BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Epistemologie? Agnotologie!»
von Henriette Orheim
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Stanford

Die ‹Leland Stanford Junior University› wurde im Jahre 1885 gegründet und öffnete ihre Pforten im Herbst 1891. Stifter der Universität war der superreiche Eisenbahn-Magnat und Gouveneur von Kalifornien Amasa Leland Stanford. Die Universität trägt den Namen des einzigen Kindes von Amasa Leland Stanford und seiner Frau Jane, das kurz vor der Vollendung seines 16. Geburtstages auf einer Reise durch Italien an Typhus starb.


Epistemologie

Wer das Wort ‹Epistemologie› nicht kennt und/oder, falls er es kennen würde, nichts davon wissen will - schließlich liegen die ‹Fakten› doch draußen in der Welt herum und brauchen von uns oder ‹FOCUS› nur aufgelesen zu werden -, hat es gut. Ignoranz sorgte schon immer für einen guten Schlaf. Wer sich aber für epistemologische Fragen interessiert, der stolpert über Fragen und Fragen, und kaum über Antworten. Das ist wunderbar. Denn gerade ‹Antworten› müllen uns ununterbrochen die Ohren zu, wohingegen die wirklich guten Fragen noch gar nicht gestellt wurden. Aber das ist nur das eine.

Das andere ist, daß eine Beschäftigung mit der ‹Lehre vom Erkennen› ziemlich ernüchternd wirkt. Ja, wenn man sich durch die Brille der Epistemologie die traditionellen Formen der wissenschaftlichen Faktenbeschaffung ansieht oder gar auf die Verbreitung von ‹Informationen› in der ‹Gesellschaft des Spektakels› schaut, dann wackeln einem die Ohren, und damit die Brille. Und von unserem epistemologischen Alltag in Familie und ‹Beziehung› rede ich dabei noch gar nicht.

Nach wie vor herrscht in epistemologischen Dingen ein ‹Naiver Realismus›, der in der Postmoderne zu einem zynischen Naiven Realismus erweitert wurde. Warum zynisch? Nun, weil alle Mächtigen längst die konstruktivistische Grundregel zynischer Macht anwenden, daß es nicht darauf ankommt, was sie als Mächtige tun, sondern wie darüber gesprochen wird. Und das letztere läßt sich ja ziemlich einfach beeinflussen.

Nach außen hin wird also einem Objektivismus und Realismus das Wort geredet, wobei intern, etwa bei einer Konferenz zur Vorbereitung einer PR-Veranstaltung, darüber gelacht wird, mit welchen Begriffen die lieben Wähler und Wählerinnen diesmal wieder veralbert werden und, vor allem, veralbert werden können. Es gibt keine Beobachtungen ohne Beobachter? Diesen wichtigen Satz aus der Systemtheorie haben die Handlanger der ‹Herren des Wörterbuchs› doch längst verstanden und sagen sich: Hey, da liefern wir eben den Beobachter mit, damit die lieben Wähler und Wählerinnen sehen, was sie sehen sollen. Mit Sicherheit.

Jetzt aber konkret: Epistemologische Vorstellungen davon, was wir überhaupt sehen, hören und «erkennen» können, gehen der Erfahrung, der Beobachtung, dem Hingucken immer voraus. Zuerst Epistemologie, dann Empirie und Erfahrung! Sehen heißt gesehen haben. Sehen heißt wissen! Hören heißt gehört haben. Hören heißt wissen.

Es empfiehlt sich, an dieser Stelle wieder einmal auf den fast vergessenen Ludwik Fleck zu verweisen: «Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs.» Tja, so ist das. Ein Angehöriger eines sozialen Raumes, eines sozialen Systems, einer Denk- und Sprechgemeinschaft also entwickelt im Laufe seiner Sozialisation eine Art gerichtete Aufmerksamkeit, eine Bereitschaft, nur das zu ‹sehen› und zu kommunizieren, was in dem sozialen Raum bereits bekannt ist. ‹Sehen› heißt für Ludwik Fleck also: In einem entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, welches die kommunale Denk- und Sprechgemeinschaft, der man angehört, in ihrer spezifischen Lebensform geschaffen hat. Am besten lesen Sie das selbst nach, in unserem Arbeitspapier Nr. 2, ab Seite 16. Dann wird Ihnen klar, warum es heute fast nur noch um Aufmerksamkeitsmanagement und Wortbesetzung geht. Worte werden verkauft, um in möglichst vielen Ohren möglichst vieler Insassen möglichst vieler sozialer Räume an ‹Bekanntes› anzuknüpfen.


Stanford

Vom 7. bis 8. Oktober 2005 fand in der Levinthal Hall des Stanford Humanities Center eine Konferenz statt mit dem bemerkenswerten Titel: «Agnotology: The Cultural Production of Ignorance». Organisatoren waren Londa Schiebinger, Barbara D. Finberg und Robert N. Proctor.

Der Ankündigungstext lautete: «The workshop will explore a new theoretical perspective and methodology - agnotology, the cultural production of ignorance - in interdisciplinary science studies. Workshop participants will explore how ignorance is produced or maintained in diverse settings, through (for example) media neglect, corporate or governmental secrecy and suppression, document destruction, and myriad forms of inherent or avoidable culturopolitical selectivity, inattention, and forgetfulness. The point is to develop a taxonomy of understandings and uses of ignorance, but also tools for understanding how and why diverse forms of knowledge do not or did not "come to be" or are delayed or neglected at different points in history.»


Agnotologie

Da gibt es neuerdings einen Forschungsbereich, der noch viel spannender klingt, als es das Wort Epistemologie je versprechen konnte: Agnotologie! Ist das nicht ein wunderbares Wort? Sprechen wir es einmal gemeinsam aus: ‹Agnotologie›. Und dann machen wir uns klar, auf was dieses Wort zeigen soll! Agnotologie als Lehre von der kulturellen Produktion von Unwissenheit. Wenn Epistemologie die Lehre von dem ist, was Menschen erkennen können, so ist Agnotologie die Lehre davon, wie Menschen davon abgehalten werden, etwas zu erkennen. Spannend? Oh ja, sehr!

Kreisen doch viele Beiträge in unserem Skepsis-Reservat um die ‹Herren des Wörterbuchs›, die uns wohlfeile Begriffe zur Erklärung des Weltgeschehens frei Haus liefern, um ‹Journalisten›, die uns täglich erklären, welche Unwichtigkeit heute wichtig ist, und um Wirklichkeitsprüfungen in unserer Lebenswelt, die zunehmend von erschreckender Unwissenheit gezeichnet ist. Ja, vom Begriff ‹Agnotologie› ist noch viel zu erwarten. Er paßt ganz großartig zur Tradition der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, der mit uns befreundeten ‹Arbeitsgruppe für Kulturphysiognomik› sowie dem uns nahe stehenden ‹Zentrum für Mythographie›.

In Bertolt Brechts Schauspiel ‹Leben des Galilei› sagt Papst Urban VIII. in der 12. Szene zum Kardinal Inquisitor über Galileo Galilei: «Er kennt mehr Genüsse als irgendein Mann, den ich getroffen habe. Er denkt aus Sinnlichkeit. Zu einem alten Wein oder einem neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen.»

Wir können zum Wort ‹Agnotologie› nicht nein sagen. Von altem Wein ganz zu schweigen.


Stanford

Das Wort ‹Agnotologie› wurde von Robert N. Proctor, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Stanford Universität, erfunden. Im Siegel der Stanford-Universität steht ein Satz, der Ulrich von Hutten (1488-1523) zugeschrieben wird:

‹Die Luft der Freiheit weht›.



Erstellt: 5. Dezember 2006 - letzte Überarbeitung: 8. Januar 2007
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