BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Konstruktivismus und Solipsismus»
von Albertine Devilder
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Ich war überrascht. Meine Katzen lieben es, hinter den langen und verwinkelten Buchreihen in den Regalen meiner unerschöpflichen Bibliothek ersprießliche Späße und Verfolgungen zu unternehmen. Und manchmal schmeißen sie dann ein ganzes Sortiment von Büchern heraus, welches ich geduldig wieder einräume. Und ab und zu fällt mir dann dabei ein Buch in die Hände, an das ich mich nicht erinnern kann. Zum Beispiel just dieses:
Otto Mock (1933): Befreiung des Lebens. Razzia im Dickicht der Probleme. München: Albert Langen/Georg Müller Verlag.
Na, liebe Leserin und lieber Leser, ist das mal ein Titel? Die ‹Befreiung des Lebens durch eine Razzia im Dickicht der Probleme›? Toll. Ich war begeistert. Meine sorgfältigen Recherchen ergaben, daß dieser Otto Mock vermutlich wohl Kurarzt und Skiarzt in Feldberg war und viele Reisen unternahm, über die er auch in verschiedenen Büchern berichtete.

Lesen also! Nachdem meine umfangreiche Lieblingskatze endlich und umständlich auf meinem Schoß Platz genommen hatte, erinnerte ich mich an das ebenfalls durch einen Zufall mir in die Hände gespielte Buch von Rudolf Steiner, in dem die wunderbare Frage gestellt wurde – «Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen, wieviel Exemplare des Tisches sind vorhanden?» – und war gespannt, was mich bei dieser ‹Razzia› erwarten würde, hatte ich doch sogleich in der ‹Befreiung des Lebens› ein viertes Kapitel entdeckt mit der Überschrift ‹Problem der Erkenntnis›.

Und dann die Enttäuschung. Ich fragte mich, ob es denn wieder einmal nur um die große Kluft zwischen konstruktivistischen Gedanken und dem ‹gesunden› Menschenverstand gehe? Ja, leider. Der Autor offenbart sich als ‹Naiver Realist›, ihm ist der philosophische Idealismus unangenehm, er mäkelt an Kant herum, und er räumt schließlich im Dickicht der Erkenntnis-Probleme auf eine Art auf, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Beginnen wir mit dem so vertrauten und gewöhnlichen Denkfehler, der heute, nach dem Tode des Konstruktivismus, kein Fehler mehr ist, sondern eine geglaubte, gelehrte und in Exzellenz-Universitäten abgefragte Selbstverständlichkeit:
«Dreimal bin ich um die Erde gefahren, aber ich komme von dem Wahnsinn des philosophischen Dogmas nicht los, daß diese dreimal umfahrene Kugel überhaupt nicht «existiere», daß sie nur «Schein» sei, Bild, Produkt meiner selbst, und daß wir Menschen niemals an den Kern der Dinge kämen.» (Seite 78)
Wir verstehen sofort, was der Autor nicht verstanden hat: Den Unterschied zwischen einem ontologischen und einem epistemologischen Solipsismus. Dazu habe ich geschrieben:
«Der Konstruktivismus ist kein ontologischer Solipsismus, wie ihm oft vorgeworfen wird, sondern ein epistemologischer Solipsismus. KonstruktivistInnen bestreiten nicht die Existenz einer von ihnen unabhängigen Außenwelt. Damit erscheinen alle so beliebten Vorwürfe gegen den Konstruktivismus, die vor allem von Methodisten und Materialisten erhoben werden, sinnlos.»
Dennoch bleiben alle Menschen, die nicht über Probleme der Erkenntnis nachdenken wollen – und dies sind eben fast alle Menschen, nicht nur Otto Mock –, fest bei der Meinung, daß Anhänger des Subjektivismus, Idealismus und Konstruktivismus behaupteten, es gäbe außerhalb von ihnen keine Welt. Diese komplett sinnlose Unterstellung ist nicht zu besiegen. Selbst der Einwand, daß Subjektivistinnen, Idealistinnen und Konstruktivistinnen, würden sie einem ontologischen Solipsismus huldigen, sogleich die Treppe hinunter fallen würden, verließen sie ihre Stube der Erkenntnis, hilft nicht weiter. Die Behauptung steht – und Naive Realisten können sich mit dieser Behauptung in ihrer vermeintlichen Klugheit wohl fühlen. Und sie dürfen auch spotten. Ist ok.

Ich möchte aber noch einige Argumente aus dem zitierten Buch vorstellen, um zu zeigen, was damals – vor 80 Jahren – als Meinung möglich war und daß genau diese heute selbstverständlich ist. Otto Mock nimmt in seinem Meinungsgang, in seinem Plädoyer für einen Naiven Realismus als Haupt-Beweisstück die Photographie. Tatsächlich: Die Photographie. Wirklich: Die Photographie.

Er meint, wenn die Subjektivistinnen, Idealistinnen und Konstruktivistinnen Recht hätten und die Dinge nicht für sich existierten, müsse eine Photographie von der Welt ja weiß bleiben, werde sie belichtet und entwickelt, denn da draußen, in der Welt, sei ja nichts. Da jedoch auf dem entwickelten Negativ etwas zu sehen sei:
« […] können wir sagen, daß die Photographie die Wirklichkeit, das Ding, das Objekt darstellt und seine Existenz beweist. A (Photo) ist gleich B (Welt). Da wir zweitens festgestellt haben, daß das Abbild der Photographie, A, mit dem Abbild unserer Sinne, C, exakt meßbar zusammenfällt, daß also A gleich C ist, so ist auch C gleich B! Oder: Die Außenwelt ist genau so, wie wir sie sehen! Was zu beweisen war. Das metaphysische Versteckspiel ist zu Ende! Die Ungewißheit des «an sich» ist gelöst dadurch, daß die ganze Welt sie selbst ist. Wir sind keinen Trugbildern mehr ausgeliefert, wir stehen nicht mehr auf unterhöhltem Boden! Die Welt ist so, wie wir sie sehen.» (Seite 91/92, zwei Klammern wurden von mir ergänzt.)
Tja, seltsam ist es schon, daß die Gegner und Spötter des Idealismus und Konstruktivismus immer nur den Knüppel des ontologischen Solipsismus bei der Hand haben. Ihnen fällt darüber hinaus nichts ein. Und in den universitären Seminaren stellen die Lehrenden dann einen ‹Externen Realismus› vor, der wieder einmal nur besagt, daß es eine von unserer Wahrnehmung und somit von unseren kognitiven Repräsentationen unabhängige Wirklichkeit da draußen gebe. Wer bestreitet das? Die entscheidende Frage ist doch: Was sehen wir in der Welt? Was können wir in ihr erkennen? Und die Antwort ist: Je nach sozialem Raum, je nach Überzeugungen und Erwartungen aller Art, je nach Beobachter also sehen wir Unterschiedliches. Und die Hauptaufgabe der traditionellen Wissenschaften ist es, so zu tun, als gebe es keinen Beobachter. Und die Hauptaufgabe der Politik ist es, so über eine Wirklichkeit zu sprechen, daß wir glauben, die Wirklichkeit entspräche dem darüber Gesagten. Klar, das ist schändlich. Das ist halt die Schmutzarbeit der Generalsekretäre.

Auf der einen Seite also lernen die Hilfskräfte für den finalen Kapitalismus an den Universitäten, daß sie ihren Augen unbedingt trauen können. Und auf der anderen Seite machen sich die ‹Herren des Wörterbuchs› einen Spaß daraus, in Lehrplänen nicht nur festzulegen, was die Hilfskräfte mit ihren ‹eigenen› Augen sehen sollen, sondern auch die Bedeutung des vermeintlich ‹Gesehenen› zu bestimmen.

Konstruktivismus und Solipsismus. Diese Verbindung ist, da sie auch heute noch immer wieder hergestellt wird, nicht mehr zu löschen. Und eine Differenzierung zwischen Epistemologie und Ontologie ist heute nicht mehr zu erwarten. Heute ist Ontologie angesagt.

Deswegen noch einmal: Die schlichte und schmale Lehre des ‹Sozialen Konstruktivismus› besteht in der Behauptung, daß wir alle, je nach sozialen Raum, Herkunft und erlernten Überzeugungen, in der zweifellos existierenden Welt je Unterschiedliches sehen - und verstehen. Das ist alles. Ist dieser Gedanke so schwer zu verstehen?



Erstellt: 17. Juni 2012 – letzte Überarbeitung: 18. Juni 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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