch argumentiert oder gar Moralphilosophie lehrt, dann wird ganz leicht eine Universalethik in die Höhe gehoben, eine, die für alle gelten soll, die ‹wahre› Ethik also.

Nun wissen wir, dass eine Theorie so lange implizit bleibt, bis sie versprachlicht wird. Dann wird sie zu einer expliziten Theorie. Der Realismus als Erkenntnistheorie wurde erst zum Realismus, als sein Programm - etwa von Popper - verbalisiert und damit von anderen Erkenntnistheorien unterschieden wurde. Sie kennen ja die Sprüche, die Ihnen entgegen geworfen werden, wenn Sie mal dem öffentlichen Realismus-Diskurs widersprechen:
Sie fragen sich jetzt bestimmt, ob eine Theorie zuerst erfunden wird, also explizit ist, und dann internalisiert wird. Nun, darüber kann man wirklich spekulieren. Aber was erkenntnistheoretische Grundlegungen betrifft, wachsen wir meines Erachtens nach mit einem Realismus auf, den wir nur schwerlich reflektieren können, wenn wir nicht das Glück haben, auch mit anderen Erkenntnistheorien Bekanntschaft zu machen. Reflektieren bedeutet, sich auf eine andere Theorie einzulassen und den Realismus von da aus zu betrachten. Erst dann kann man sich auch für oder wider eine Theorie entscheiden. Als Realist und Universalethiker einen epistemologischen Solipsismus zu betrachten würde höchstwahrscheinlich zur Ablehnung konstruktivistischer Theorien führen, obwohl - auch Realisten sind frei!

Seitdem der Realismus expliziert wird und nicht mehr als geheimes Programm gefahren werden kann, setzt er sich zur Wehr und rechtfertigt sich. Dies tut er am liebsten dadurch, dass er andere Theorien als ‹Anti-Realismen› pauschalisiert und ihnen vorwirft, dass sie nicht realistisch seien. Das ist ein Kompliment, denn die ‹anderen› wollen ja alles andere als realistisch sein. Das Schöne ist nun, dass Theorien seit dem auch ohne eine objektiv erkennbare Wirklichkeit auskommen, und dass sie diese Entlastung nutzen können, um sich auf andere Bereiche zu konzentrieren. Sie können sich zum Beispiel mit ihrem Gewordensein beschäftigen und Voraussetzungen ihrer Methodik und Denkweise im Zusammenhang mit ihrem Untersuchungsgegenstand problematisieren. Sie können sich während ihrer Beobachtung selbst beobachten und Grenzen, Ziele und ethische Inhalte wissenschaftlicher Forschung formulieren. Leider wird das noch viel zu wenig betrieben!

Wer also nur eine Theorie kennt, kennt keine. Deshalb schauen einige Menschen ziemlich verdutzt, wenn man ihnen mögliche theoretische Hintergründe ihrer Äußerungen erklärt, dachten sie doch, sie hätten sich diese ‹ganz persönlich jetzt› ausgedacht. Lustig sind auch folgende Verweise und Aussagen:
Viele Menschen kommen auch zu dem cleveren Schluss, dass sie sich ihre Meinung über die Welt im Sinne geistiger Produktivität und Selbstständigkeit selbst ausgedacht haben, nur weil sie nicht wissen, welchen Quellen ihre daher gesagten Texte entspringen.

Wenn ich also nur ein Erklärungsmodell verwende, kann ich gar nicht wissen, dass es überhaupt so etwas wie Erklärungsmodelle gibt. Ich kenne mein Modell auch gar nicht. Erinnert Sie das ein wenig an Wittgensteins Sprachgefängnis? Dann haben wir etwas gemeinsam. Denn aus dem «Man kann nicht nicht kommunizieren!» (Paul Watzlawick), einem «Man kann nicht keine Theorie haben!» (Albertine Devilder) und dem wunderschönen «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt!» (Ludwig Wittgenstein) folgt, daß wir alle in zumindest einer Theorie gefangen sind. In mindestens einem Theoriegefängnis.

Während sich also ‹Erkenntnistheoretiker der Wahrheit› für die eine oder andere Theorie entscheiden, jedes Mal in dem Glauben, die richtige gefunden haben, beschäftigen sich andere Erkenntnistheoretiker damit, wie sie das Gefängnis schöpferisch erweitern könnten, indem sie es zum einen anreichern mit neuen Theorien und zum anderen Theorien bis an ihre Grenzen denken. Vielleicht könnte man sie als Metatheoretiker bezeichnen. Metatheoretiker beschäftigen sich nicht nur mit Theorien, sondern auch mit Erkenntnistheorien und ihren Konsequenzen für Theorien und damit für die Praxis. Ein einfaches Beispiel. Ein Metatheoretiker untersucht Erkenntnistheorien auf bestimmte Gesichtspunkte hin, und fragt: Werden Theorien als Abbildung oder als Herstellung von Wirklichkeit definiert? Welche Auswirkungen haben Erkenntnistheorien auf den Umgang mit den Theorien selbst und der daraus folgenden Weltsicht?

Und wie bekommt man das nun heraus? Indem man untersucht, wie über Theorien selbst gesprochen wird, wie Vertreter einer Theorie sich auf andere Theorien beziehen und wie sie über ihre ‹eigene› Theorie reflektieren. Albertine Devilder schreibt in den Sozial-konstruktivistischen Marginalien (1): «Textualität referiert nicht auf eine extra-textuelle Wirklichkeit, auf die, wie in traditionellen Wahrheitstheorien, wahre Sätze sich durch Übereinstimmung beziehen. Vielmehr nehmen wir an, daß Texte selbstreferentiell sind und bloß auf andere Texte verweisen - was man Intertextualität nennt.» Wäre es nicht möglich, die Vokabel des Textes durch die der Theorie zu ersetzen? Wir begegnen mit unseren impliziten Theorien ja immer den impliziten Theorien unseres Gesprächspartners. Wenn wir das wissen, können wir bei Missverständnissen uns gemeinsam auf eine kleine Metastufe stellen und über unsere impliziten Theorien reflektieren, indem wir sie explizieren.

Und um nochmals mit Wittgenstein zu sprechen: «Die Anzahl meiner expliziten Theorien bestimmt die Grenzen meiner zu erklärenden Welt und meiner Handlungen.» Sie bedeutet auch die Grenzen meiner Kommunikationsfähigkeit. Vergessen wir ganz philosophisch gesehen aber auch nicht den Aspekt der Freiheit. Im Umgang mit unseren Erklärungsmodellen setzen wir uns selbst als frei. Wir entscheiden, wie wir uns die Welt erklären, wir haben die Wahl. Die Frage ist, wie wir mit dieser Verantwortung umgehen. Welche Theorie wann hilfreich sein kann, das ist eine ethische Frage, auf die an anderer Stelle eingegangen werden soll.

Zusammenfassend möchte ich dies sagen: Jeder Mensch erlernt in den frühen Jahren seines Lebens, wie er über die Welt sprechen soll. Kultur, Gemeinschaft, sozialer Raum und die Medien liefern die Wörter und damit die Mythen und impliziten Theorien, die aufzusagen sind. Meistens ist uns nicht bekannt, mit welcher Theorie wir gerade arbeiten, weil sie nicht hinterfragt wird oder weil wir keine anderen Theorien kennen gelernt haben. Die Art und Weise, wie wir dann mit diesen expliziten Theorien umgehen, die wir erlernen, ist eine Frage unserer erkenntnistheoretischen Einstellung. Diese Einstellung wird ebenfalls ‹erlernt›. Zwei Extrembeispiele, wie man mit Theorien umgehen kann, habe ich kurz am Beispiel des Realismus und des Sozialen Konstruktivismus erwähnt. Beides sind erkenntnistheoretische Programme, allerdings mit unterschiedlichen ethischen Implikationen. Während der Realismus zu einem expliziten universalethischen Imperativ gelangen möchte, versucht der Soziale Konstruktivismus sich selbst und andere Theorien auf ethische Implikationen hin zu reflektieren und damit kritisierbar zu machen. Damit hebt er die herkömmliche Trennung von ‹Ist› und ‹Soll› auf und zeigt, daß Theorien selbst normativ und damit ethisch unterlegt sind.



Erstellt: 22. Januar 2006 - letzte Überarbeitung: 25. Januar 2006
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.