BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Welterkenntnis durch Sprache? Eine Hommage in Aphorismen»
von Helmut Hansen & Henriette Orheim
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«Man muß trunken oder irre sein,
würde ich hinzufügen,
um es noch zu wagen,
sich der Worte zu bedienen,
irgendwelcher Worte.»
(E. M. Cioran)

Einführung

Fangen wir gleich mit einer Paradoxie an: Welterkenntnis durch Sprache ist unmöglich. Welterkenntnis ist nur durch Sprache möglich. Das wär‘s schon. [1] Und wenn jetzt jemand barsch sagt, aber Welterkenntnis sei doch mit Hilfe von Zahlen möglich, dann blicken wir kurz auf – und schütteln den Kopf. Denn die neuesten und aufregendsten Untersuchungen, die der menschliche Geist anstellen kann, also die Erforschung unseres Gehirns, ‹entdecken› mit Hilfe der Magnetresonanztomographie und komplexen Computerprogrammen bei irgendwelchen kognitiven ‹Vorstellungen› von Probanden irgendwelche ‹Aktivitäten› in bestimmten Gehirnregionen, die als endlose Zahlenkolonnen aus dem Drucker heraus purzeln. Und dann? Nun, diese Zahlen müssen in Sprache umgewandelt werden. Sie erhalten ihre Bedeutung ja erst in einem sprachlichen und sozialen Bedeutungsraum, der bereits vor der ‹Entdeckung› Bestand hatte. Also reden wir darüber.

Wie man überhaupt auf den Gedanken kommen kann, daß unsere Sprache, daß die Wörter, die wir verwenden, die Wirklichkeit abbildeten, und daß jedes Wort auf irgendetwas spezifisches da draußen in der Wirklichkeitswelt verweise, ist schon schwer zu verstehen. Und etliche große Denker und Querdenker waren sich dessen bewußt. Die anderen laufen hinter den Wörtern her, die nicht nur die ‹Herren des Wörterbuchs› ihnen vorsagen, sondern insbesondere die Menschen in dem sozialen Raum, in dem sie aufwachsen müssen.

In diesem kleinen Essay nun möchten wir mit einer Hommage in Aphorismen verschiedenen Denkern huldigen. Denkern, die wir sehr schätzen und die wir sehr verehren. Wir haben das schon einmal in dem Essay ‹Wie wirklich ist die Wirklichkeit – Die Epistemologie der Postmoderne› gemacht. Dort aber ging es eher um grundsätzliche konstruktivistische Überlegungen.

Hier nun wollen wir zeigen, was sich über Welterkenntnis durch Sprache sagen läßt. Und es ist erstaunlich, wie klar vielen Denkern das Problem der Welterkenntnis durch Sprache war und wie wenig dieses Problem in das Bewußtsein der anderen gelangte, die bis heute meinen, mit Hilfe der Sprache die Welt ‹abbilden› zu können.


Welterkenntnis durch Sprache?

Es gäbe einige Möglichkeiten, die folgenden Aphorismen in eine Ordnung zu bringen. Wir haben uns gegen eine historische Reihung entschieden. Wir bevorzugen ein Ähnlichkeitsmodell. Fangen wir an!

«Die Zivilisation besteht darin, Dinge falsch zu benennen, und anschließend über das Ergebnis nachzusinnen. Und tatsächlich schaffen der falsche Name und der wahre Traum eine neue Wirklichkeit. Der Gegenstand wird ein anderer, weil wir ihn zu einem anderen gemacht haben. Wir stellen Wirklichkeiten her.»

Fernando Pessoa ist hier ganz nah am Mysterium der Sprache. Denn immer haben wir den in uns hinein gelegten ‹wahren Traum›, wie die Welt denn nun beschaffen sei, und immer wieder scheitern wir mit unseren Benennungen. Meist ohne es zu merken. Das liegt vor allem daran:

«Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.»

Johann Wolfgang von Goethe sagte dies, und treffender kann man es kaum sagen. Ob John Stuart Mill, der etwa ein Vierteljahrhundert vor Goethes Tod geboren wurde, diesen Gedanken kannte?

«The tendency has always been strong to believe that whatever received a name must be an entity or thing, having an independent existence of its own.»

Wobei die angeblichen Tatbestände und Wirklichkeitsbehauptungen ja erst durch Substantivierungen, Ontologisierungen und Reifikationen in der Sprache entstehen. Wörter erhalten im Gebrauch derselben ein Eigenleben und werden so mit der Zeit zu einer ontologischen Einheit. Im mit dem Wort ‹aggressiv› geweckten Bedeutungsraum etwa vollzieht sich allzu leicht eine Substantivierung. Aus dem Wörtchen ‹aggressiv› wird eine ‹Aggression›, eine Essenz, eine Substanz, unabhängig vom Wort. Und durch den Gebrauch des Wortes wird das damit Gemeinte vergegenständlicht, verdinglicht, eben reifiziert. Stellen wir eine alltägliche Frage: Warum hat er dies getan? Antwort: Weil in ihm eine Aggression war, die raus mußte! Unglaublich, daß Menschen so etwas glauben. Aus einem Wort wird so eine ‹Gegebenheit der Natur›, oder schlimmeres.

Siri Hustvedt sagt:

«Wir sehen vermittels der Sprache. Das Wort isoliert, definiert, erschafft die Grenzen des Gegenstands. Willkürlich und flottierend zergliedert die Sprache die Welt.»

So ist es, unsere Betrachtung der Welt hangelt sich an vorgefassten Erwartungen an die Welt entlang, und diese Erwartungen werden durch Wörter geschaffen. Wenn wir hier konsequent weiter denken, müssen wir uns mit Jakob Wassermann fragen:

«Schafft aber nicht der Name erst das Ding? Solang eine Erscheinung namenlos bleibt, ist sie nicht erkannt, und vielleicht verschwinden viele, ohne Schaden anzurichten, weil sie noch keinen Namen haben...»

Ein sehr guter Gedanke! So hätte man in der ‹Psychiatrie› gut und gerne auf den Begriff ‹schizoaffektive Mischpsychose› verzichten können. Denn erst der Name schafft ein Ding, das es gar nicht gibt. Und durch den Gebrauch des Wortes wird das Wort, der Begriff ontologisiert. Und der Träger dieses Begriffs pathologisiert und interniert. Das ist schlimm.

Und genau deswegen sind ja auch die Bemühungen der ‹Herren des Wörterbuchs› so schändlich, durch das Erfinden von Wörtern oder Wortketten, also Namen, Dinge zu erschaffen, um eine erwünschte Sicht auf die Welt zu propagieren. Etwa: ‹Mindestlöhne sind unsozial!›

Auf ein Wort

Schauen wir uns nun Wörter etwas näher an. Der gesunde Menschenverstand meint, zu jedem Wort gäbe es einen definierten Wirklichkeitsbereich. Man höre nur einmal zu, wenn Wörter im vermeintlichen Diskurs ausgetauscht werden. Unsere redlich gesammelten ‹Diskussionsskripte› geben hier ein gutes Beispiel.

Die in dieser Hommage vorgestellten Denker sind da eher sehr skeptisch, sie zweifeln an der grundsätzlichen Möglichkeit, mit Wörtern auf die Welt verweisen zu wollen. Beginnen wir hier mit Richard Weiner:

«Es gibt nichts zu sagen; denn Wörter sind Dietriche, von denen jeder alles aufschließt, also eigentlich nichts; es gibt nichts abzubilden, denn das Bild, das zumindest an der Oberfläche einen Einbruch verübt hat, ist bereits ein allseits und sattsam bekannter Verbrecher.»

Und an die immer und überall Mächtigen, aber auch an uns denkend, sagt er:

«Wörter sind nur Sand in unseren Augen.»

Und wenn wir uns überlegen, mit welcher Mühe wir oft die Bedeutung eines Wortes zu erklären versuchen, wie wir oft nach einer Weile mit unseren Definitionen im Kreis gehen, sollten wir an einen Aphorismus von Charlie Chaplin denken:

«The meaning of anything is merely other words for the same thing.»

Ja, das ist genial abstrahiert und einfach wahr. Und immer dann, wenn man sich ein Wort etwas näher ansieht, kommt eine zartere Seele ins Grübeln. Das fasziniert die Autoren und Autorinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› seit langem, und einer unserer Götter, Karl Kraus, sagt es so:

«Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.»

Ist das nicht ganz wunderbar wahr? Und Christian Morgenstern, den wir auch sehr schätzen (allerdings nicht als Gott) sagt es so:

«Ein "Wort" ist etwas unendlich Rohes: es faßt Millionen Beziehungen mit einem Griff zusammen und ballt sie wie einen Klumpen Erde. Bald wird die Erde trocken und hart - die Kugel bleibt als rohes drastisches Ganzes, aber die Millionen Teilchen, daraus sie besteht, sind als solche so gut wie vergessen.»

Und dies auch noch:

«Oft überfällt dich plötzlich eine heftige Verwunderung über ein Wort: Blitzartig erhellt sich die völlige Willkür der Sprache, in welcher unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses unseres Weltbegriffes überhaupt.»

Die unbedingte Willkür der Sprache im Benennen des vermeintlich Sichtbaren empfinden nur wenige Zeitgenossen, wie etwa Hugo von Hofmannsthal in seinem ‹Chandos-Brief›. Und diesen Denkern geht es bei dieser Erkenntnis nicht gut. Denn sie lösen sich ja damit aus den Diskursen ihres sozialen Raumes, in dem die Konversationsmaschinen nur so rattern. [2] Wir bedanken uns bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann für dieses schöne Bild. Otto Weininger, den wir in seinem wahnwitzigen Werk ‹Geschlecht und Charakter› haben leiden sehen, an sich, der Welt, an der Geschlechtlichkeit, an Frauen, dieser Otto Weininger hat in seiner selbstmörderischen Luzidität diesen endgültigen Aphorismus geprägt:

«Wir erwehren uns der Welt durch unsere Begriffe.»

Wobei wir darauf verweisen, daß es hier heißt ‹durch unsere Begriffe›. Wir alle haben also Wörter und Begriffe in unserem Setzkasten, um uns die Welt vom Leibe zu halten, um nicht in unseren ‹wahren Träumen› (Pessoa, siehe oben) gestört zu werden, um die Welt nicht so zu sehen, wie sie vielleicht wirklich ‹ist›.

Der große Dunkle, der Einzigartige, der Solitär, der funkelnde Leitstern, Ludwig Wittgenstein sagt im Tractatus im Punkt 5.62:

«Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten.»

Wie nah beieinander hier Christian Morgenstern, Otto Weininger, Richard Weiner, Karl Kraus und die anderen Denker sind und wie weit sie sich entfernt haben vom ‹Gesunden Menschenverstand› und dessen Vertrauen in das Sagbare! Friedrich Wilhelm Nietzsche faßt all diese Bedeutungsspuren in seiner radikalen Klugheit so zusammen:

«Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt.»

Ist das nicht unglaublich? Übrigens glauben wir nicht daran, daß Nietzsche wirklich verrückt war. Er konnte wohl, vielleicht ähnlich wie Otto Weininger, mit der Kraft und Schärfe seiner Gedanken in keinem sozialen Raum mehr andocken, keiner verstand ihn mehr. Vielleicht war es so?

Schließen wir diesen Abschnitt ‹Auf ein Wort› mit einem Gedanken Fritz Mauthners, der uns sehr gefällt, und auf Grund dessen wir gar eine kleine Lyrik-Abteilung in unserem ‹Skepsis-Reservat› eingerichtet haben. Lyrik? Ja.

«Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten; darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich. Es ist möglich, den Stimmungsgehalt der Worte festzuhalten; darum ist eine Kunst durch Sprache möglich, eine Wortkunst, die Poesie.»


Vergeblichkeit

Was ergibt sich für uns aus der Vergeblichkeit, mit Hilfe der Sprache Fetzen der Wirklichkeit erhaschen zu wollen? Demut. Achtsamkeit. Redlichkeit. Und der Wunsch, sich abzusetzen von den von überall her auf uns einstürzenden anmaßenden Reden der Mächtigen, die doch letztlich nur auf die Beschränktheit der Redner verweisen. [3] Ein schöner Gedanke, den wir Alexander von Humboldt verdanken. Stehen wir zur Vergeblichkeit, erfreuen wir uns daran, daß andere Denker diese Vergeblichkeit ebenso empfanden wie wir, begrüßen wir sie in unserem kleinen ‹hortus conclusus›, hören wir ihnen zu!

Karl Kraus:

«Am unverständlichsten reden die Leute daher, denen die Sprache zu nichts weiter dient als sich verständlich zu machen.»

Richard Weiner:

«Verbale Mitteilbarkeit ist das eigentliche Charakteristikum für Pseudoerkenntnis.»

Noch einmal Richard Weiner:

«Wir sind Gefangene des Wörterbuchs; des Wörterbuches und konventioneller Konzepte, wir sind uns seiner grenzenlosen Verstümmelung und Grobheit bewußt, aber in unserem solidarischen Elend, in unserem Elend einander gleich, kein anderes Mittel der Verständigung zu haben, verständigen wir uns mit ihm...um uns ständig weiter und weiter voneinander zu entfernen.»

Benno Schlicht:

«Den meisten Menschen ist die Sprache nichts als ein Hindernis auf dem steinigen Wege der Mitteilung.»

Maurice Maeterlinck:

«Warum nicht das Wort sprechen, das die Augen öffnet, das erklärende, beruhigende oder befreiende Wort? Weil es nur ein Wort ist.»

Artus P. Feldmann:

«Wenn Leute behaupten, sie könnten in Worten nicht das ausdrücken, was sie gerade erlebt oder gefühlt haben, dann ist es wohl eher umgekehrt: Die Sprache macht Versprechungen, die das eigene Erleben und Fühlen nicht einlösen kann.»

William Carlos Williams:

«Erkennen wir nicht, daß wir sprachlos sind? Was uns scheitern läßt, ist dies: wir sind nicht in der Lage, einander mitzuteilen, wie wir in uns selbst eingeschlossen sind; diese Unfähigkeit, einander auch nur die simpelsten Dinge von Bedeutung wissen zu lassen – und ich rede von uns allen, auch den Besten -, diese Unfähigkeit also führt dazu, daß unser Leben dem eines Wurfes Katzen in einem Holzhaufen gleicht.»

Botho Strauß:

«Sie sprachen nicht, sie streiften durch die verlassene Öde des ausgesprochenen Sprechens. Einsam und allgemein, zwei aussichtslos sich ansehende Irgendwies, und zwischen ihnen ein soziales Geräusch, durch das sie sich nicht näherkamen. Und manchmal, kaum bemerklich, ein Versuch, ein Drang - doch die Sprache, wenn sie sie wirklich brauchten, wich zurück wie das Wasser unter dem Kinn des Tantalos.»


Finale

Das Schlußwort überlassen wir Maurice Maeterlinck:

«Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte können die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z.B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen.»

Finis.



Ins Netz gestellt am 6. September 2013
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