BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (7):
‹Lehrerpersönlichkeit› - ‹Schülerpersönlichkeit›» von Tom B.
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«Do I contradict myself?
Very well, then I contradict myself.
I am large, I contain multitudes.»
(Walt Whitman)

Liebe Leser, liebe Leserinnen, nachdem ich Ihnen schon gezeigt habe, daß es an Universitäten einen Hang zum Hellsehen gibt, möchte ich Ihnen mit diesem Traktätchen demonstrieren, daß der Schulalltag voll weiterer Wunder ist.

In meinem Leben als Referendar ist mir das eine oder andere in den Kommunikationsmustern des mich umgebenden Fach-Personals aufgefallen, welches Hinweise auf die Konstruktion des kommunalen Systems ‹Schule› geben kann. Diesmal geht es um eine Vokabel, die man gerade als Junglehrer sehr oft zu hören bekommt: die ‹Lehrerpersönlichkeit›. Und natürlich steht diesem Begriff etwas gegenüber: die Konstruktion der ‹Schülerpersönlichkeit›. Doch ich fange am besten mit dem Terminus ‹Lehrerpersönlichkeit› an, der sich vorzüglich dazu eignet, deutlich zu machen, was eine ‹Schülerpersönlichkeit› sei.


‹Lehrerpersönlichkeit›

«Ihre Lehrerpersönlichkeit ist komplett eigenständig und soll es auch bleiben!» Dies ist nur eine der vielen Aussagen, die man regelmäßig serviert bekommt, wenn es zur Kritik der geleisteten Stunden kommt. Dabei ist es den Bewertenden wichtig, zu vermitteln, daß man ein Individuum bleiben, aber gleichzeitig den Beruf Lehrer ausüben kann. Man hat halt seine Methoden und Techniken und zusätzlich seine Lehrerpersönlichkeit, die einen angeblich eigenständig macht. Doch sehen wir uns das genauer an. Was bedeutet es eigentlich, ein Lehrer zu sein?

Ein Lehrer ist jemand, dem Geld dafür gegeben wird, daß er jungen Menschen Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten mit einem vermeintlichen Nutzen für das spätere Leben vermittelt, oder wenigstens dafür, daß er es versucht. Nun gehört zur Arbeit mit Menschen unter Menschen eine gewisse Anthropologie, mit der man seinen Klienten begegnet. Und hier ist dann auch des Pudels Kern. Unser Mephisto ist das grundsätzliche Problem, daß eine Anthropologie genauso konstruiert ist, wie die eigene Persönlichkeitswahrnehmung und genauso auf einer privaten wie auch kulturellen Sozialisation beruht, wie eigentlich alles, was wir uns so vorstellen. Diese Anthropologie ist also ein Konstrukt, das eng mit der Persönlichkeit und der Selbstwahrnehmung des Lehrers zusammenhängt. Gleichzeitig ist sie auch die Basis für die Entscheidungen, die ein Lehrer im Unterricht und in der Begegnung mit seinen Schülern trifft. Unberührt von dienstlichen Anweisungen und bürokratischen Späßen liegt somit viel Gewicht auf der Frage, wie der Lehrer sich selbst, seinen Beruf und seine Schüler sieht, denn aus dieser Sicht entwickelt sich ja am Ende sein Unterrichtskonzept. Persönlichkeit und Anthropologie haben also die selbe Wurzel.

Nun kehren wir zurück zur Aussage am Beginn, nämlich, daß die Lehrerpersönlichkeit unabhängig von einer Technik ist, die man schlicht lernen kann. Unterricht ist also etwas, das jeder kann und das allein aus einer Sammlung von bestimmten Techniken besteht, die man nur anwenden muss und holla, schon ist es guter Unterricht. Sie können ein Psychopath sein, mit der richtigen Technik klappt das schon. Es besteht laut dieser Rhetorik keinerlei Zusammenhang zwischen dem persönlichen Weltbild des Lehrers und der Ausübung seiner Tätigkeit. Das ist doch spannend: In einem Beruf, der hauptsächlich mit Menschen zu tun hat, kann man also nach Kochrezept arbeiten? Oder ist es vielmehr so, daß aus der Sicht derer, die diesen Beruf ausüben, nur ein Menschenbild und damit ein Berufsbild als zum Beruf gehörig anerkannt und damit kommunal als ‹richtig› definiert wird? Ist die ‹Lehrerpersönlichkeit› am Ende ein Notbehelf, um sich selbst die Existenz von Individuen außerhalb des eigenen Konstruktionsrahmens zu erklären? Eine abschließende Antwort kann ich ihnen noch nicht geben, aber ich bleibe dran.

Dran bleibe ich auch am zweiten Phänomen, daß ich ihnen, liebe Leserschaft nun vorstellen will. So elaboriert und wichtig nämlich die ‹Lehrerpersönlichkeit› ist, so diffus ist die der


‹Schülerpersönlichkeit›.

«Das weckt falsche Bilder bei ihren Schülern!» Diesen Satz habe ich in letzter Zeit oft gehört. Wir müssen ihn näher betrachten, denn obwohl man dem Lehrer, wie oben illustriert, nur zu gerne eine eigenständige Persönlichkeit zubilligt, so ist diese bemerkenswerte Attribution gegenüber Schülern deutlich seltener zu beobachten. Sicherlich, die meisten Lehrer haben durchaus einen Kontakt zu ihren Klassen, doch gerade wenn es auf die Massenebene geht und Lehrer mit Lehrern über die Klientel sprechen, dann kommen wir sehr schnell wieder auf das Hellsehen zurück, das schon zuvor aufgefallen ist. Besonders virulent ist es in Seminarsitzungen und Stundenbesprechungen, dort wird dem zukünftigen Lehrer gerne mal erklärt, daß seine Methoden nicht funktionieren, da ‹die Schüler› – man beachte die unbestimmte Mehrzahl – hierauf schlecht reagierten. Oder noch schlimmer, daß man bestimmte Verhaltensweisen – auch wenn sie zur eigenen ‹Lehrerpersönlichkeit› passen – lassen sollte, weil durch sie bestimmte Bilder in den Köpfen ‹der Schüler› – schon wieder die Mehrzahl – entstehen könnten. Meine Güte, jetzt wird es zirkulär, liebe Leserin, lieber Leser, bleiben Sie dennoch bei mir, denn wie in jedem guten Karussell kommt nun der Moment mit dem Kribbeln im Magen.

Die ‹Schülerpersönlichkeit› ist also anscheinend zum einen etwas Ungegliedertes, Ungestaltetes und Unstrukturiertes, und zum anderen etwas Uniformes und Unterschiedsloses, das auf eine bestimmte erwartbare Art reagiert, wenn man als Lehrer einen gewissen Stimulus setzt. Diese Hypothese deckt sich nun nicht mit der persönlichen Erfahrung, interessanterweise auch nicht mit der Erfahrung derjenigen Lehrer, die so etwas sagen. Es folgt also der Schluss, daß Lehrkräfte mit ihrer Praxiserfahrung vermuten, daß sie qualifizierte Aussagen über das Innenleben des generischen Schülers – des Schülers im Allgemeinen und an sich – treffen könnten, nur weil sie genug Schüler gesehen haben. Die Verwendung des Begriffs ‹Schülerpersönlichkeit› ist also Hellsehen für Fortgeschrittene, auf der Basis von demjenigen, das man weitläufig Erfahrung nennt. Und nun, leichte Dialektik, nach These und Antithese, die Synthese.


Fazit

Betrachten wir uns nun noch einmal den Begriff, das Konstrukt ‹Schülerpersönlichkeit›, dann stellen wir fest, daß Lehrer dazu neigen, ihren Schülern genau das zu nehmen, was sie mit Emphase ihren Kollegen zugestehen: die Individualität. Während man den Schülern in der Masse schlicht die Eigenständigkeit abspricht, benutzt man das Konstrukt der ‹Lehrerpersönlichkeit›, um deren Eigenständigkeit aus der Arbeit herauszureden. Schließlich ist das ja nur die Persönlichkeit und Lehrer-Sein kann man mechanisch lernen. Am Ende findet man ein beunruhigendes Fazit: Es scheint durchaus eine Tendenz zu geben, beiden Beteiligten im Bildungsprozess, der nach politischen und wissenschaftspädagogischen Aussagen so persönlich wie möglich sein sollte, die Individualität abzusprechen, denn am Ende ist es eben doch schlimm, wenn Schüler oder Lehrer sie selbst sind.



Erstellt: 15. Januar 2008 – letzte Überarbeitung: 16. Januar 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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