BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Über zwei traditionelle Denkfehler der traditionellen empirischen Medizin-Forschung» von Helmut Hansen
Als PDF-Datei laden

Einführung

Vor wenigen Tagen erst habe ich mich einiger kognitiver Belästigungen mit Hilfe des Traktätchen «Worüber befinden eigentlich Forschungsbefunde?» entledigt. Es ist sehr angenehm, sich mit Hilfe des Verfassens kleiner Texte von den geistigen Zumutungen frei machen zu können, die einem in dieser unserer Kultur - unvermutet, aber dennoch in einer schönen Regelmäßigkeit - immer wieder an den Kopf geworfen werden.

Mein Leiden hatte jedoch nach dem Schreiben des obigen kleinen Essays noch kein Ende. Wie wäre es, frage ich mich deswegen oft, ich würde einfach auf Dauer die Augen verschließen? Wäre das nicht eine Lösung und eine große Beruhigung? Nun, «dieser Tag wird kommen», sagt Ethan Edwards zu Martin Pawley in John Fords «The Searchers» von 1956. In der Zwischenzeit versuche ich auch weiterhin, so gut es eben geht, über die Keckheiten und Unarten des wissenschaftlichen Empirizismus hinwegzusehen. Aber gelegentlich funktioniert meine Abstinenzregel nicht. Dann stutze ich und fasse mir an den Kopf.

Diesmal war es eine Untersuchung, die Kari Hemminki vom ‹Deutschen Krebsforschungszentrum› in Heidelberg und Xinjun Li und Kamila Czeneim vom Karolinska Institute im schwedischen Huddinge unter dem Titel «Familial risk of cancer: Data for clinical counseling and cancer genetics» im International Journal of Cancer, Vol. 108, 2004, Seite 109 - 114 veröffentlichten und in der die Aussage strapaziert wird, daß «die Gene» bei mehr Tumorarten eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, als man bisher gedacht habe.

Zwei Gedanken muß ich hier loswerden. Nur eins noch vorweg: Die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Grundprobleme empirizistischer Forschung werden in diesem kleinen Beitrag nicht skizziert. Wenn es Sie, lieber Leser und liebe Leserin, interessiert, was denn ganz grundlegend im Argen liegt bei den traditionellen wissenschaftlichen Bemühungen, uns Wissen über diese Welt zu verschaffen, dann lesen Sie die Arbeitspapiere der Bochumer Arbeitsgruppe und die vielen kleinen wissenschaftskritischen Beiträge im Skepsis-Reservat.


Zur Statistik seltener Ereignisse

In der gerade genannten Untersuchung wurden in einer Sekundäranalyse die Daten von etwa drei Millionen schwedischen Familien (insgesamt waren es Daten von etwa zehn Millionen Menschen) analysiert. In diesem Datenpool nun wurden etwa 5000 Familien gefunden, in denen bestimmte Krebsarten häufiger auftraten. Halten wir schnell fest: 5.000 Familien von 3.000.000, das sind knapp 0,2 Prozent aller untersuchten Familien, also ziemlich wenig.

Um nun statistische Aussagen irgendwelcher Art machen zu können, muß die Bedeutsamkeit der Häufung bestimmter Krebsarten in den 5000 Familien an Hand irgendeiner theoretischen Zufallsverteilung geprüft werden. Daß sich diese Daten mit Hilfe einer Normalverteilung prüfen lassen, darauf wird auch ein wenig begnadeter Forscher vermutlich nicht kommen. Wieso aber sind die Autorinnen verwundert, wenn in 5000 von drei Millionen Familien irgendwelche Indizes gehäuft auftreten? Wird hier eine Gleichverteilung, eine Rechteckverteilung vermutet? Verteilt der Zufall die Indizes in gleicher Weise über alle Familien?

Nein, und hier ist der erste ärgerliche Denkfehler: Die Häufung von Krebsfällen in bestimmten Familien ist ein seltenes Ereignis. Und zur Prüfung dieser seltenen Ereignisse muß eine Zufallsverteilung für seltene Ereignisse herangezogen werden, etwa die Poisson-Verteilung. Und dann wird man sehen, daß bei seltenen Ereignisse genau das obige Ergebnis zu erwarten ist. Noch einmal: Das Ergebnis der Untersuchung war per Zufall zu erwarten. Denn aus dem großen Füllhorn des Zufalls ergießen sich Daten aller Art eben nicht auf alle Menschen in gleicher Weise. Der Zufall klumpt. Der Zufall macht dicke Haufen! Ehrlicherweise müßte man hier also sagen, daß man leider nicht wisse, warum in bestimmten Familien vermehrt Krebserkrankungen zu beklagen sind und in anderen Familien nicht.

Zum besseren Verständnis schnell noch ein anderes Beispiel: Fast alle Leute, die Auto fahren, hatten im Jahr 2003 keinen Unfall, viele hatten einen Unfall, immerhin noch einige wenige hatten zwei Unfälle, ganz wenige drei, und ganz ganz wenige Leute hatten vielleicht acht oder zehn Unfälle. Und nun Obacht: Genau diese Verteilung von Unfällen ist nach einer Zufallsverteilung für seltene Ereignisse, etwa nach Poisson, zu erwarten. Zu glauben nun, daß mit den Mitmenschen, die etwa zehn Unfälle in einem Jahr hatten, irgendetwas nicht stimme, daß sie gar über eine Unfallerpersönlichkeit verfügten, ist Unsinn. Ist das klar?


Was besagt eine Familienähnlichkeit?

Der zweite ärgerliche Punkt in der oben genannten Untersuchung ergibt sich aus der Argumentation, daß die Häufung von Krebsfällen in bestimmten Familien genetischen Ursprungs sein soll. Es ist sehr zu erwarten, daß bestimmte Krankheiten oder Sonderbarkeiten in bestimmten Familien vermehrt auftreten. Nur, warum sollen dafür die Gene verantwortlich sein? Warum dieser Kurzschluß? Was hat eine Familienähnlichkeit mit den Genen zu tun? Oder anders: Warum kommt ein Forscher bei einer gefundenen Familienähnlichkeit nur bis zu dem Gedanken, daß hier «genetische Ursachen» eine Rolle spielen? Gibt es nicht noch andere Ursachen? Plausiblere?

Tja, dieses Denken in biologistischen Zusammenhängen hat eine lange Tradition. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es mal intensive Debatten über die Einflüsse von Anlage und Umwelt auf das soziale Verhalten von Menschen, und es sah für eine kurze Zeit sogar so aus, als lägen die Anhänger einer Umwelt- und Kulturtheorie vorne. Heute aber wird - dank eines immer weiter zunehmenden politischen Konservativismus - das Pendel endgültig auf der Seite der Anlage, der «Gene», des ‹naiven› Biologismus festgehalten, und kaum mehr losgelassen. Das ist eine der Ursachen, warum heute bei Familienähnlichkeiten schlankweg sofort von «genetischen Ursachen» gesprochen wird.

Beispiele für diese Argumentation gibt es genug: Haben etwa die Mitglieder einer bestimmten Familie alle Übergewicht, schon spricht man von den erblichen Einflüssen. Dabei lägen es doch nahe, einfach nur den Hund der Familie zu wiegen, der wird nämlich auch zu dick sein. Und daß da kein genetischer Zusammenhang mit der Familie ist, dürfte vermutlich selbst den hartnäckigsten Biologisten klar sein.

Noch ein beliebtes Beispiel, das in Schulbüchern herumgeistert: Neigen die Mitglieder eines Familienclans zu ungesetzlichen Handlungen, wird ebenfalls sehr schnell von einer erblichen Komponente gesprochen. Die genaue Untersuchung des Milieus, des sozialen Systems erspart man sich lieber dabei.

So sehen wir, daß ein anderer Grund für die stabile Attribution von Familienähnlichkeiten auf «genetische Ursachen» oft darin liegt, daß es wesentlich aufwendiger und komplizierter ist, andere Ursachen für Familienähnlichkeiten zu suchen und zu finden. Bleiben wir bei der Häufung bestimmter Krebsarten in 5000 von drei Millionen Familien. Warum untersucht man nicht die Ernährungsgewohnheiten in den Familien, in denen gehäuft Krebserkrankungen zu beklagen sind? Oder den Medikamentenkonsum? Den Alkohol- und Tabak-Abusus? Die Wohnungseinrichtung? Warum überprüft man nicht, ob unter Umständen Industrieanlagen, Autobahnen oder Atomkraftwerke in der Nähe sind? Warum interessiert man sich nicht für medizinische Untersuchungen und Behandlungen, denen sich auszusetzen eine bestimmte Familie immer wieder gerne bereit ist? Warum fragt man nicht, ob es in dieser Familie beispielsweise üblich ist, alle empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen brav hinzunehmen, mit den damit verbundenen Belastungen durch Röntgenstrahlen oder eine Computertomographie, die ja nun ein mehrfaches an Strahlenbelastung mit sich bringt? Das wäre doch mal eine interessante Hypothese, daß genau diejenigen Frauen Brustkrebs bekommen, die, da sie familiär, also genetisch, als ‹vorbelastet› gelten, sich zwei Mal im Jahr einer Mammographie unterziehen, um dieser ‹genetischen› Vorbelastung entgegen zu wirken. Das wäre doch mal aus dem Leben gegriffen.

Ein Schlußwort? Nein. Finis.


Kommentare:


18. Februar 2004

Lieber Helmut,
es ist schon ein Kreuz mit der Medizin-Forschung. Zunächst einmal sind die Interessen im medizinisch-industriellen Komplex so eindeutig verteilt, daß man sich kaum vorstellen kann, wie Forscher und Forscherinnen hier unbefangen (mit einem Erkenntnisinteresse also, das nach allen Seiten gerichtet ist) an eine Untersuchung gehen können. Zum anderen scheint mir gerade dieser Bereich wissenschaftlicher Forschung von plötzlichen Paradigmenwechseln gezeichnet zu sein. Zuerst macht man es in einer bestimmten Therapie so und so, dann plötzlich ist das ganz falsch. Jahrelang wird in der Chirurgie alles aus- und abgeräumt, dann aber heißt es minimal invasiv vorzugehen. Erst empfiehlt der Hausarzt, bestimmte Medikamente auf Dauer einzunehmen, dann heißt es, lieber doch nicht. Was vorher also wahr und richtig war, gilt mit einem Mal als Kunstfehler. Das ist schon seltsam, aber das scheint der Fortschritt zu sein. Wobei ich bisher noch niemals beobachten konnte, daß die Paradigmenwechsel etwas mit empirischen Untersuchungen zu tun hatten. Mir scheint es eher so zu sein, daß die Untersuchungen nachgeschoben werden, um bestimmte interessengeleitete Paradigmenwechsel, siehe das Eingangsargument, im Nachhinein begründen und plausibel machen zu können. Wobei ja auch nie die Rede davon ist, mit der Einnahme von Medikamenten überhaupt aufzuhören, sondern immer nur davon, ein Medikament gegen ein anderes auszutauschen.

Um es mal ganz polemisch auszudrücken: Der medizinisch-industrielle Komplex kann doch kein Interesse daran haben, daß Menschen gesund sind, oder bleiben. Falls Menschen das wirklich sind, muß man eben ständig neue Gesundheitsbedrohungen erfinden, um auch die ‹gesunden› Leute als Patienten gewinnen und diese auf eine Dauerversorgung mit Medikamenten einstellen zu können.

Was die ‹Behandelten› sich zu der Interessengeleitetheit und den Paradigmenwechseln denken, frage ich mich sehr oft. Zur Zeit denke ich: Glücklich sind diejenigen, die ohne irgendein Nachdenken alles tun, was ein Arzt ihnen vorschlägt. Und das werden fast alle Leute sein. Also sind fast alle glücklich mit dem gegenwärtigen Zustand.

Nur nebenbei, Helmut, hast Du schon einmal über Deine individuelle Versorgung mit ‹Selen› nachgedacht? Wie, noch nicht? Das wird aber Zeit!

Liebe Grüße von
Klara

_______


Lieber Helmut,
es gibt in der medizinischen Forschung auch eine ganze Reihe von Untersuchungen, die nicht auf der Biowelle schwimmen. Natürlich ist bei diesen Studien zu erwarten, daß die Befunde - und die Autoren - umgehend von interessierter Seite kritisiert werden. Besonders beeindruckend finde ich Studien zu iatrogenen Krankheiten, zu Gesundheitsschäden also, die durch ärztliche Einwirkungen verursacht werden. Hier muß sich schon jemand mutig gegen ein schier übermächtiges Imperium stellen.

Gerade als ich mir überlegte, einen kleinen Kommentar zu Deinem Traktat zu schreiben, fand ich ein gutes Beispiel für meine Argumentation in der Süddeutschen Zeitung von heute (18. Februar 2004, Seite 11): Da hat eine Arbeitsgruppe um Christine Velicer ‹festgestellt›, daß Frauen mit einem höheren Antibiotika-Gebrauch häufiger an Brustkrebs erkranken (JAMA, The Journal of the American Medical Association, Band 291, 2004, Seite 827, link zum Artikel: http://jama.ama-assn.org/cgi/content/full/291/7/827). Das ist für die traditionelle Medizin kein schöner Befund. Zum einen möchte man nichts davon wissen, daß medikamentöse Therapien grobe Schäden anrichten, zum anderen könnten Patienten das Vertrauen in ihren Hausarzt verlieren, wenn der ihnen ungerührt bei jeder Grippe Antibiotika verschreibt.

Bei solchen Untersuchungen ist also Gegenwehr des Imperiums vonnöten: «Die Ergebnisse besagen noch lange nicht, daß Antibiotika tatsächlich Brustkrebs verursachen», sagt Dieter Hölzel vom Krebsregister des Tumorzentrums München. Das mußte gesagt werden. Geht in Ordnung. Sowieso. Genau.

Liebe Grüße von
Silke



Erstellt: 17. Februar 2004 - letzte Überarbeitung: 19. Februar 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.