BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (6):
Über das Nichts und das Vergehen» von nele
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Unter, unter ihren Händen
dreht sich das Rad der Zeit.
Ignorant und unaufhaltsam
belehrt es sie gewaltsam,
dass sie dies Gefühl bereut.

Die Welt müsste noch mal erfunden werden, als ein Ort, an dem die Tragik zu einem Ende kommt, indem man sie – wie in einem Traum – durch das Öffnen der Lider und des Geistes in ein unzugängliches Reich verbannt. Doch mit dieser Welt scheint es umgekehrt, hier müsste man schon in das Reich der Träume entweichen, die Lider fallen lassen, um der hiesigen Tragik zu entfliehen. Doch seitdem es Alpträume gibt, bietet selbst dieses Traumland kein Asyl für Realitätsflüchtlinge mehr. Verkehrte Welt?

Sie fröstelte einem dieser kalten Septemberabende auf ihrem winzigen Balkon eines unsanierten alten DDR-Wohnblocks entgegen. Diese Gegend war verkommen wie das Leben ihrer Bewohner, trist und trostlos. Eine graue Masse starrer Gesichter, aus denen jeden Tag das gleiche Vokabular plätscherte, bewegte sich jeden Tag an ihren Augen vorbei. Ihr Alltag – ein Sich-Durchschlagen inmitten ihrer unfreiwilligen Klientel, denn sie arbeitete als Sozialpädagogin und traf in diesem Viertel auf fast das halbe Umfeld der Schüler ihrer drei Brennpunktschulen. Sie kannte die Eltern, die Freunde, den ganzen Umkreis ihrer Schüler. Sie wusste, ob die Eltern deutsch konnten, ihren Kindern aufmerksam über die Schultern schauten, ihnen halfen oder sich strikt weigerten, ihren Kindern das Leben zu erleichtern. Und sie konnte gut behaupten, dass sie eine Ahnung davon hatte, was sich hinter den Fenstern der sie umgebenden Wohnblöcke abspielte. So zogen die Alltagsbilder an ihr vorbei, dann verschwand ihr Blick in der Tiefe des ruhenden Abendblaus.

Sie war überzeugt, dass dieser allabendliche stundenlange Blick aus dem 10. Stock in die Tiefe des Seins und in die Nähe des Alls etwas mit ihr vorhatte. Dieses Etwas schlich sich in ihre Gedanken und seitdem arbeitete es dort an einem revolutionären Plan. Kein bisheriges, wenn auch noch so unerwartetes Ereignis, Trauma, Erlebnis prägt sich so tief ein wie dieser Blick in die Leere. Und so wie einige Leute behaupten, dass wir den Geist in die Welt projizieren, so musste es wohl gleichzeitig auch stimmen, dass sich die Umgebung in unseren Geist projiziert, einen Abdruck hinterlässt, eine Struktur, wie in flüssiges Wachs, einen Abdruck, der mit unserer bisherigen Struktur verschmilzt, ein heimliches Bündnis eingeht, Eins wird, ununterscheidbar.

Mit der Zeit lernte sie, verschiedene Leeren voneinander zu unterscheiden. Es schien zwei Gruppen zu geben: die zufriedene und die unzufriedene. Die unzufriedene Leere hinterließ eine Art schwarzes Loch, und was immer da hinein gesogen wurde, es blieb stets unbefriedigend und hinterließ ein leeres, deprimiertes und unfähiges Selbst.

Die zufriedene Leere dagegen war erfüllend. Sie war so umfassend, so total und so einnehmend, dass nichts existierte, um diesen Sog zu bilden, oder ein Bedürfnis entstehen konnte, etwas auszufüllen. Erst wenn diese Leere total wurde, war sie im Gleichgewicht. Jeglicher Gedanke trat als Spielverderber auf, störte, musste vernichtet werden, wurde vernichtet. Gedankenlosigkeit zu produzieren hielt sie seither für eine erstrebenswerte Kunst.

Wie so oft, durchkreuzte sie mit ihren Gedanken etwaige Vergangenheiten, Punkte, Strecken, auf denen sich Veränderungen abzeichneten, Verschiedenheiten, welche die Strecken zu Kurven werden ließen, zu Kreisen gar. Zuerst kam die vorübergehende Melancholie. Später dann die Unfähigkeit, mit ihren Kollegen und mit Lehrern über Haushalt, Preise und Diäten zu reden oder pseudophilosophisch über die Denkmassaker einer zu Kurven unfähigen Gesellschaft zu schwafeln. Die völlig gedankenlose Leere war seitdem das Wesentliche in ihrem Leben. Es schien ihr von Beginn an paradox und gleichzeitig egal. Und es konnte so bleiben, weil sie mit niemandem darüber reden musste. So konnte sie es für sich stimmen lassen.

Mit den Jahren dann veränderte sich ihre Sicht auf die Welt, auf ihre Räume, auf ihre Zeiten, all das Geschehene und das Geschehen rückten in ein entferntes Licht, sie konnte es hinter sich lassen oder es einholen und anders ausleuchten, um es wiederum zurück zu lassen, es zu begutachten, es zu verwerfen. Vergangenheit wurde damit zu einer gestaltbaren Geschichte. Sie bemerkte das sehr früh, bis auf diese Feststellung wusste sie aber nicht wirklich etwas damit anzufangen. Eher verspürte sie eine Angst, eine klammheimliche anonyme Schadenfreude der Beliebigkeit, die ihr aus mehreren Gedankenräumen entgegen grinste. So versuchte sie, diese Räume zu vermeiden und neue Türen zu denken, zu öffnen, sich hinter ihnen zurückzuziehen, so wie sie sich auf ihren kleinen Balkon zurückzog und gleichzeitig zeigte.

Ja, von hier oben schien es überhaupt einfach, sich von der Oberflächlichkeit des Gesellschaftsgewusels zu entfernen. Von dieser blieb ein Teppich zurück, dessen Schmutzflecken schon so tief saßen, dass man sie fast für das Teppichmuster halten konnte, nein, falsch: Sie waren das Muster des Teppichs, noch schlimmer: Sie hielten den Teppich gar zusammen. Würde man den Teppich reinigen wollen, müsste man zunächst die Schere ansetzen und dann Nadel und Faden. Es würde ein anderer Teppich entstehen. Sie war sich seit diesem Gedanken dessen Stimmigkeit so sicher, dass dieses Bild sie seither nicht mehr losließ, und sie sogar dazu verführte, die Teppich-Metapher auf Menschen anzuwenden und jegliche menschliche Eigenschaft als Muster zu deklarieren, um dann herauszufinden, welche Muster abwaschbar waren und welche in die Tiefe gingen und den menschlichen Charakter als Struktur durchzogen, zusammen hielten, ihn ergaben.

In dieser Zeit kam ihr auch die Idee, ihre Schülerarbeit nach Hause zu verlegen, an den Ort ihrer Tiefe sozusagen. Wie oft hatte sie hier schon Lieder komponiert, Texte und Melodien ersonnen. Wie oft war sie hier in ihrem Kopf die Proben mit ihrer Schulband durchgegangen, jede Bewegung, jede Stimme, jeden Einsatz, jedes Instrument, jedes Gesicht, jedes winzige sich verändernde Verhalten. Jede Woche kamen die Schüler in ihre kleine Wohnstube, sangen, redeten und lachten. Ihre Arbeit an den Schulen empfand sie seitdem nur als Nebenschauplatz. Denn das, was sie hier erreichte, war das, was wirklich zählte: Nahbarkeit über Musik, eine sensibilisierte Neugier für die andere Person, die sich in der gleichen Sache bewegte wie man selbst, für ihr Denken und ihr werdendes Sein in einer werdenden Welt. Ihr fiel ein: Irgendwann begann sie sich zu wundern über emotionale Regungen, die sie bis dahin noch nie an ihren Schülern wahrgenommen hatte, und wie sie nach und nach alle anfingen, über dieses Phänomen gemeinsam zu staunen, Wörter zu finden und mit ihnen Vertrauen. Als sie sich nach einer solchen Zusammenkunft wieder einmal der Tiefe hingab, bemerkte sie in einem Wort, einer Formulierung, welche Bedeutung das, was man schlechthin und leichtfertig überall als Entwicklung bezeichnete, haben konnte: Ein Wachsen in einer zuvor unbekannten Vielfalt und in eine nahezu unvorhersagbare und nicht beeinflussbare Richtung, ähnlich einem Zug, der seine Weichen selbst stellt. Es ist ein Wachsen, das andere nicht behindert, eher anregt. Entwicklung bedeutete, so meinte einmal eine Schülerin zu ihr, Fenster in seine Festung zu mauern und die der anderen weder einzuschlagen noch in sie einzudringen, sondern vorsichtig anzuklopfen in der Gewissheit, dass selbst die Tür aus Glas besteht.

Schule dagegen war für sie seither ein Ort der Starre, ein Ort, der Entwicklung verhinderte, der sich nicht anpasste, dessen Ordnung stur auf sich selbst beharrte, der die Kollegien infizierte mit dem Virus des ignoranten Geschäftigseins, Gutmeinens und Wohlwollens.

Und wie oft hat sie hier schon mit M. gestanden, auf dessen Anruf sie nun wartet. M., mit dem sie die ganzen Sommerferien verbracht hatte, mit dem sie bis in die frühen Morgenstunden auf der Gitarre spielte, mit dem sie stundenlang alte Russenlieder und alte deutsche Schlager sang.

Und vor einer Woche steht sie mit M. auf dem Balkon, jeder hat einen Teil des Kopfhörers vom MP3-Player im Ohr, Arm an Arm stehen sie da und singen dreistimmig, jeder eine weitere Stimme zum Lied und rauchen und weinen ein bisschen, weil die Musik so schön ist - bis früh um 4 - und nirgendwo ist ein Mensch - nur Nacht und schwarz und ferne Lichter.

Unter, unter seinen Händen
dreht sich das Rad der Zeit,
er versucht es zu fassen,
es rasend zu machen,
und hofft, dass es ihm verzeiht.

Ihre Blicke glitten hinüber zu den erhellten Fenstern der entfernt schweigenden Wohnblöcke, hinab in die geräuschlos gleitenden Waggons der Straßenbahnen, um dann im ruhigen, gleichmäßigen und unaufdringlichen Leuchten der Sterne zu versinken, denn dieses eine Mal waren die Dinge wie sie scheinen, ganz untief. Zum ersten Mal gab es keinen Ausweg im Denken, keine Tür, das Leben selbst legte Widerspruch ein und verwandelte all die Türen in undurchdringliche Mauern. Gerade jetzt, da sie zum ersten Mal eine Ahnung davon bekam, was es bedeuten könnte, nicht nur Geschichten zu wiederholen, die andere vom Leben schrieben.

Jemand läutet stürmisch. Mit ihren 56 Jahren hat sie längst gelernt, geräuschvollen Attacken ein genervtes Stirnrunzeln entgegen zu setzen, gepaart mit kurzer Bewegungslosigkeit und dem Sammeln stiller, innerer Punkte zu einem größeren stummen Fleck, auf den sie sich zurückziehen konnte, sollten ihr solch unerwünschte Attacken zu nahe kommen. Aber M. selbst war zu solch einem stillen Punkt geworden. Sie kam sich vor wie eine Mondsichel, in der er ruhte, es sich zurecht gemacht hatte, und ohne sie würde er fallen - sie war wie eine Mutter, Muse und Geliebte, alles zur gleichen Zeit. Doch mit ihm starb sie und er erst recht. Dabei konnte gerade sie als Sozialarbeiterin verstehen, warum sie M. mit seinen 16 Jahren gehen lassen musste. Sie konnte warten, zwei Jahre, nichts würde sich ändern.

Heute Abend würde sie selbst diese Veränderung vollbringen müssen. Sie geht zur Tür, fasst sich, sucht im dunklen Flur nach der Klinke und gleichzeitig nach der Tiefe der Dunkelheit, welche ihr Äquivalent in der Leere ihres Geistes fand. Es war, als ob sich die Tiefe in ihrem Geist selbst erkannte und in der Leere reflektierte. Nein, da war nichts. Sie hatte sich gefunden, hier, in all den bevorstehenden unendlichen Momenten. Sie schließt die Augen. Nun muss sie die Welt noch mal erfinden, als ein Ort, an dem die Tragik zu einem Ende kommt, indem man ihr die Realität entzieht durch ein paar Wörter bloß, durch ein hässliches Muster, das der Logik menschlichen Daseins völlig widerspricht: Nicht lieben dürfen.

Unter, unter unsren Wörtern
gibt es ein ‹Rad der Zeit›
und wir flehen vergeblich
denn es steht unbeweglich
für das Drama der Vergänglichkeit.




Erstellt: 28. Oktober 2007 – letzte Überarbeitung: 30. Oktober 2007
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