BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (3):
Kernkompetenz Hellsehen» von Tom B.
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«It's just that I left the class doing algebra
and they're getting restless when they've finished.»
«Algebra? But that's far too difficult for seven-year-olds!»
«Yes, but I didn't tell them that and so far they haven't found out.»
(Terry Pratchett - Thief of Time)

Es ist ein Wunder, was einem in Didaktikseminaren immer wieder an parapsychologischen Höchstleistungen begegnet. Ein Lehramtsstudium scheint da wahre Wunder zu wirken, denn ansonsten trifft man Fertigkeiten im Hellsehen doch eher beim Ortstreffen der Wiccaner an. Bevor der Leser jetzt von Humbug redet, muß auf einen wichtigen Unterschied der beiden Disziplinen hingewiesen werden. Ist die paganistisch-religiöse Zukunftsdeutung auf Hilfsmittel wie Kaffeesatz angewiesen und meist sehr nebulös in ihren Aussagen, schaffen es moderne Lehramtsstudenten, gerade im Grundschullehramt, eine überaus genaue Sicherheit ihrer Aussagen ohne Hilfsmittel zustande zu bekommen. Unmöglich? Quatsch?

Mitnichten, es ist zu folgendem Experiment zu raten, das schon mehrfach erfolgreich durchgeführt wurde und dessen allgemeines Design problemlos auf jegliche Art von Lehramt angewendet werden kann. Die Trefferquoten sind hoch, also ist das Ergebnis signifikant. Das Experimentaldesign ist folgendes:

Der Versuchsleiter begibt sich verdeckt in einen an deutschen Universitäten handelsüblichen Kurs für Fachdidaktik und wirft eine Vorstellung eines Lerninhalts in die Diskussion, die weit über dem liegt, was allgemein (also im gültigen Vorstellungsbereich eines kommunalen Systems liegend) Kindern im entsprechenden Alter zugetraut wird.

Das Ergebnis ist zumeist ein Aufschrei und die damit einhergehende schlagartige Benutzung der hellseherischen Fähigkeiten der entsprechenden Studenten. Doch wie genau manifestiert sich diese Fähigkeit? Es soll hier ein stereotypes Beispiel aus der Englisch-Didaktik genannt werden: Man schlage J.R.R. Tolkiens Hobbit als Lektüre in der vierten Klasse vor.

Die ‹Kernkompetenz Hellsehen› zeigt sich hier in Aussagen wie: Letzteres stellt eine besondere Form der ‹Kernkompetenz Hellsehen› dar, verneint es doch selbst die Möglichkeit eines Versuches, einen solchen Stoff im Unterricht einzubringen. Jetzt und in Zukunft.

Nun wird sich der Leser sicher wundern. Schließlich erscheinen die oben genannten Aussagen doch gar nicht auf besondere parapsychologische Leistungen hinzuweisen, da es sich doch eher um ganz schlichte Äußerungen handelt. Beschaut man diese einfachen Aussagen aber etwas genauer, so wird klar, dass wir es hier mit übernatürlichen Kräften zu tun haben. Schließlich werden hier punktgenaue Aussagen über die Fähigkeiten einer ziemlich heterogenen Gruppe von Menschen getroffen: Schülern.

Auch der Grundschullehramtsstudent im niederen Semester beherrscht diese fantastische Fähigkeit, aus einer größeren Entfernung genau zu wissen, was ein zufällig ausgewählte Schulklasse, ja sogar ein einzelner Schüler, zu lernen und zu leisten in der Lage ist. Das ist erfreulich, erspart diese Fähigkeit doch dem späteren Lehrer sämtliche essentiellen Diagnosen im Unterricht. Das verschlankt den Lehrablauf auf das eigentlich Wesentliche: Die ‹schülergerechte Darbietung von Wissen› und das nachfolgende Abtesten dieses Wissens, wobei dies aber keinerlei Überraschungen mehr bietet, denn schließlich kann der Lehrer auch die Ergebnisse der ‹Leistungsmessung› mittels seiner Psikräfte problemlos vorhersagen.

Es ist schon erstaunlich und es hört sich fast an wie Science Fiction, aber anscheinend ist auch schon der ‹Lehrer in Ausbildung› zu einer Voraussage von Leistungen und Fähigkeiten von Schülern in der Lage. Und das ist etwas, das der Psychologie trotz tausender Leistungstests bis heute nicht gelungen ist. Somit zeigt sich, daß diese psychologischen Tests eigentlich überflüssig sind, denn der moderne Lehrer erfaßt auf der Stelle das Niveau seiner Schüler, schließlich hat er schon im Didaktikkurs gelernt, welche Fähigkeiten die Schüler mitbringen werden und wie er sie am besten fördert. Dieses Wissen teilt er übrigens mit den Lehrbuchverlagen und den Kultusministerien, die auch alle ihre eigenen parapsychologischen Abteilungen unterhalten. Die manchmal bemängelte Pauschalisierung des Schülers im Unterricht ist also gar keine, denn die Verantwortlichen wissen schon längst, was das Kind kann, was es interessiert und vor allem, was man genau tun muß, damit es sich teleologisch bestmöglichst entwickelt.

Die ‹Kernkompetenz Hellsehen› bei Lehrern und Lehramtskandidaten ist ein Wunder, das in seiner Bedeutung für unser exzellentes Bildungssystem nicht unterschätzt werden darf. Fragen wir uns also nicht, ob Schüler im deutschen Bildungssystem immer optimal oder gar maximal gefördert werden, ob man ihnen Freiräume und Herausforderungen bietet und ob man ihnen eine ‹Leistungsfähigkeit› zutraut, die unsere Vorstellung von kindlicher Leistung ansatzlos sprengen könnte. Fragen wir uns das nicht.



Erstellt: 27. März 2007 - letzte Überarbeitung: 30. März 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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