BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Konstruktivismus, Modellierung und Datenanalyse: Ein fiktives Gespräch»
von Christian Hennig
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Wloz: Ich begrüße heute abend hier Snug und Lewb, die über «Konstruktivismus, Modellierung und Datenanalyse» sprechen wollen. Meine beiden anderen Gäste, Tela und Parn, haben bislang nicht viel Kontakt mit konstruktivistischen Ideen gehabt. Ich denke, wir werden zunächst versuchen zu klären, was «Konstruktivismus» überhaupt ist.

Lewb: Wir haben uns ein paar einführende Sätze zurechtgelegt. Allerdings sind sich unsere Erfahrung und unsere Interpretation der konstruktivistischen Ideen darin einig, dass wir mit unseren Erklärungen nur eine grobe Richtung vorgeben können, wohin die Reise geht. Wir wollen nicht verschweigen, dass es unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was «Konstruktivismus» bedeuten soll. Snug und ich präsentieren unsere zwei persönlichen Varianten. Wie wir wird letztlich jeder sein Bild von der Sache selber konstruieren – wenn er denn entscheidet, dass der Konstruktivismus ihm etwas zu bieten hat. Für diesen Fall wird es jedenfalls einige Literaturhinweise geben. Der Begriff «Konstruktivismus» wird im Übrigen auch verwendet in der Malerei und in der Diskussion über die Grundlagen der Mathematik [1]  Bezüglich der Mathematik scheint es Anknüpfungspunkte zu geben. Interessant ist dafür der Artikel Kann die Untersuchung der Grundlagen der Mathematik uns etwas über das Denken verraten? von G. Stolzenberg in P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, Piper, München 1991, eine vielseitige konstruktivistische Textsammlung, die zum Einstieg sehr empfehlenswert ist.. Dort geht es aber jeweils um ganz andere Fragen.

Snug: Die Grundidee des Konstruktivismus ist einfach: Wir haben Zugang zur Welt nur durch Beobachtungen. Das Wort «Beobachtungen» meint natürlich alle Sinnesorgane, nicht nur die Augen. Und es gibt keine Beobachtungen ohne Beobachtende. Jede Beobachtung ist von der Beobachterin abhängig. Wir gehen weiter und behaupten: Jede Beobachtung wird von den Beobachtenden hergestellt.

Parn: Du willst sagen: Das, was beobachtet wird, spielt gar keine Rolle? Meine Realität entsteht nur in meinem Kopf?

Tela: Ich habe hier eine Kaffeetasse in der Hand. Darüber sind wir uns einig, nicht wahr? Wenn ich diese Kaffeetasse loslasse, wird sie herunterfallen. Darüber sind wir uns doch auch einig? Das wäre doch ein erstaunlicher Zufall, wenn es so wäre, wie Snug sagt: Wir stellen zufällig diese Kaffeetasse im selben Moment her. Wenn ich sie loslasse, stellen wir alle zufällig gleichzeitig her, dass sie herunterfällt. Oder leugnet ihr gar die Existenz der Kaffeetasse?

Lewb: Wir sagen tatsächlich: Wenn niemand die Kaffeetasse beobachtet, ist sie nicht Bestandteil von irgendjemandes Wirklichkeit. Insofern gibt es sie dann nicht.

Wloz: Ich notiere einen ersten Aspekt des Konstruktivismus: Es gibt keine Beobachter-unabhängige Entscheidung über Realität. Jedes Lebewesen ist prinzipiell autonom in der Konstruktion seiner Wirklichkeit.

Lewb: Ja. Das ist kein Widerspruch dazu, dass ich über die Realität deiner Kaffeetasse mit dir einig bin. Und ich stelle mir – wahrscheinlich ebenso wie du – vor, dass die Kaffeetasse in deiner Hand existiert, herunterfallen wird, wenn du sie loslässt, und dass, wenn wir den Raum verlassen und die Tasse aus den Augen verlieren, jeder, der später wieder hereinkommt, die Scherben finden kann. Es sei denn, sie wurden professionell beseitigt. Ich glaube ebenso wie ihr an eine gegenständliche Welt außerhalb von mir. Sie ist Bestandteil meiner Wirklichkeit. Insofern spielt es in meiner Vorstellung durchaus eine Rolle, was beobachtet wird. Aber welche Rolle es spielt, kann niemand beobachten. Es macht gar keinen Sinn, darüber zu streiten, ob unabhängig von uns eine Kaffeetasse tatsächlich da ist und wie sie beschaffen ist, denn das hat auf niemandes Beobachtungen irgendwelche Konsequenzen.

Snug: Ich finde dieses Beispiel nicht besonders interessant. Wir sind uns einig über die Kaffeetasse, aber das ist kein Zufall. Du triffst eine Positivauswahl, Tela: Du wählst ein Beispiel aus, worüber wir uns nach aller deiner Erfahrung einig sind, und tust dann so, als sei diese Einigkeit erstaunlich. In bestimmten Kulturen reden Leute über «deutsche Identität», «genetische Bedingtheit von Aggression», «Erbsünde» oder «Wahrscheinlichkeit» ebenfalls so, als sei man sich völlig darüber einig. Über einige dieser Dinge sind wir uns aber vielleicht nicht einig, und ihr mögt ernsthaft daran zweifeln, ob die angesprochenen Phänomene «in Wirklichkeit» überhaupt existieren. Bei der Kaffeetasse sind wir diesen Gedanken nicht gewöhnt, und es findet sich, falls deine Positivauswahl gelungen ist, hier niemand, der ihn vertreten mag. Ein Fakir könnte das anders sehen. Aber was hilft es, wenn ihr ihm nicht glauben würdet? Bei «deutscher Identität» hat der Glaube, dass es so etwas Beobachter-unabhängig gibt, offenbar eine Menge Konsequenzen.

Lewb: Du meinst: Nicht die Beobachter-unabhängige Existenz hat Konsequenzen, sondern der Glaube daran. Die Rede von der Objektivität hat Folgen.

Snug: Genau, die Beobachtungen sind nicht hintergehbar. Gut, wir können beobachten, dass wir uns einig sind. Wissenschaftlerinnen berichten über «kontrollierte, wiederholbare» Beobachtungen zur Schwerkraft und anderen Naturgesetzen. Daraus folgern sie, dass es diese Phänomene auch unabhängig von Beobachtungen gäbe. Diese Vorstellungen haben die Ideen zu vielen Konstruktionen geliefert, Elektrogeräte, Atombomben usw. Aber die Rede von der wissenschaftlichen Objektivität ist auch wesentlicher Teil einer Geschichte der Intoleranz gegenüber den Leistungen anderer Kulturen. [2] Dieser Aspekt ist an vielen Stellen Thema von P. Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Suhrkamp 1980 und Wider den Methodenzwang, Suhrkamp 1986. Andere Wissenschaftlerinnen [3] Z.B. H. R. Maturana und F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Scherz, Bern 1987. H. von Förster, Wissen und Gewissen hrsg. von S. J. Schmidt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1994. berichten über wissenschaftliche Beobachtungen, die belegen, dass die Konstruktion von Beobachtungen durch das menschliche Nervensystem selbstbezüglich sei und nichts über die Natur des Beobachteten voraussetze. Man kann sich für oder gegen diese Vorstellungen entscheiden, aber prinzipiell beweisen Beobachtungen nichts, außer dass jemand sie gemacht hat.

Tela: Ich bin noch nicht zufrieden. Bis auf weiteres gilt für mich, dass es die Kaffeetasse «da draußen» gibt und sie tatsächlich dem objektiven Gesetz der Schwerkraft unterliegt. Ihr habt noch keine bessere Erklärung unserer Einigkeit über die Kaffeetasse gegeben. Man kann nicht frei darüber verfügen, ob man die Tasse konstruieren will. Es ist doch so: Wenn ich dahin fasse, fühle ich die Tasse, ob ich will oder nicht. Ich sehe da keine «prinzipielle Autonomie».

Wloz: Lewb, wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es ein Missverständnis über den Konstruktivismus, seine wesentliche Botschaft bestünde darin, dass Konstruktionen beliebig seien, und dass es «eigentlich» alle möglichen Dinge nicht gäbe.

Lewb: Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt sie, weil wir sie konstruieren. Das Wort «wir» ist hierbei ganz wichtig. Die Beobachtung einer Kaffeetasse setzt Sprache voraus, und Sprache entsteht durch Kommunikation. Ich brauche Sprache, um zu beobachten, dass jemand anders eine Kaffeetasse beobachtet hat, und sogar, um zu merken, dass ich sie selber beobachtet habe. Heinz von Förster [4] Im Aufsatz «Über das Konstruieren von Wirklichkeiten» in Wissen und Gewissen, s.o., der im Übrigen eine gute kurze Einführung in die konstruktivistische Konzeption gibt. formuliert sogar «Wirklichkeit = Gemeinschaft». Die Gemeinschaft gibt die Bedingungen vor, unter denen konstruiert wird. Ihre Sprache und die in ihr verankerten Vorstellungen sind Voraussetzungen für die Konstruktionen des Einzelnen. Er ist nur im Grundsatz autonom. Freiheit bedeutet nichts ohne Möglichkeiten, sie auszufüllen. In unserer Gesellschaft wird auf ganz bestimmte Art mit Schwerkraft oder Kaffeetassen umgegangen. Das lernt ein Mensch normalerweise, und daher macht er sich einen Begriff von «Schwerkraft», der mit dem der meisten anderen Leute kompatibel ist. Er hat keinen Anlass, der Schwerkraft oder der Kaffeetasse andere Eigenschaften zuzusprechen, als das üblicherweise getan wird. So wird er das einfach mitmachen, so lange er nicht starke Gründe erfindet, davon abzuweichen. [5] Aus diesem Grund bezeichnet die Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung in ihrer bisweilen wunderbar polemischen Arbeitspapier-Reihe (Bochum 1990–1998) Menschen als «kommunal definierte Skript-Amöben». Denn wenn er etwas anderes täte, bekäme er schnell Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen. Insofern sind seine Konstruktionen nicht beliebig.

Parn: Das klingt so, als würde der Gruppendruck die Leute zwingen, die Gegenstände anzuerkennen. Dabei tut das doch schon der eigene Körper.

Snug: Die Kommunikation beginnt so früh, dass man das gar nicht unterscheiden kann. Wie beginnt ein Mensch, sich seine Wirklichkeit zu konstruieren? Er wird geboren und ist zunächst körperlich total abhängig. Das Baby verfügt über bestimmte Reflexe, aber über keinerlei Begriffe und Gegenstände. Auf den Weg dahin, einen Gegenstand richtig benennen und behandeln zu können, wirkt die Gesellschaft in Person der Eltern entscheidend ein. Das Kind lernt ein Wort und probiert damit herum. Es benennt zum Beispiel Katzen als «Katze», aber auch Hunde, Sportwagen und Küchenhocker. Die Eltern korrigieren mehr oder weniger geduldig, bis das Kind das Wort «Katze» «korrekt» verwendet und mit Katzen auf die richtige Weise umgeht. Bevor das Kind so weit ist, muss es jedoch grundlegendere Dinge lernen: Zum Beispiel, dass es so etwas wie «Objektkonsistenz» gibt. Das Kind muss die wiederkehrende Verwendung von Worten in unterschiedlichen Situationen enträtseln. Daran muss nichts angeboren sein. Doch das Kind ist darauf angewiesen, das in für die Eltern akzeptabler Weise zu tun, denn es ist abhängig. [6] Mit der Entwicklung kognitiver Strukturen bei Kindern hat sich vor allem J. Piaget befasst, der als Vorläufer konstruktivistischer Ideen gilt. Zum konstruktivistischen Diskurs über Piaget siehe G. Rusch und S. J. Schmidt, DELFIN 1994: Piaget und der Radikale Konstruktivismus, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1994. Der DELFIN ist eine jährlich erscheinende Buchreihe, die sich jeweils mit einem Schwerpunktthema aus dem konstruktivistischen Umfeld beschäftigt. Einige wenige Kinder tun das nicht, und sie werden dann als pathologische Fälle behandelt. Man gesteht ihnen das Recht nicht zu, abweichende Konstruktionen zu machen.

Parn: Aber ansonsten könnten sie das auf beliebige Weise tun?

Lewb: Das wäre wieder eine Frage nach einer Wirklichkeit, die es nicht gibt. Wir erleben kein «ansonsten». Offenbar ist diese Art der Wirklichkeitskonstruktion kommunikativ, und sie hat ganz direkte körperliche Konsequenzen. Wir lernen nicht nur zu reden, sondern auch zu fühlen und zu handeln, und zwar gleichzeitig. Wir lernen Begriffe, indem wir sie mit bestimmten Handlungen und Gefühlen verbinden. Gleichzeitig brauchen wir die Begriffe, um uns unserer Handlungen und Gefühle bewusst zu werden. Wenn unsere Handlungen und unsere Begriffe auf stabile Weise zusammen passen, haben wir eine stabile Realität konstruiert.

Snug: Ernst von Glasersfeld [7] E. von Glasersfeld, «Untersuchungen zum Zahlbegriff» in Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Vieweg, Braunschweig 1987, das auch einen Abschnitt über «Lernen als konstruktive Tätigkeit» enthält. erläutert das am Beispiel des Zahlbegriffs. Kinder lernen normalerweise zuerst, die Zahlworte von «Eins» bis «Fünf» mit verschiedenen Mustern zu verbinden, zum Beispiel die «Drei» mit den drei Eckpunkten eines gleichseitigen Dreiecks. Dann lernen sie, meist unabhängig davon, die Zahlworte in der richtigen Reihenfolge aufzusagen, also zu zählen. Wenn sie auf die Idee kommen, die Elemente der gelernten Muster zu zählen, stellen sie fest, dass sie durch die Zählung auf dasselbe Wort kommen, d.h. dass ihre Handlung zum Begriff passt. Von Glasersfeld interpretiert, dass dieser Moment der Entdeckung, auf zwei verschiedene Weisen zum selben Begriff zu kommen, für die Konstruktion einer Vorstellung von «Zahl» ganz wesentlich ist. Das Kind beginnt nun zu vertrauen, dass die gelernte Verwendung der Begriffe auch außerhalb der konkreten Lernkontexte funktioniert. Dieses Vertrauen wird natürlich dann immer wieder bestätigt, da die Gesellschaft die Begriffe entsprechend hergestellt hat.

Lewb: Das funktioniert offenbar nicht beliebig, die gesellschaftlichen Vorgaben müssen eingehalten werden, um gesellschaftliche Probleme zu vermeiden. Der Konstruktivismus berührt aber die Frage nicht, ob es tatsächlich Beobachter-unabhängige Grenzen für diese Vorgaben gibt. Das kann schon sein. Wir können uns vorstellen, dass bestimmte Konstruktionen einfach nicht möglich sind. Zum Beispiel, sich vor ein heranfahrendes Auto auf die Straße zu werfen und unverletzt zu bleiben. Von Glasersfeld [8] In «Anpassung und Überlebensfähigkeit», s.o. erfand den Begriff der Viabilität. Offenbar scheitern bestimmte Konstruktionen; die heißen dann «nicht viabel». Aber: Wer entscheidet, ob Konstruktionen scheitern? Das Individuum selbst oder die Gesellschaft, nicht jedoch eine objektive Realität. Das sieht man schon daran, dass es bisweilen Uneinigkeit über die Viabilität von Vorstellungen gibt. Nicht jeder Mensch, der in der Psychiatrie landet, hält sich selber für krank oder seine Erfindungen für nicht viabel. Hier beobachten wir zunächst, dass es einen Konflikt gibt. Jeder von uns, der im Umfeld eines solchen Menschen lebt, kann seine eigene Entscheidung darüber treffen, ob und wie die Gesellschaft mit diesem Menschen und er mit sich selber klarkommen kann. Aber als Konstruktivistinnen nehmen wir für derartige Entscheidungen keinerlei Objektivität an. Es geht darum, die Situation kommunikativ auszuhandeln.

Wloz: Ich notiere einen zweiten Aspekt des Konstruktivismus: Der Mensch macht seine Konstruktionen in abhängiger Kommunikation mit seinem Umfeld. Ich denke, wir haben einen Abschnitt erreicht.

Tela: Ich fasse zusammen: Der Mensch ist in gewisser Weise frei und in gewisser Weise abhängig. Das scheint mir keine besonders aufregende Entdeckung zu sein. Was liefert die konstruktivistische Sichtweise Besonderes?

Snug: Ich habe ein kleines Modell gezeichnet, das verdeutlichen soll, wie wir uns das mit der Konstruktion durch Kommunikation vorstellen, mit Abhängigkeit und Freiheit. Ich hoffe, ihr seht wie ich zwei Gestalten. Diese Gestalten kommunizieren, und wir beobachten, dass sie sich in ihrer Kommunikation einig über ihren Zustand sind. Sie konstruieren gemeinsam eine Realität. Wir können uns weiterhin vorstellen, dass beide in ihrem Kopf möglicherweise nicht genau das denken, was sie gerade sagen und tun. Was genau sie aber denken, ohne es zu sagen, können wir nicht beobachten. Wir können also ihre Kommunikation beobachten, nicht aber ihre «eigentlichen» persönlichen Konstruktionen. Auch hier sind die Beobachtungen nicht hintergehbar.

Ein kleines Modell

Parn: In deinem Modell sehe ich an dieser Stelle diffuses Gekrakel, und die anderen sehen das wohl auch. Ich stelle mir zunächst vor, dass die Gedanken tatsächlich ungefähr der Kommunikation entsprechen, und das finde ich falsch wiedergegeben.

Tela: Was soll das mit der Sache zu tun haben? Das ist doch kleinkrämerisch.

Snug: Ich finde den Einwand sinnvoll, denn an dieser Stelle beginnen wir, über Modelle zu reden. Das ist für mich viel interessanter als Kaffeetassen.

Wloz: Ich notiere: Eins: Das Modell ist Bestandteil unserer Wirklichkeit, zwei: Wir stellen uns daneben eine andere Wirklichkeit vor, auf die sich das Modell bezieht. Wir sollten diese Wirklichkeit im Folgenden «Wirklichkeit I» nennen. Parn findet diese Wirklichkeit I anscheinend nicht adäquat wiedergegeben.

Lewb: Snug hat ein Symbol benutzt, das bedeuten soll: «Wir können uns vorstellen, dass da etwas ist, ohne dass wir wissen, was.» Mir gefällt das. Es stellt einen deutlichen Unterschied her zu «Wir denken nicht einmal darüber nach, was da sein könnte» oder auch «Wir können genau beobachten, was sie denken». Das Modell wäre kein Modell, wenn es nicht von dem, was es modellieren soll, unterschieden wäre [9] «Die Karte ist nicht das Territorium». Einleuchtende Beobachtungen wie diese, und die Konsequenzen ihrer ständigen Missachtung sind Thema des ersten Kapitels von G. Bateson, Geist und Natur, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992, das (fast) jede Konstruktivistin liebt.. Und dieser Unterschied erfüllt einen Zweck: Snug reduziert unsere Gedanken über die Gedanken der Gestalten auf den Punkt, der für ihn wesentlich ist.

Parn: Wir müssen nur aufpassen, dass das Modell trotz aller Symbolik und aller Auslassungen so relitätsgetreu bleibt, dass es leisten kann, was es soll.

Snug: Das Modell soll die Idee verdeutlichen, dass Wirklichkeit kommunikativ erzeugt wird, und was wir davon beobachten können. Es geht also darum, meine damit verbundene Vorstellung und meine Beobachtungen so darzustellen, dass sie für euch eingängig sind. Mir reicht, für dich verständlich zu sein. Ich will nicht unbedingt deine Realität genau treffen. Ich bemühe mich, die Modellelemente so genau zu interpretieren, wie ich sie mir gedacht habe. Es geht mir zunächst darum, dass wir darüber einig sind, was das Modell zeigen soll. Danach allerdings ist die Frage interessant, ob ihr eure Beobachtungen mit dem Modell vereinbaren könnt. Das wäre meine Interpretation von «realitätsgetreu». Darauf gibt es vielleicht mehr als eine Antwort.

Wloz: Ich beobachte: Snug gibt einen Modellzweck an, der ein anderer ist als «die Realität zu treffen». Lewb begründet einen Unterschied zwischen Modell und Wirklichkeit I. Parn mahnt eine Verbindung zwischen Modell und Wirklichkeit I an. Ich verstehe Snug so, dass er auch noch unterscheidet in «Snug Wirklichkeit I», «Parn Wirklichkeit I» usw.

Snug: Genau. Ich kann nicht davon ausgehen, dass alle unsere Wirklichkeiten I bezüglich des zu modellierenden Phänomens dieselben sind. Inwiefern das der Fall ist, muss die Modelldiskussion klären.

Wloz: Ich denke, wir können nun mit der Modellbeschreibung fortfahren.

Snug: Im Hintergrund sehen wir ein Atomkraftwerk und eine Blume. Ich habe diese Dinge gestrichelt. Das soll nicht heißen, dass sie nicht da wären. Ich stelle mir vor, dass wir sie sehen können und dass wir auch die Einigkeit der Gestalten beobachten. Die Strichelung soll den Unterschied betonen zwischen den Dingen in unserer Beobachtung und den Dingen in unserer Beobachtung der Kommunikation der Gestalten. Von unserer Warte aus können wir nicht vollständig sicher sein, ob die Gestalten dieselben Gegenstände konstruieren wie wir. Wir könnten uns aber an ihrem Diskurs beteiligen und sehen, ob Einigung zustande kommt.

Parn: Dafür müssten die Gestalten aber ihre Vorstellungen ändern. In ihrem Diskurs lässt die Blume den Kopf hängen. In Wirklichkeit sieht sie ganz anders aus. Ich denke aber, es ließe sich schnell Einigkeit herstellen. Wir könnten zur Blume gehen, sie zusammen betrachten und befühlen, und die Gestalten würden merken, dass es ihr gut geht.

Wloz: Du glaubst, sie haben einfach falsche Vorstellungen? Sie sind kurzsichtig oder so etwas?

Lewb: Ich wäre da vorsichtiger. Wir können ja nicht beobachten, was sie sich «wirklich» vorstellen. Wir beobachten nur ihren Diskurs. Vielleicht verstehen wir sie ganz anders, als sie sich selbst verstehen. Vielleicht sagen sie: «Wie sich die Blume anfühlt, bringt unser Gespräch jetzt nicht weiter», und sie weigern sich, mitzukommen.

Snug: Mir scheint zunächst, dass wir uns darüber einig sind, was das Modell darstellt. Jetzt können wir weiter gehen und schauen, wie die Wechselwirkung zwischen dem Modell und unseren Vorstellungen, unseren jeweiligen Wirklichkeiten I, aussieht. Die zwei Zustände der Blume habe ich modelliert, um uns einen Anlass zu geben, über Uneinigkeit zu sprechen.

Wloz: Du sagst, wie das Modell unseren Diskurs beeinflussen, unsere Wirklichkeit verändern soll.

Tela: Es könnte doch sein, dass die Gestalten sich mit uns über den augenblicklichen Zustand der Blume einig sind und darüber reden, wie das Atomkraftwerk die Umwelt verändern wird. Dann gäbe es gar kein Uneinigkeits-Problem.

Parn: Dem würde ich nicht zustimmen. Selbstverständlich wird das Atomkraftwerk nicht dazu führen, dass die Blume ihren Kopf hängen lassen wird. Wer so etwas behauptet, ist über die Umweltverträglichkeit von Atomkraftwerken nicht informiert, oder er ist bloß polemisch.

Tela: Die Blume könnte für die Gestalten nur ein Symbol sein für die Umweltprobleme, die die Atomkraft mit sich bringt. Vermutlich würden sich die Gestalten auch darauf mit uns einigen, dass die konkrete Blume nicht wegen des Kraftwerks hängen wird. Letztlich könnte es sein, dass wir doch in allem einig sind, so dass nicht bestritten werden muss, dass die Wirklichkeit für uns alle dieselbe ist.

Parn: Meine Erfahrung ist die, dass das nicht klappt. Leute mit solch einer romantischen naturschützerischen Einstellung zur Kernkraft neigen dazu, halsstarrig zu sein und wissenschaftliche Ergebnisse über die im Vergleich zur Kohle niedrigeren Emissionen und die bessere Umweltverträglichkeit zu übersehen. Stattdessen stürzen sie sich auf alles, was ihr Vorurteil stützt. Von mir aus könnten sie gleich behaupten, die konkrete Blume ließe den Kopf hängen und sich weigern, das nachzuprüfen. Da sehe ich nur einen graduellen Unterschied. Ich kann den Leuten empirische Befunde aus reproduzierbaren Experimenten zeigen, und sie würden es nicht wissen wollen. Ich würde auch nicht bestreiten, dass die Wirklichkeit für uns alle dieselbe ist. Diese Gestalten – und die Konstruktivistinnen – mögen das nicht akzeptieren.

Lewb: Euer Begriff von Wirklichkeit ist nicht unserer. Lasst euch bitte zumindest für heute auf die Verwendung von «Wirklichkeit» für die vom Individuum in Gemeinschaft konstruierte Vorstellung der Welt ein. Ich beobachte, dass Parn offenbar eine andere Wirklichkeit hat als die modellierten Gestalten, vermutlich auch als ich. Parn betont, Recht zu haben, im Gegensatz zu den anderen. Tela wiederum glaubt, dass es bezüglich aller wesentlichen Fragen Einigkeit mit den Gestalten geben könnte. Tela sieht ihren Diskurs so, dass alle dasselbe sehen und damit natürlich Recht haben. Diese beiden Konstruktionen vertragen sich nicht gut. Was euch verbindet, ist aber die Rede vom «Recht haben». Der konstruktivistische Diskurs möchte sich davon befreien. Wir erkennen die Unterschiede an. Darin besteht die «prinzipielle Autonomie». Wir gestehen den Leuten grundsätzlich zu, unterschiedliche Wirklichkeiten zu haben. Um zu Einigkeiten zu kommen, brauchen wir gesellschaftliche oder wissenschaftliche Regeln, die Einigkeit erzeugen, und die es offenbar gibt. Darin besteht die «Abhängigkeit». Wichtig ist, dass Abhängigkeit nicht ohne prinzipielle Autonomie denkbar ist und umgekehrt. Die Regeln sind nie absolut klar und bindend vorgegeben, sie werden unter Beteiligung der autonomen Individuen hergestellt und befinden sich daher immer im Prozess. Andererseits kann das Individuum gar nichts aus seiner Autonomie machen ohne die gesellschaftliche Abhängigkeit.

Snug: Im Modell sind die Gestalten zunächst autonom, sowohl jeweils für sich, als auch zusammen uns gegenüber. Die Pfeile deuten jedoch an, dass ihr gemeinsamer Diskurs ihre Gedanken nicht unbeeinflusst lässt; er beeinflusst ihre Wirklichkeit. Wenn jemand von uns hinzukäme und am Diskurs teilnähme, z.B. Parn mit abweichenden Auffassungen, dann würde ein neuer gemeinsamer Diskurs entstehen. Eventuell würde sich am Ende die Rede aller drei Teilnehmerinnen nahezu gleichen, insbesondere, wenn sie gezielte Schritte unternehmen würden, um Einigkeit herzustellen. Das hängt natürlich davon ab, welches Interesse sie daran haben. Wenn sie voneinander stark abhängig wären – Chef und Untergebene – oder allesamt an eine einheitliche Realität glaubten, gäbe es vielleicht gute Chancen. Ob sich dabei auch die Gedanken annähern, wäre noch eine ganz andere Frage.

Wloz: Wir haben nun einige Zeit über ein konkretes Modell geredet. Ich würde die Runde gerne weiter in Richtung «allgemeine Konsequenzen für Modellierung» lenken.

Parn: Ich komme zurück auf meinen Einwand von vorhin. Vielleicht hätte man den Dissenz zwischen Tela und mir auch klären können, indem man das Modell Realitäts-näher gemacht hätte. Wenn Snug genauer modelliert hätte, was die Gestalten tatsächlich denken, hätten wir entscheiden können, ob sie uns eigentlich widersprechen oder nicht.

Lewb: Du beharrst darauf, dass wir alles tun müssen, um letztlich zu einer Klärung zu kommen, wie das «wirklich ist». Ich bezweifle das. Jede Darstellung von Snug hätte verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen gelassen. Und wenn Snug das Bild nach deiner Auffassung eindeutig gemacht hätte, hättest du dich immer noch darauf zurückziehen können, dass es deiner Vorstellung der Welt, d.h. «Parn Wirklichkeit I» nicht entspricht.

Tela: Wir bestreiten ja nicht, dass die Welt durch das Modell nicht genau getroffen werden kann. Aber wir hätten der Realität, nennt sie meinetwegen «Wirklichkeit I», näher kommen können, wenn es weniger schematische Vereinfachungen gegeben hätte.

Lewb: Wenn Snug detaillierter gezeigt hätte, was die Gestalten denken, hätte sich das Modell von «Lewb Wirklichkeit I» entfernt, denn ich erkenne darin treffend wieder, dass ich die Gedanken nicht beobachten kann, sondern nur den Diskurs.

Wloz: Das Konzept der «Realitätsnähe» von Modellen macht offenbar gar keinen Sinn, wenn es keine Einigkeit über die Wirklichkeiten gibt.

Snug: So sehen wir das. Außerdem war es nicht mein Modellzweck, meine Realität detailliert darzustellen. Ich habe versucht, sie auf die Beobachtungen zu reduzieren, über die wir uns nach meiner Vorstellung einigen konnten: Wir beobachten den Diskurs, wir beobachten die Gegenstände, wir beobachten unter Umständen Differenzen, aber keine Gedanken.

Lewb: Trotzdem finde ich den Einwand von Parn wichtig. Er leutet «Abschnitt 7» dessen ein, was ich Modellablauf einer Modelldiskussion nenne. Dazu gehören für mich folgende Teile:
  1. Präsentation des Modellzwecks
  2. Diskurs über den Modellzweck
  3. Präsentation der Modellvoraussetzungen, d.h. der Vorstellungen, über die die Modellherstellerinnen Einigkeit voraussetzen
  4. Präsentation des Modells
  5. Präsentation der Verbindungen und der Abweichungen zwischen Modell und «Modellherstellerin Wirklichkeit I» sowie Begründung dieser Verbindungen und Abweichungen vor dem Hintergrund des Modellzwecks
  6. Diskurs über die Voraussetzungen (Herrscht Einigkeit? Wird die temporäre Annahme von Einigkeit akzeptiert? Könnte über alternative Voraussetzungen eher Einigkeit erreicht werden?)
  7. Diskurs über Verbindungen und Abweichungen zwischen Modell und den vorhandenen «Diskutantinnen Wirklichkeiten I», Folgen für die Erfüllung des Zwecks aus der Sicht der Diskutantinnen
  8. Diskurs über die bezweckte und vermutete Art der Veränderung von Wirklichkeit durch das Modell in Richtung auf «Wirklichkeiten III»; die «II» reserviere ich für das Modell selbst.
Snug: Diese Liste enthält für mich einige spezifisch konstruktivistische Momente: Unterschiedliche individuelle Wirklichkeiten werden anerkannt. Es wird explizit gesagt, dass an bestimmten Stellen Einigkeit benötigt wird. Der letzte Punkt enthält die Vorstellung, dass wir unsere Wirklichkeit basiert auf den uns zur Verfügung stehenden Beschreibungen herstellen. Ein Modell erweitert oder verändert diese und verändert daher unsere Wirklichkeiten, nicht notwendig nur bezüglich des Modellzwecks.

Wloz: Man könnte den letzten Punkt auch nennen: «bezweckte und vermutete Art der Veränderung der Wahrnehmung und Diskussion der Wirklichkeit», um es so zu formulieren, dass auch weniger vom Konstruktivismus überzeugte Menschen daran etwas finden können.

Parn: Das geht mir etwas zu schnell. Wozu eine solche Liste? Wollt ihr den Wissenschaftlerinnen vorschreiben, wie sie handeln sollen? Wie passt das zusammen mit deren Autonomie?

Lewb: Wir möchten durchaus Einfluss nehmen auf den wissenschaftlichen Diskurs. Ich stelle mir ja nicht vor, dass Wissenschaftlerinnen machen können, was sie wollen. Sie sind Teil der Gesellschaft, insbesondere aber Teil des sozialen Systems Wissenschaft [10] Anlass für mich, auf einen bekannten Vertreter des Konstruktivismus hinzuweisen – jedenfalls meinen einige, dass er dazugehört –, der grundlegende Ideen über soziale Systeme formuliert hat: N. Luhmann, z.B. Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990. und unterliegen deren mehr oder weniger scharfen Regeln. Wenn man beobachten will, wie soziale Systeme gemeinschaftlich Wirklichkeit konstruieren, und wie Abhängigkeiten wirken, kann man versuchen, Regeln der Systeme zu beobachten. Einige Regeln sind explizit formuliert, zum Beispiel im BGB oder Grundgesetz.

Tela: An einige solche Regeln hält sich niemand, und sie sind nicht unbedingt konsistent. Ihr seid ja nicht die Ersten, die Regeln für die Modellierung oder «gutes wissenschaftliches Arbeiten» formulieren. Häufig sind diese von der Praxis weit entfernt.

Lewb: Allerdings. Da wirkt die «prinzipielle Autonomie». Jedes Gesetz kann prinzipiell unterlaufen werden, selbst «Naturgesetze». Das heißt dann «Messfehler». Und trotzdem haben die Regeln einen Einfluss und schaffen eine Wirklichkeit. Das gilt natürlich nicht für alle Regeln in gleichem Maße. Je einiger ein soziales System über eine Regel ist, und je mehr ihr Handeln im Einklang mit dieser Regel ist (was natürlich wieder nur Beobachter entscheiden können), desto stärker wirkt diese Regel. Das beste Beispiel ist die Mathematik. Die Regelung, was in der Mathematik «richtig» und «falsch» ist, durchschaut zwar offenbar nicht jeder, aber man räumt der Regel praktisch unbegrenzte Entscheidungsgewalt ein. Die Menge der Leute, die gegen die mathematischen Regeln verstoßen, setzt sich praktisch ohne Ausnahme zusammen aus Leuten, die ihre Fehler später selber einsehen und Leuten, die sich für inkompetent halten. Wer diese Einigkeit aufkündigt, verlässt die Mathematik. Nicht, weil er «tatsächlich» im Unrecht ist, sondern weil das die gesellschaftliche Konstruktion der Mathematik ist.

Wloz: Ihr sprecht aber auch von «Regeln», wenn sie nicht explizit formuliert sind?

Snug: Ich stelle mir jedenfalls vor, dass es Regeln gibt, die allgemein befolgt werden, ohne dass sie irgendwo verbindlich formuliert sind. Um das zu beobachten, muss ich sie natürlich selbst formulieren. Ein Beispiel für eine solche wissenschaftliche Regel ist: «Man benutzt in der Naturwissenschaft das Wort `ich' nicht, es sei denn, um einen Irrtum zuzugeben.» Der Sinn davon scheint mir zu sein, dass die Verantwortlichkeit der Wissenschaftlerinnen für ihre eigenen Konstruktionen verschleiert werden soll. Diese Regel mag ich nicht. Deshalb setze ich meine Autonomie bewusst ein, um sie zu verletzen. Mir ist aber auch klar, dass meine Abhängigkeit vom System so ist, dass das unter Umständen negative Konsequenzen hat, Ablehnung von Artikeln und dergleichen. Wenn man deswegen aufhört, mir zuzuhören, leiste ich mir einen Bärendienst. Das muss ich mir dabei klar machen.

Parn: Wenn aber eine wesentliche Regel in der Wissenschaft wäre, dass es darum geht, die Wahrheit herauszufinden, und sei es approximativ, was hätten Konstruktivistinnen dann in der Wissenschaft zu suchen? Und wie könnte Lewbs Liste mit den Zielen der Wissenschaft in Einklang gebracht werden?

Lewb: Dieses Problem sehe ich auch. Die von dir vorgeschlagene Regel gefällt mir tatsächlich nicht, und es mag genügend Wissenschaftlerinnen geben, die meinen, sich daran zu halten.

Wloz: Was würde das denn bedeuten, sich an diese Regel zu halten?

Snug: Vielleicht sollte man die Regel eher so formulieren, dass Wissenschaftlerinnen so reden, als ob ihre Aufgabe wäre, etwas über die Wahrheit herauszufinden, und dass vorherige wissenschaftliche Arbeiten so benutzt werden sollen, dass deren Ergebnisse als «bewiesene Wahrheiten» vorausgesetzt werden.

Lewb: Trotzdem fühle ich mich in der Wissenschaft zuhause. Ich bin in dieses System geraten, bevor ich den Konstruktivismus kennen lernte, und es hat mich geprägt. Ich beobachte eine Regel in der Wissenschaft, an die viele glauben, die mir gefällt und mich in der Wissenschaft hält. Leider wird sie häufig missachtet. Sie lautet: «In der Wissenschaft soll alles so weit wie möglich begründet werden und ist so weit wie möglich hinterfragbar.» Dafür gibt es z.B. in der Mathematik machtvolle Regeln. Wissenschaftliche Begründungen sollen so weit wie möglich transparent und nachvollziehbar sein. So stelle ich mir einen Diskussionsstil vor, der mir gefällt.

Snug: Außerdem hat Wissenschaft ein kreatives Potenzial. Die systematische Wissenschaft hat mir zu vielen einleuchtenden Konstruktionen verholfen. Ich bin mit ihrer Hilfe an Denk-Orte gelangt, die ich alleine nicht erreicht hätte. Jedenfalls möchte ich mich am wissenschaftlichen Diskurs so beteiligen, dass ich ihn so weit wie möglich in Richtung der mir angenehmen Regeln schubse. Ich denke, dass das geht, indem wir anfangen, in unserer Weise über Modelle zu reden. Zum Beispiel, indem wir den Diskurs über «objektive Realitäten» beenden.

Parn: Ihr glaubt, dass durch Gerede so viel zu ändern ist? Tatsachen bleiben doch Tatsachen. Es wird euch nicht gelingen, empirisch sauber abgesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse einfach wegzureden.

Lewb: Wie man es nimmt. Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, dass die Sprache in der konstruktivistischen Sicht wesentlich ist für die Konstruktion von Wirklichkeiten. Wir können uns zum Beispiel darauf einigen, wie Pawlows Experiment abgelaufen ist, mit dem Hund, dem der Speichel im Mund zusammen läuft, wenn er nur die Glocke hört – nachdem er vorher daran gewöhnt wurde, immer die Glocke zu hören, wenn man ihm ein Stück Fleisch gegeben hat. Aber welche «empirisch sauber abgesicherte Erkenntnis» steckt dahinter? In welcher Form kann man ein solches Experiment verallgemeinern? Heinz von Förster [11] H. von Förster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen hrsg. von A. Müller und K. H. Müller, Döcker, Wien 1997 erzählt, dass ein polnischer Wissenschaftler namens Konorski diese Experimente wiederholt hat mit dem Unterschied, dass er, als dazu übergegangen wurde, dem Hund kein Fleisch mehr zu geben, außerdem den Klöppel der Glocke entfernt hat. Dem Hund lief wieder der Speichel im Mund zusammen. Ich meine, dass die Wirklichkeit der meisten Leute hier – und auch die von Pawlow nach seiner eigenen Beschreibung – darin bestanden hat, dass «der Hund auf das Läuten der Glocke konditioniert» wurde. Dahinter steckt unsere sprachlich formulierte Assoziation «Läuten» mit «Glocke», weiter nichts. Die Konnotation des Wortes «Glocke» sorgte dafür, dass Pawlow eine bestimmte Eigenheit daran bemerkenswert fand, nämlich das Läuten. Konorski und sein Hund hatten dazu offenbar andere Vorstellungen.
Jetzt gehe ich weiter: Das Phänomen der Konditionierung kann man ja sowohl mit Pawlows, als auch mit Konorskis Experiment begründen. Wenn von «empirisch sauber abgesicherten Erkenntnissen» geredet wird, scheint es selbstverständlich, welche Konsequenz aus den Experimenten gezogen werden muss, und diese Konsequenz wandert in die allgemeine Vorstellung. Wir können nun sehen, d.h. wir stellen die Wirklichkeit her, dass der menschliche Körper auf bestimmte Reize konditioniert wird. Diese Beschreibungsfigur kann ich dann immer benutzen, wenn ich ein Phänomen beobachte, dass für mich einigermaßen damit übereinstimmt. Und jedes Mal stelle ich mir vor, dass die grundlegende Theorie dadurch bestätigt wird, obwohl ich selbstverständlich nicht im wissenschaftlichen Sinne «empirisch sauber» beobachte. Dass hat Pawlow ja angeblich schon für mich getan. Wenn ich mir dann ausführlich genug den Wert des wissenschaftlich kontrollierten Beobachtens eingeredet habe, bin ich gar nicht mehr in der Lage, etwas anderes zu beobachten.

Wloz: Also: Meine sprachlichen Beschreibungen bestimmen meine Beobachtungen, also meine Wirklichkeit.

Snug: Im Prinzip ja. Anstelle von «bestimmen» würde ich lieber «beeinflussen» sehen, denn du bist prinzipiell autonom, d.h. die Sprache kann nicht eindeutig festlegen, was du beobachten wirst. Aber bestimmte Möglichkeiten der Beobachtungen werden offenbar von bestimmten Sprechweisen stark favorisiert. Daher ist die Idee, man könne wissenschaftliche Theorien falsifizieren, problematisch. Eine gute Theorie schafft eine Begrifflichkeit, die ihre Bestätigung unterstützt.

Lewb: Ich finde, dass es viel wert ist, anders über Wissenschaft zu reden. Das bedeutet für mich, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, Erfahrungen selber zu machen, anstatt sie zu zitieren, und mehr Möglichkeiten für verschiedenartige Beobachtungen zu bekommen.

Parn: Du hast gerade auch ein wissenschaftliches Ergebnis zitiert. Ganz ohne Rückgriff auf diese Erkenntnisse wirst du nicht auskommen können.

Lewb: Du hast Recht, ja. Ich wollte nicht das Programm aufstellen, jedes Experiment selber zu wiederholen. Dafür reicht ja meine Kapazität nicht aus. Ich bin in der Sprache des wissenschaftlichen sozialen Systems und spiele sein Spiel zu großen Teilen mit. Und ich glaube Herrn von Förster das, was er über Pawlow und Konorski gesagt hat. Wichtig war mir daran, dass von Förster beschrieben hat, welche konkreten Beobachtungen er benutzt hat, und klar begründet hat, was er daran sieht. Dadurch hat er mir eine Erfahrung verschafft – nicht über Hunde und Konditionierung, sondern darüber, wie die vorher vorhandenen Vorstellungen die Beobachtungen verändern. Ich will ja nicht jahrhundertelange wissenschaftliche Arbeit für wertlos erklären. Wichtig ist mir, dass ich die Ergebnisse nicht als bewiesen voraussetze. Ich finde sie vielleicht einleuchtend oder anregend. Wir können uns bei einem konkreten Thema über Voraussetzungen einigen, und es würde unserem Gespräch nutzen, wenn wir das explizit täten. Und wenn jemand die Dinge anders sieht, sage ich vielleicht: «Interessant, begründe mir das.» Oder ich sage: «Interessiert mich nicht.» Das ist meine Entscheidung. Aber ich erkenne auf jeden Fall an, dass man die Sachen anders sehen kann.

Wloz: Es würde Wissenschaft vermutlich langsamer machen, wenn auf konstruktivistische Weise geredet würde.

Snug: Ja, genau. Ich würde mir mehr Aufwand dafür wünschen, sich über die zugrunde liegenden Vorstellungen zu verständigen und zu einigen oder Unterschiede deutlich aufzuzeigen, anstatt so schnell darüber hinwegzugehen, wie das üblicherweise passiert, um immer schneller immer mehr zu wissen.

Tela: Mir ist nicht klar, wie diese schönen Werte in Zusammenhang mit dem Konstruktivismus stehen. Wieso zum Beispiel brauchen Konstruktivistinnen «transparente Begründungen»?

Lewb: Das wollte ich nicht gesagt haben. Nur, dass sie mir gefallen. Folgt eine Ethik aus dem Konstruktivismus? Das ist eine schwierige Frage. Ich finde die Vorstellung nicht besonders konstruktivistisch, dass aus irgendetwas etwas anderes «zwingend folgt».

Snug: Einige Hinweise gibt er aber. Vor allem: «Menschen sind verantwortlich für ihre Wirklichkeiten». Dann sollten sie sich zu dieser Verantwortung auch bekennen, zum Beispiel bei der Modellbildung.

Wloz: Ich denke, diese Andeutungen zur Ethik sollten genügen [12] Mehr zu diesem Thema findet sich z.B. im DELFIN 1995 über Konstruktivismus und Ethik, dem Arbeitspapier 6: Konstruktivismus und Ethik der Bochumer Arbeitsgruppe, s.o., 1988, so wie in K. Reich, Die Ordnung der Blicke (2 Bd.), Luchterhand, Neuwied 1998..

Parn: Ihr habt versprochen, noch über Datenanalyse zu sprechen. Stellt ihr euch darunter immer Zahlen vor?

Snug: Ich denke, wir beschränken uns hier auf Zahlendaten. Das Wort «Daten» wird normalerweise für Informationen benutzt, die Zahlen sind oder sich zumindest als Zahlen codieren lassen: Anzahlen, Messungen, Verhältnisse, oder aber verschiedene Klassen wie «Raucher/Nichtraucher», wo man dann Häufigkeiten betrachten kann.

Lewb: Wir fragen zunächst: «Wie wird im gesellschaftlichen Diskurs über Daten geredet?» Ich beobachte: Zahlen wird dort große Bedeutung eingeräumt. Viele politische Aussagen beziehen sich auf Quantitäten: «Ausländerinnen sind krimineller als Deutsche», «Der Atomausstieg wird für den Staatshaushalt zu teuer», «Die Arbeitslosigkeit steigt».

Tela: Es gibt aber auch viel Skepsis: «Mit Statistik kann man alles beweisen», «Lüge – schlimme Lüge – Statistik».

Lewb: Meine Beobachtung ist, dass solche Zitate in konkreten Debatten als Argumente kaum vorkommen. So etwas wird eher allgemein gesagt.

Wloz: Vielleicht versuchen die Leute auf diese Weise, mit ihrer Hilflosigkeit gegenüber der Statistik umzugehen. Ich glaube nicht, dass man sich mit dem Satz «Statistiken sind ohnehin gefälscht» erfolgreich gegen die Behauptung wehren kann, unter den Straftäterinnen gäbe es doppelt so viele Ausländerinnen wie in der Gesamtbevölkerung. Mit «erfolgreich» meine ich, dass man mit seiner Darstellung auch im öffentlichen Diskurs Gehör findet und Leute überzeugen kann. Wenn man überhaupt eine Chance haben will, sollte man mit einer anderen Statistik kommen, zum Beispiel: «Das liegt daran, dass mehr Ausländerinnen unter dem Existenzminimum leben», und dann berechnen, wie sich der Ausländerinnenanteil an der Bevölkerung unter dem Existenzminimum zu dem in der Kriminalitäts-Statistik verhält. Allenfalls könnte man noch die ursprüngliche Statistik methodischer Mängel bezichtigen, womit man sich aber schnell dem Verdacht aussetzt, kleinlich und oberlehrerheft zu sein.

Snug: Abgesehen davon steht der zweite Weg ohnehin selten offen, weil Leute, die mit Daten argumentieren, kaum je ihre Quellen offen legen. Man erfährt einfach nicht, wie der Ausländerinnenanteil an der Kriminalität präzise berechnet wird und wer ihn berechnet hat. Häufig genug beziehen sich die Leute auf quantitative Untersuchungen, ohne überhaupt Zahlen anzugeben.

Lewb: Es wird so getan, als ob es die richtige Zahl gäbe, man sich an ihr aber vorbeischummeln könne. Diese Idee drücken auch die Statistik-skeptischen Zitate aus, und man liest es so in Statistik-skeptischen Büchern [13] W. Krämer, So lügt man mit Statistik, Campus, Frankfurt/M., 1997. H.-P. Beck-Bornholdt, H.-H. Dubben, Der Hund, der Eier legt, Rowohlt, Reinbek, 1997 – im Gegensatz zu Krämer wird hier immerhin auch der Objektivitätsbegriff der Wissenschaft problematisiert.. Der Diskurs handelt dann davon, wessen Zahl die richtige ist. Einig ist man sich darüber, dass eine Zahl sagt, «wie es wirklich ist».

Snug: Für mich geht es dabei vor allem um ein Abschieben von Verantwortung. Man ist im Diskurs stärker, wenn die «reinen Fakten» einem Recht geben und man nicht sagen muss, man habe sich das alles selber ausgedacht. Wobei ein «Fakt» von der Wortherkunft her ja etwas «Gemachtes» ist.

Lewb: Der Ort, wo die Verantwortung dann liegt, ist meistens unauffindbar. Politikerinnen verweisen auf Fachwissenschaftlerinnen, diese verweisen bezüglich der Gültigkeit ihrer Verfahren auf die Mathematik. Mathematikerinnen wiederum sagen, ihre Ergebnisse seien nur unter gewissen Modellvoraussetzungen gültig, und die Verantwortung, die Ergebnisse trotzdem anzuwenden, läge bei Fachwissenschaftlerinnen und Politikerinnen. Letztlich will häufig niemand die ganze Geschichte der «richtigen Zahl» überblicken. Hauptsache, sie gibt ihm Recht.

Tela: Ihr Konstruktivistinnen werdet nun davon ausgehen, dass es «die wirklich richtige Zahl» nicht gibt.

Snug: Du hast offenbar einiges gelernt.

Tela: Ich spiele den Diskurs mit. Was ich dazu denke, könnt ihr ja nicht beobachten.

Lewb: Also: Wie entsteht eine Zahl? Das Zählen fasst Dinge zusammen, von denen vorher entschieden werden muss, dass sie zusammen gehören. Was ist ein «krimineller Ausländer»? Ganz verschiedene Geschichten, ganz verschiedene Menschen werden in einem Kasten zusammen geworfen. Quantitäten sind gleichgültig gewordene Qualitäten [14] Arbeitspapier Nr. 1: Kritik der herkömmlichen Psychologie in 176 Thesen der Bochumer Arbeitsgruppe, s.o., 1990. Zu zählen heißt eine Menge zu definieren, eine Wirklichkeit zu schaffen. Jemand kann kommen und sagen: Nur die Ausländer unter dem Existenzminimum gehören in dieselbe Menge. Das ist dann eine andere Wirklichkeit.
Ein anderes Thema ist das Messen. Hier muss zunächst eine Prozedur erfunden werden, die eine Zahl, und damit Vergleichbarkeit, herstellt. Früher interessierte beim Wettlaufen nur die Reihenfolge, oder sogar nur der erste Platz. Man spannte ein Band ans Ziel, und wer es zuerst berührte, hatte gewonnen. Dann wurden Stoppuhren eingeführt und man konnte sich mit Leuten messen, die anderswo gelaufen waren. Jünger sind die elektronische Zeitmessung und die Richtlinien über «reguläre Bedingungen». Trotzdem hat jeder Lauf seine eigene Dynamik. Zumindest bei längeren Strecken, zum Beispiel bei der Qualifikation zum Finallauf der Olympiade, ist es nicht unbedingt sinnvoll, nur nach den besten Zeiten zu gehen, auch wenn die Leute in unterschiedlichen Läufen gestartet sind. Stattdessen könnte man die ersten beiden Läufer aus allen Vorläufen nehmen, oder ein Mischsystem. Wer ist letztlich der bessere Läufer? Der Olympiasieger oder der Weltrekordhalter? Man könnte auch sagen: Wer am meisten Spaß am Laufen hat – ich will geteert und gefedert sein, wenn es keine wohldefinierte medizinische Messung dafür gibt, die natürlich kein Mensch für sinnvoll halten muss –, oder wer die wenigsten Chemikalien geschluckt hat und trotzdem durchhält. Auch hier ist die «richtige Zahl» ein Konstrukt, das durch Entscheidungen entstanden und veränderbar ist.
Wir müssen immer selber entscheiden, welche Konstruktionen wir einleuchtend finden. Wichtig dabei ist, dass wir das können, indem uns gesagt wird, auf welche Weise genau gezählt oder gemessen wird. Aber auch an der Herstellung dieser Informationen sind wir beteiligt, indem wir entscheiden, was wir wissen wollen und wie laut wir danach fragen.

Parn: Eure Botschaft könnte also sein: Zählen und Messen wirft zusammen und vereinheitlicht, was nicht vereinheitlicht gehört. Also lassen wir es ganz sein?

Lewb: An dieser Stelle komme ich auf die Modelldiskussion zurück. Für mich hängt es am Zweck. Ich kann mir gute Gründe dafür vorstellen, unterschiedliche Dinge zusammen zu werfen. Ein Freund von mir ist eine Zeit lang häufig nachts mit Magenschmerzen aufgewacht, und sein Heilpraktiker hat ihn gefragt, ob das damit zu tun haben könnte, dass er häufig sehr spät zu Abend isst. Er war sich nicht sicher, weil er zu ganz unterschiedlichen Zeiten zu Abend aß und sich an verschiedenste Situationen erinnerte, auch mal daran, ganz früh gegessen und Magenschmerzen gehabt zu haben. Er fand es einfach unübersichtlich. Also zählte er einen guten Monat lang aus: «spät», beschloss er, heißt «nach 21 Uhr 30 das Essen beendet». In der Nacht, wenn er aufwachte, musste er sich entscheiden, ob er Magenschmerzen hatte oder nicht. Das war nicht immer klar, denn manchmal hatte er nur ein kurzes flaues Gefühl, das sich nach zwei Minuten verflüchtigte. Aber er entschied und bekam heraus: «15 mal spät essen und Magenschmerzen, 2 mal spät essen und keine Magenschmerzen, 3 mal früh essen und Magenschmerzen, 17 mal früh essen und keine Magenschmerzen.» Diese Zahlen waren so deutlich, dass er sich entschied, darauf zu achten, früher zu essen. Trotz aller Willkür, die in seinem Zählverfahren lag. Er wollte die Dinge einfacher haben, unterschiedliche Nächte in dieselbe Kiste werfen, um zu sehen, was für ihn das Wesentliche war.

Parn: Wenn das Ergebnis nun knapper ausgefallen wäre: spät 10/7, früh 8/12? Dann hätte er einen Chi-Quadrat-Test für die Vierfeldertafel anwenden können, oder?

Lewb: Wenn es ihm bei der Entscheidung geholfen hätte. Er hätte auch sagen können: «Selbst wenn da ein signifikanter Unterschied ist, ist er mir zu gering. Das späte Essen kann dann nicht der Hauptgrund sein.» Seine Wahl!

Parn: Na gut. Angenommen, er hätte den Test gemacht. Dann hätte er vorausgesetzt, dass jede Nacht eine unabhängige, identische Wiederholung desselben Zufallsexperimentes ist. Verträgt sich eine solche Annahme denn mit dem Konstruktivismus? So etwas kann man doch gar nicht beobachten.

Lewb: Ich würde nicht sagen, dass er das hätte voraussetzen müssen. Er hätte entscheiden müssen, dass er dieses Modell mit unabhängiger, identischer Wiederholung sinnvoll findet, um eine Entscheidung zu liefern. Der Grund dafür könnte sein, dass er die Abhängigkeiten und Unterschiedlichkeiten unwesentlich findet. Das könnte man dann mit ihm diskutieren. Es könnte ja zum Beispiel sein, dass ein ganz anderer Grund dafür gesorgt hat, dass er 14 Tage hintereinander Magenschmerzen hatte (Abhängigkeit!), gerade in der Zeit, in der er aus dienstlichen Gründen immer spät essen musste. Ein anderer Grund für ihn könnte sein, dass er mit diesem Modell überhaupt die Chance hat, etwas zu berechnen, zu einer Entscheidung zu kommen. Alle diese Dinge können kontrovers sein. Aber wie bereits gesagt: Wir glauben nicht, dass die Diskussion «Stimmt das Modell wirklich?» irgendeinen Nutzen hat – es sei denn, man hätte sich explizit auf eine gemeinsame Wirklichkeit geeinigt.

Wloz: Es gibt von Wahrscheinlichkeitsmodellen ja auch noch die andere Vorstellung, dass sie nicht modellieren, dass irgendwelche realen Sachverhalte identisch und unabhängig wären, sondern dass sie die subjektiven Vorstellungen des Individuums modellieren [15] Die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffe werden aus konstruktivistischer Sicht vorgestellt und diskutiert von C. Hennig, Was ist Wahrscheinlichkeit? Konstruktivistische Überlegungen, Preprint 98-4, Institut für Mathematische Stochastik, Universität Hamburg.. Würde das nicht besser passen?

Snug: Auch bei der Wahrscheinlichkeit denke ich, dass es keine «richtige Vorstellung» gibt. Ich kann mir darunter ein Maß für meine Sicherheit vorstellen oder aber ein Maß für die Tendenz eines Ereignisses, bei häufiger Wiederholung einzutreten. Ich habe gar nichts dagegen einzuwenden, sich letzteres vorzustellen. Aber daraus so etwas wie «Objektivität» abzuleiten, damit kann ich nichts anfangen. Ich hätte mich entschieden, wie ich die Sache sehen will.

Wloz: An dieser Stelle möchte ich mit der Runde gerne zu Ende kommen. Wer mehr wissen will, mag sich mit den Fußnoten beschäftigen.



Erstellt: 10. Oktober 2000 – letzte Überarbeitung: 10. Oktober 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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