BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Von der Vergeblichkeit experimenteller Sozialpsychologie»
von Albertine Devilder
Als PDF-Datei laden

«Wo das Leben beginnt,
hört die Wissenschaft auf;
und wo die Wissenschaft beginnt,
hört das Leben auf.»
(Egon Friedell)

Prolog

Ach ja, die experimentelle Sozialpsychologie. Da werden ‹Versuchspersonen› in vermeintlich soziale Situationen gebracht, die sie vermeintlich nicht durchschauen, es werden ihnen ‹unabhängige Variable› präsentiert, von denen die ‹Versuchspersonen› nicht ahnen sollen, daß es genau die sind, auf die sie reagieren sollen, und dann schauen sich die ‹Versuchsleiter› die Reaktionen der ‹Versuchspersonen› auf die unabhängigen ‹Variablen› mit Hilfe einer ‹abhängigen Variablen› an. Schon hat der ‹Versuchsleiter› einen Forschungsbefund.

Die Frage: Was kann ich erkennen? stellt sich für den Versuchsleiter nicht. Statt dessen vergeheimnist er eine komplexe soziale Situation, um zu erreichen, daß sich die ‹Versuchspersonen›, wie gewünscht, in ihrer Unsicherheit, um was es eigentlich hier gehen mag, in ihren möglichen Reaktionen so einengen und kanalisieren lassen, daß ihnen nichts anderes übrig bleibt, als auf eben jener ‹abhängigen Variablen› eine Lebensäußerung abzugeben. Die sozialen Räume der ‹Versuchspersonen› spielen keine Rolle (sie dürfen keine Rolle spielen), und auch das je unterschiedliche biographische Gewordensein spielt keine Rolle (darf keine Rolle spielen, es sei denn, es wird zur ‹unabhängigen Variablen› erklärt). Wir sehen, wie recht Egon Friedell hat: «Wo die Wissenschaft beginnt, hört das Leben auf.»


1986: Was können wir erkennen?

Nun, die Frage: Was können wir erkennen? hat viele von uns gleich zu Beginn unserer Studien fasziniert, insbesondere auch deshalb, weil damals sie in herkömmlichen Lehrveranstaltungen niemals gestellt wurde. Wir zweifelten schon vor vielen Jahren an der experimentellen Sozialpsychologie, wie auch an der ‹naiv-realistischen› ‹empirischen› Ausrichtung der traditionellen Psychologie. Unser Arbeitspapier Nr. 1 listet 176 Dogmen der herkömmlichen Psychologie auf – und setzt eben diese Dogmen Punkt für Punkt einer wunderbar erfrischenden jugendlichen Kritik aus. Lesen Sie diese Collage von Dogmen und unsere Antworten darauf, lieber Leser, liebe Leserin, und die sogenannte Psychologie wird für Sie – ganz persönlich jetzt – nicht mehr das sein, was sie vielleicht einmal für Sie war. Versprochen!

Im Gründungsdokument der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› von 1986 heißt es:
«Die traditionelle experimentell-empirische Psychologie ist in ihrem finalen Stadium. Die erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten sind unüberwindlich. Die Annahme, daß Theorien durch Empirie bestätigt oder falsifiziert werden könnten, ist unsinnig. Der akkumulativ empiristische Fragmentarismus ist gescheitert. Die traditionelle experimentell-empirische Psychologie ist essentiell nicht empirisch!»


2011: Was können wir erkennen?

Nun, eins ist klar, die erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten traditioneller Psychologie sind tatsächlich unüberwindlich. Die Annahme, daß Theorien durch Empirie bestätigt oder falsifiziert werden könnten, ist nach wie vor unsinnig. Der akkumulativ empiristische Fragmentarismus ist tatsächlich gescheitert. Die traditionelle experimentell-empirische Psychologie ist essentiell nicht empirisch! Und Psychometrie ist lustig! Nur: Die traditionelle experimentell-empirische Psychologie ist dennoch nicht in ihrem finalen Stadium. Sie macht weiter, wie vor 25 Jahren. Wie kann das sein?

Nun, epistemologische Fragen stellen sich im heutigen Universitätsbetrieb nicht mehr, und konstruktivistische Gedanken sind passé. Henriette Orheim sagt dazu:
«Der ‹soziale› und der ‹radikale› Konstruktivismus sind an den Universitäten gestorben, tot. An den heutigen ‹Exzellenz-Universitäten› werden Fakten hergestellt, die es zu verkaufen gilt. Daß Fakten im Sinne der Auftraggeber und Käufer der ‹Wissensprodukte› konstruiert werden, erwarten eben diese
So ist es. Professoren gehen ihren Geschäften nach oder versuchen, ‹Drittmittel› einzuwerben, und die Studierenden hetzen durch ihr Studium, um dann sofort Geschäfte für andere führen zu dürfen. Klar, das ist der Abschied von der Universität.


Erkenntnisse in der experimentellen Sozialpsychologie: Nur ein Beispiel

Lieber Leser, liebe Leserin, Sie haben sich mit Ihrer Lesebereitschaft bis zu dieser Stelle durchgerungen, dafür sollen Sie jetzt belohnt werden. Natürlich können Sie fast täglich selbst in den großen Tageszeitungen etwas über aufregende und wichtige Forschungsbefunde lesen, die selbstlose Forscher und Forscherinnen in der Natur ‹entdeckt›, also ‹vorgefunden› haben. Was wir da über die ‹Welt› erfahren, ist meistens sehr lustig.

Wir möchten Ihnen im folgenden nur ein einziges Beispiel aus der experimentellen Sozialpsychologie vorstellen, um an diesem die im Titel dieses Traktates beschworene ‹Vergeblichkeit› zu demonstrieren. Ein Beispiel reicht vollauf!

Ich habe in einem anderen Traktat – Forschungsbefunde, Frames und der ‹Naive Realismus› – eine Wissenschaftlerin erwähnt, die dort in einem Text sagt
«Fakten haben nie einen Sinn an sich. Sie erhalten ihre Bedeutung durch Frames.» [1] Elisabeth Wehling (Juli 2011): Der gedankliche Abbau sozialdemokratischer Werte. Zur Sprache der Sozialpolitik in Großbritannien, Österreich und Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung. Internationale Politikanalyse. Seite 4.
um dann in eben diesem Text über ‹Frames› die folgende ‹Untersuchung zu zitieren:
«Bringt man Menschen dazu, sich unmoralisches Verhalten in Erinnerung zu rufen, und gibt ihnen im Anschluss die Möglichkeit, sich die Hände zu waschen, so zeigen sie weniger Bereitschaft, ehrenamtlich anderen Menschen zu helfen. Gibt man ihnen keine Gelegenheit, ihre Hände zu reinigen, so bleibt das Bedürfnis nach individueller Wiedergutmachung und damit die Bereitschaft zu ehrenamtlicher Arbeit bestehen.» [2] Elisabeth Wehling (Juli 2011) a.a.O. Seite 3. Wer diese Untersuchung gemacht hat, ist aus dem Text heraus nicht ersichtlich. Das Wissen darüber wäre auch unerheblich.
Hallo? Was ist hier los? Wo sind hier die ‹Fakten›? Und ist das genau das, was wir immer in den Zeitungen lesen? Ja. Und ist das Unsinn? Ja. Schauen wir hin. Abgesehen von dem sehr lustigen und tief aus dem ‹gesunden Menschenverstand› geschöpften Untersuchungssetting und der naiven Untersuchungshypothese, müssen wir sofort beim ersten Satz einhaken:

‹Bringt man Menschen dazu […]›. Wer ist ‹man›? Ein Student im experimentalpsychologischen Praktikum in Toronto, Kanada, ein Doktorand in Tübingen, Deutschland? Wer ist man? Ein über allen Wassern schwebender ätherischer Geist, der der Welt die Fakten entreißt? Ist es keine Person aus einer bestimmten Kultur, mit bestimmten Konditionierungen und Erwartungen?

Und wer sind die ‹Menschen›? Sind es 12 Erstsemester der Psychologie in Kanada, die als ‹Versuchspersonen› gebraucht wurden? Sind es 15 Erstsemester der Psychologie in Tübingen? Wer sind die ‹Menschen›? Haben sie eine Biographie? Leben sie in sozialen Räumen? Haben sie bestimmte Konditionierungen und Erwartungen?


Fazit

Das Fazit ist naheliegend und bitter für die traditionelle Psychologie: ‹Man› kann bei ‹Menschen› nichts feststellen. Niemand kann das. Der Glaube daran zeigt die Hybris eines ‹Naiven Realismus› in Reinform. Die experimentelle Sozialpsychologie kommt zu keinen Erkenntnissen, außer zu denen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten sozialen Raum und in einer bestimmten Kultur plausibel, also vorstellbar waren – und den Frames der ‹Versuchsleiter› entsprachen.

Das ist alles? Ja.



Erstellt: 30. August 2011 – letzte Überarbeitung: 31. August 2011
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.