BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (1):
Über das Pädagogische Scheitern» von nele
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«Die pädagogische Revolution... wird dann beginnen,
wenn es genügend junge Lehrer gibt,
die ihre verkrüppelnde Umwelt, die sie beaufsichtigen müssen,
dermaßen verachten, daß sie sie abschaffen wollen.»
(Neil Postman/Charles Weingartner)

«Meine Damen und Herren, diejenigen, die diese Klausurfrage falsch beantwortet haben, sollten sich einmal überlegen, ob der Lehrerberuf das Richtige für sie ist.»

Sie verdreht die Augen, und wenn sie es könnte, hätte sie auch noch die Ohren verdreht. Solche Aussagen machen ihr bei Juristen, Ökonomen und Ingenieuren längst nichts mehr aus, da ist Trivialisierung Alltag. Aber hier: Ein Pädagogik-Professor bei der Arbeit ...

Eigentlich hatte sie sich auf das Pädagogik-Studium gefreut, und anfangs war sie auch hoch motiviert - bis sie merkte, dass es den Dozenten gar nicht um Pädagogik ging, sondern darum, durch möglichst wenig Beziehungsaufwand und ohne soziale Verantwortung ihre Posten zu behalten. Nun sitzt sie in einer langweiligen Vorlesung über Messungen zum effektiven Lernen. Sie versucht sich an die Fragen zu erinnern, mit denen sie das Studium begonnen hatte, aber ihr fallen keine ein. An der Uni lernt man wohl, wichtige Dinge zu vergessen und sich mit unwichtigen herumzuquälen. Es könnte aber auch sein, dass sie absolut falsch liegt und dass in Wirklichkeit sie sich die unwichtigen Fragen stellt. Wer weiß das schon? Wie bekommt man das heraus?

Manchmal sieht sie sich, nachdem sie zehn Jahre im Schuldienst tätig gewesen sein wird. Sie wacht an einem nebligen, verregneten Morgen auf und verflucht – wie so oft - den Erfinder des Weckers. Ihre Augen lassen sich nur mit Mühe öffnen und ihr Mund – sich mit der gleichen Trägheit bewegend – sagt: «Oh nein, nicht schon wieder die 9d Hauptschulklasse.» Sie dreht ihren Kopf zum Fenster und stellt fest, dass das Wetter ihrem inneren Zustand entspricht. Sie schaut und träumt eine Weile. Dann überlegt sie, was sie tun könnte, um die Schüler der 9d so zu konditionieren, dass ein halbwegs vernünftiger Unterricht herauskommt. Mit Noten drohen? Aber was dann? Das Verhalten benoten? Jede Stunde? Zudem müsste sie ja dann denen, die unauffällig sind, ständig Einsen geben.

Je länger sie aus dem Fenster guckt und darüber nachdenkt, wie sie der 9d begegnen soll, desto unsinniger scheinen ihr Noten zu sein. Plötzlich fällt ihr ein, dass sie sich als Pädagogikstudentin immer vorgenommen hatte, Noten zu hassen. Sie erinnert sich daran, wie Dozenten ihr selbst das Lernen und das Leben schwer gemacht haben. Diese schafften nie die Bedingungen dafür, dass Studenten ihren Anforderungen gerecht werden konnten. Und dann verteilten die Dozenten auch noch Noten für das, was sie eigentlich selbst verbrochen hatten. Was sie als Studentin damals also im wesentlichen lernte, war, unselbstständig zu denken. Und dies war zweifellos sehr nützlich, um in Multiple-Choice-Tests oder Definitionsabfragen gute Noten zu erhalten. An der Uni wurden ihr Fakten vermittelt, von Fragen abgetrennte Antworten, die für das alltägliche pädagogische Leben keine Rolle spielten.

So hatte sie als Studentin gelernt, dass ein Studium nur dann gut funktioniert, wenn man irgendeinen ‹Stoff› auswendig lernt, ohne nach tieferen Zusammenhängen zu fragen, ohne Widersprüche zu überdenken und vor allem ohne sich epistemologischen Fragen zuzuwenden. Denn damit konnten Dozenten gar nichts anfangen. Diese hatten aufgehört, sich Gedanken darüber zu machen, was sie einmal gelernt hatten. Sie waren längst angekommen bei der Trennung von Bildung, Lehren und Lernen, und die Universität war für sie eine Selektionsanstalt.

Und an diesem nebligen und verregneten Morgen, an dem sie immer noch nicht aufstehen und ihren Schulalltag beginnen mag, fragt sie sich plötzlich, ob sie auch nun dort angekommen sei: In einer Selektionsanstalt, die sich Schule nennt? Die Frage erschreckt sie, quält sie, sie dreht sich gekrümmt zur Seite, denn es bereitet ihr Magenschmerzen, darüber nachzudenken. Sie sucht Ausflüchte, doch sie findet keine. Ja, auch sie hat es nicht geschafft, den Stein anzustoßen, den sie eigentlich schon längst gefunden zu haben glaubte.

In Gedanken geht sie auf einen Kollegen zu. Der erzählt der Klasse immer Witze, um die Schüler bei Laune zu halten. Aber mittlerweile hat die Klasse sämtliche Witze schon drei mal gehört und macht sich nur noch lustig über ihn. Seine Einlagen sind ein überkommenes Ritual, das längst seine ursprüngliche Funktion einbüßen musste. Er weiß das - und findet sich damit ab. Abfinden war einmal eines der schlimmsten Wörter für sie. Ob ein ‹Sich-Abfinden› einmal auch für sie zu ihrem Alltag gehören wird? Wird sie sich eines Tages gar nicht mehr fragen, ob sie sich mit ihrem Scheitern abfinden möchte, wird sie es einfach tun?

Nein, sie will ihre Schüler nicht bei Laune halten. Aber was will sie eigentlich? Es bleibt still. Sie kann sich keine Antwort geben. Sie versucht, sich an Bücher zu erinnern, die sie vor langer Zeit las oder an Menschen, mit denen sie gemeinsam im Studium über für sie damals so fundamentale Fragen nachdenken konnte. Eine Ahnung überkommt sie: Sie wollte nie Kämpferin sein, und nie auf verlorenem Posten stehen, und nun ist sie zu einer Einzelkämpferin geworden.

Sie erträgt diese Vorstellung nicht und erhebt sich erschüttert aus dem Bett. Mit schweren Gedanken und schweren Füßen begibt sie sich auf den Weg in die Küche, darüber grübelnd, wann sie den Faden eigentlich verloren und ob es sich nicht längst auch für sie bewahrheitet hat, was die Kollegen zu Beginn ihrer Lehrzeit zu ihr meinten: «Ja, als wir angefangen haben, waren wir auch noch voller Ideale. Aber glaub uns Alten, das gibt sich. Die Realität wird Dich eines Besseren belehren. Auch Du wirst das lernen müssen, sonst gehst Du hier ein.» Hat sie gelernt, was sie nie lernen wollte?

Ihr fällt ein, daß sie eine andere Kollegin nachahmen könnte. Die bietet der Klasse an, zehn Minuten früher Schluss zu machen, wenn sie sich halbwegs benimmt. Doch das funktioniert auch nicht wirklich. Womöglich weil es nicht immer die letzte Stunde ist. Und darüber hinaus hat die Lehrerin schon eine Rüge vom Schulleiter erhalten, weil die Klasse dann die zehn Minuten laut im Schulgebäude herum tobt. Und ihren Stoff schafft die Kollegin damit auch nicht.

Stoff – so nennen Lehrer das zu Vermittelnde, sie mittlerweile auch. Stoff. Was ist eigentlich dieser Stoff? Was bedeutet es, den ‹Stoff geschafft zu haben›? Woran merkt man, dass man ‹den Stoff› geschafft hat. Gibt es dann nichts mehr über das Thema zu sagen, oder haben die Schüler all die Folien in ihren Hefter kopiert? Und wer schafft ihn eigentlich, diesen Stoff? Der Lehrer etwa? Oder der Lehrer mit den Schülern? Ist der Stoff etwas, das der Lehrer erst mahlen muss, damit er für die Schüler trinkfertig serviert werden kann? Sie weiß es nicht mehr. Sie beginnt, langsam mit der Kaffeemühle die Bohnen zu mahlen.

Ihr fällt der Begriff des Lernortes wieder ein. Ist Schule ein Lernort, dann wüsste sie momentan nicht, wo und wie dieses Lernen stattfinden sollte. Auch in ihrem Unterricht sitzen Schüler nur die Zeit ab, behalten sogar ihre gefütterten Jacken an. Ist es das, was sie gelernt haben sollten, abzuwarten, bis sie wieder ins wirkliche Leben entlassen werden? Das wirkliche Leben – damit drohen Lehrer immer wieder. Wie kann man denn mit etwas drohen, was Schüler als Entlastung empfinden? Warum drohen Lehrer mit der Zukunft des wirklichen Lebens, wenn sie doch meinen, darauf vorbereiten zu wollen?

Sie sieht sich einen anderen Lehrer fragen. Der redet was von Methodenvielfalt. Aber das hat sie alles schon ausprobiert, mit geringem Erfolg. Auch fehlt ihr oft die Zeit, um Sozialformen im Unterricht auszuprobieren, denn immer haben die Klassen irgendeine Prüfung vor sich.

Sie weiß nicht weiter. Mittlerweile trinkt sie ihren Kaffee so schwarz, wie nie zuvor – und ist immer noch in Gedanken bei der 9d. Dann sagt sie sich: «Mir bleibt nichts übrig, ich muss mal sehen, wie die Klasse heute drauf ist. Ich werde entscheiden, was ich mache, wenn ich vor der Klasse stehe.» Schwellenpädagogik hat das eine Dozentin mal genannt – und davor gewarnt Aber so startet sie nun mittlerweile in jeden Tag: «Was mache ich mit Mike aus der 10a, der ständig irgendwelche Sachen durch die Klasse schießt, andere damit zum Teil verletzt und dessen Eltern meinten, die Lehrer sollten ihn härter rannehmen, da gäbe es doch Möglichkeiten? Was mache ich mit der 9a, wo sich Linke und Rechte ständig gegenseitig angiften und das Klassenklima zerrütten? Und was mache ich mit Jessica aus der 10b, die im 5. Monat schwanger ist, raucht, jede Woche mit einem anderen Kerl auf dem Schulhof steht, dem Unterricht nicht folgt und mir sagt: ‹Was soll ich denn hier? Ich bekomme ein Kind und bin dann eh nichts für den Arbeitsmarkt.› Und die Kollegen versuchen ihr zu helfen, indem sie ihr sagen: ‹Du hast Jessica ja nicht für immer. Weißt Du, wenn sie nicht wollen, dann sind sie selber Schuld.›»

Die Vorlesung ist vorbei. Sie verlässt den Hörsaal, stellt sich zu den anderen Studenten und Studentinnen, zündet sich eine Zigarette an, schaut dieser dabei zu, wie sie langsam abbrennt. Sie denkt: «Was wäre, wenn? Wenn ich etwa mit der ganzen Philosophie scheitere? Wenn ich sie gar für überflüssig halten werde? Was wäre, wenn ich eines Tages niemanden mehr habe, mit dem ich über Pädagogik so sprechen kann, wie ich mir das wünsche? Wie wäre es, wenn ich mit 50 Jahren in einer Küche bei einem Glas Wein und einer Zigarette sitzen und versuchen würde, mich zu erinnern, wie ich mit 29 gedacht habe, welche Illusionen ich hatte, welche heroischen Ziele, welche Vorstellungen? Werde ich dann lächeln und vielleicht zum ersten Mal ein Verständnis für meine jugendlichen Träumereien haben? Wird es an diesem Tag regnen? Wird sich mein Mann zu mir setzen und mal wieder bedauern, dass wir nie Kinder hatten? Wird er den Nachmittagskaffee aufsetzen und von den Familien seiner Arbeitskollegen plaudern? Ja, so wird es sein. Und ich werde nichts erwidern. Doch werde ich mich damit abfinden, weiter zu scheitern, da so der Lauf des Lebens ist?»

Versunken in ihre Visionen lächelt sie in den Rauch der vielen Zigaretten. Der Wind trägt die Asche in alle Richtungen. Der Wind kommt leider nicht aus der Pädagogik. Hier verdeckt immer noch meterhohe Asche die Glut neuer Ideen ...

«Meine Damen und Herren, diejenigen von Ihnen, die diese Klausurfrage nicht so beantwortet haben, wie es in jedem herkömmlichen oder aktuellen Lehrbuch zu finden ist, möchte ich besonders loben. Denn Sie haben versucht, jenseits hergebrachter Denkmuster und ohne Rücksicht auf Noten, unser Fach, die Pädagogik, mit neuen Denkweisen zu beflügeln. Dafür danke ich Ihnen.»



Erstellt: 4. März 2007 – letzte Überarbeitung: 5. März 2007
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