BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Montaigne und die Fragen des Lebens: Eine Renaissance»
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

«Que sçais-je?»
(Michel de Montaigne)

Prolog

Wer auf der Website der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› unterwegs ist, weiß, daß wir uns seit Beginn unserer Mühen mit der Frage beschäftigen, wie wir es in dieser Welt aushalten und wie wir unser Leben gestalten könnten. Wir nennen dies ‹Weltbewältigung›, und wir sehen bei der Bearbeitung dieser andauernden (Entwicklungs-)Aufgabe – naturgemäß – Anhänger des Sozialen Konstruktivismus im Vergleich zu den allgegenwärtigen ‹Naiven Realisten› im Vorteil.

Denn Konstruktivistinnen schätzen Möglichkeiten, und Realisten ‹objektive› Wirklichkeiten. Das sagt eigentlich schon alles und ist, für die Realisten, schlimm genug. Denn Konstruktivistinnen sind Skeptikerinnen, sie zweifeln an der Welterkenntnis durch Sprache, sie haben Freude an erkenntnistheoretischen Spielereien, sie sehen die Welt als Bühne, und sich als Schauspielerinnen, sie können mit Verzweiflung umgehen, und sie fallen nicht auf die Legende vom reflexiven Ich herein. Tja, da graust es dem Realisten.


Montaigne

Und wer auf der Website der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› unterwegs ist, weiß auch, daß unsere Autoren und Autorinnen es Michel de Montaigne (1533 - 1597) zu verdanken haben, auf diesen wunderbaren Weg des Zweifels geführt worden zu sein. Wir schätzen Montaigne sehr. Er ist, neben Karl Kraus, einer unserer Heroen, einer unserer Götter. Immer wieder zitieren wir aus seinen Essais, immer wieder zieht sich der eine oder die andere mit dem gewichtigen und in rotes Ziegenleder gebundenen Trumm von Buch [1] Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag. 1998. Sonderband: Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. auf das in der Redaktion stehende rote Sofa zurück, um darin zu stöbern, zu flanieren, und um immer wieder überraschende Gedankenwendungen zu entdecken. Das ist und bleibt eine große Freude. Bis in alle Ewigkeit.

Nach dem Endsieg des finalen Kapitalismus und inmitten einer Tendenz, mit Zahlen und ‹Fakten› einen neuen ‹Naiven Realismus› in allen Bereichen unseres Lebens, ja, selbst dort, wo es um unser Leben geht, zu propagieren, ist es aber auch eine Notwendigkeit, eine Dringlichkeit, auf all das zu verweisen, was Montaigne uns geschenkt hat. Was hat er uns geschenkt? Und warum ist es wichtig, immer wieder daran zu erinnern? Nun, das versuchen wir in diesem Versuch zu zeigen.


Montaigne-Renaissance

Es ist schon erstaunlich, daß – neben einer Vielzahl von kommentierten Auswahltexten aus Montaignes Essais – vor kurzem beinahe zeitgleich zwei sorgfältig recherchierte Bücher über das Leben und Werk Michel des Montaignes erschienen. In beiden Büchern geht es um die ‹Fragen des Lebens›. In beiden Büchern wird liebevoll geschildert, wie sich Michel de Montaigne in seinen berühmt gewordenen Turm zurück zog, um in Freiheit und Seelenruhe über das Leben nachzudenken – und seine Denkbewegungen aufzuschreiben. In beiden Büchern wird betont, welchen Wert Montaignes Gedanken gerade heute für uns haben könnten. Die Renaissance eines Renaissance-Schriftstellers also. Erstaunlich? Ja.

Zwar gab es seit der 1998 erschienenen und oben erwähnten genialen neuen Übersetzung der Essais durch Hans Stilett einen kleinen Run auf eben diese Ausgabe, doch, im Ernst, wer hat die Essais dann tatsächlich gelesen, außer uns?

Und nun, zwölf, dreizehn Jahre später dies. Zunächst Saul Frampton [2] Saul Frampton (2013): Wenn ich mit meiner Katze spiele - woher weiß ich, daß sie nicht mit mir spielt? Montaigne und die Fragen des Lebens. Aus dem Englischen von Hans Stilett. München: Albrecht Knaus Verlag., ein Brite. Er rückt viele wesentlichen Überlegungen Montaignes in den Vordergrund und beschäftigt sich vor allem auch mit Montaignes Reise durch Deutschland und Italien.

Und Sarah Bakewell [3] Sarah Bakewell (2012): Wie soll ich leben? Oder: Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten. Aus dem Englischen von Rita Saß. München: C.H. Beck., eine Britin, zieht aus den Essais zwanzig Antworten auf die eine Frage, die uns alle beschäftigt. Beide Bücher sind sehr lesenswert!


Wofür steht Montaigne?

Doch jetzt müssen wir endlich erklären, wofür denn Montaigne eigentlich steht und wieso er die Frage beantworten kann, wie wir leben sollen. Ok. Fangen wir an.

Zunächst einmal erweist sich Montaigne als überzeugter Anhänger des Skeptizismus. Max Horkheimer sagt:
«Die Philosophische Skepsis setzt bei Montaigne ... einen weiten Horizont voraus. Sie ist das Gegenteil der Engstirnigkeit. Ihr Stil ist die Beschreibung, nicht die Theorie.»
So ist es. Michel de Montaigne liest und liest und er verläßt sich nicht auf das, was er gelesen hat. Er zieht keine voreiligen Schlussfolgerungen, er entscheidet sich nicht für eine Seite von was auch immer. Er sagt:
«Die Einsicht in unsere Unwissenheit ist das schönste Zeugnis sicherer Urteilskraft.»

«Ich lasse meine Urteilskraft von keiner Partei infizieren.»

«Besser unentschieden bleiben, als einem Prinzip verfallen, auch nicht dem meinen.»
Ist das nicht erstaunlich? Und natürlich wendet er sich gegen den scheinbaren Objektivismus, gegen eine scheinbare Gewißheit.

Und durch das Lesen verschiedenster Werke aus den verschiedensten Kulturen und Epochen, nähert sich Montaigne einem kulturellen Relativismus, einem Kontextualismus. Klar, seine Überlegungen und Aufzeichnungen waren gleichzeitig auch die Begründung des Strukturalismus, der heute als Poststrukturalismus daher kommt und das Scheitern der Welterkenntnis durch Sprache skizziert.

Montaigne sagt, daß alles, was Menschen tun und sagen, in sozialen Räumen und in narrativen Kontexten spielt. Als Kulturinsassen ihrer eben jeweiligen Kultur können Menschen nur Sinn schaffen, wenn sie sich innerhalb der Konventionen eben dieser Kultur bewegen.
«Man gewöhnt uns geistig so sehr an Leitseile, daß wir gar nicht frei gehen können.»
Wenn wir das annehmen, führt das unmittelbar dazu, nicht eine, und schon gar nicht die eigene Kultur, als überlegen anzusehen und auf andere Weisen der Welterzeugung herabzusehen.

Im Kapitel 31 ‹Über die Menschenfresser› schreibt Montaigne zum Beispiel dies:
«Nun finde ich […] daß […] die Eingeborenen in jener anderen Welt nichts Barbarisches oder Wildes an sich haben, oder doch nur insofern, als jeder das Barbarei nennt, was bei ihm ungebräuchlich ist – wie wir ja in der Tat offensichtlich keine andere Messlatte für Wahrheit und Vernunft kennen als das Beispiel und Vorbild der Meinungen und Gepflogenheiten des Landes, in dem wir leben: Stets findet sich hier die perfekte Religion, die perfekte Staatsordnung, der perfekteste Gebrauch der Dinge.»
Wie leicht ist es doch für Politiker und andere dumme oder böse Menschen, sich dieser Erkenntnis zu bedienen und dem Stimmvieh immer wieder die Überlegenheit des eigenen kapitalistischen Weltentwurfs zu erzählen und dabei mit Hilfe von Schmierlappenzeitungen auf die Minderwertigkeit anderer Entwürfe zu verweisen. Wir sind wir! Wie wahr. Und das Andere, das Fremde muß schlechter sein. Deswegen müssen die Fremden auch etwas bezahlen, wenn sie über unsere Autobahnen fahren wollen. Merken Sie, liebe Leserin, wie schlicht das gestrickt ist? Und doch wie wirksam?

Doch fahren wir lieber fort, denn Kontextualismus und Relativismus führen Montaigne ohne Umwege in den angenehmen Garten des Konstruktivismus. Montaigne sagt:
«Wären aber die Dinge wirklich das, für was wir sie halten, so müßten alle Menschen sie gleich empfinden.»

«Unsere Meinungen von den Dingen quälen uns, nicht die Dinge selbst.»

«Uns genügt das eigene Gemüt als Spielverderber.»

«Wenn das, was wir Übel und Qual nennen, für sich genommen weder Übel noch Qual ist, sondern allein durch unsere Phantasie dazu gemacht wird, steht es bei uns, es zu ändern.»
Sollte der letztere Aphorismus der Beginn einer postmodernen systemtheoretischen Psychotherapie gewesen sein? Ja.

Wir können Montaigne aber auch dafür verantwortlich machen, daß er nicht nur der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› zeigen konnte, wie wichtig die ‹Rückkehr zum Mündlichen› (zur Narration als wissenschaftlicher Methode), die ‹Rückkehr zum Besonderen› (zum Einzelfall, zur biographischen Studie als wissenschaftlicher Methode), die ‹Rückkehr zum Lokalen› (zur Berücksichtigung des jeweiligen sozialen Raumes, des kulturellen Eingebunden-Seins von Forscherin und Erforschtem) und die ‹Rückkehr zum Zeitgebundenen› (zur Einsicht, daß alle Befunde aus einer bestimmten Zeit stammen und für diese gelten mögen) war und ist. [4] Stephen Toulmin spricht in seinem wunderbaren Buch von 1991 (Kosmopolis - Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp) von diesen vier Aufgaben zur Wiederherstellung einer praktischen Philosophie. All dies einem ‹Naiven Realisten› oder gar einem ‹Neuen Realisten› verständlich zu machen, dürfte nur schwer möglich sein. Wir kommen in einem weiteren Essay darauf zurück.

Das genaue Hinsehen im Bewußtsein Beobachter zu sein mit all seinen kulturellen Eingebundenheiten, die Zuwendung zum realen Leben, das Zuhören können, die Eleganz einer ‹Wirklichkeitsprüfung›, all das ist weit weg von den scheinbar ‹objektiven› Diagnosen etwa in Medizin und Psychotherapie in der Spätmoderne, weit weg von Zahlen und seltsamen Diagnose- und Therapiemanualen, in denen der einzelne Mensch mit seinem biographischen Gewordensein keine Rolle spielt.

Montaigne steht für Toleranz und Humanismus. Das war im 16. Jahrhundert ungewöhnlich, und es ist heute ungewöhnlich. Wer heute Kommentare und Forenbeiträge etwa zu Flüchtlings-Themen liest, kann ob der Intoleranz, der Inhumanität, ja, der Menschenverachtung der Schreiber nur erschüttert sein.


Finale

Schließen möchten wir mit einem Zitat von Stephen Toulmin [5] Stephen Toulmin, ebenda: Seite 15., denn schöner und besser kann man es nicht ausdrücken:
«Bei der Wiederaneignung der humanistischen Tradition geht es nicht nur um unsere politische und kulturelle Zukunft. Ein besserer Ausgleich zwischen der abstrakten Exaktheit, die in den physikalischen Wissenschaften nötig ist, und der praktischen Weisheit, die für Gebiete wie die klinische Medizin typisch ist, kann auch persönlich von Bedeutung sein. Wenn wir einmal am Himmelstor ankommen und die Möglichkeit erhalten, unsere ewige Wohnung auf derselben Wolke wie Rabelais, Shakespeare und Montaigne zu nehmen, dann werden, so meine ich wohl, nur wenige verlangen, statt dessen auf ewig bei René Descartes, Isaac Newton und den exact denkenden, aber seelisch trüberen Genies des 17. Jahrhunderts einquartiert zu werden.»
Finis.



Ins Netz gestellt am 8. Oktober 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.