BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (9):
Das unerhörte Schweigen» von nele
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Beteiligte und Unbeteiligte

Peter ist 16 Jahre und wurde in der 8. Klasse nicht versetzt. Lehrer meinten, es sei besser für ihn. In der Schule sitzt Peter immer am letzten Tisch der mittleren Bankreihe – allein. Keiner weiß, wozu.

Anna ist 15, die Lehrer legten ihr nahe, sie könne mit ihren Leistungen später das Abitur machen. Sie ist Klassenbeste und sehr strebsam. Sie möchte später BWL und Sprachen studieren. Keiner weiß, warum.

Frau L. ist Lehrerin für die Fächer Mathe und Kunst. Sie hat die Lehrerlaubnis für das Fach Sozialkunde erworben, ist politisch allerdings desinteressiert. Ihre Neugier reicht nicht über die Lehrbuchinhalte, die Nachrichten und die lokale Presse hinaus. Selbst ihr Interesse für Kunst hat sich im Laufe der letzten Jahre verflüchtigt. Keiner weiß, wohin.

Studenten, die ein fachdidaktisches Praktikum an der Schule absolvieren. Nachdem sie eine Stunde hospitiert haben, müssen sie selbst unterrichten. Keiner weiß, wie.

Der Dozent betreut die Studenten im Praktikum, bespricht die Stundenverlaufspläne und reflektiert mit den Studenten die jeweils gehaltene Stunde. Gerne würde er selbst eine Schule gründen, eine Oase des gegenseitigen Wohlwollens, des aufregenden Lernens, eine Oase von Oasen. Keiner weiß, wann.

In Nebenrollen und als Statisten hören wir weitere Schüler.


Der Ort und seine Besucher

Wir befinden uns vor einer ganz normalen staatlichen Regelschule, an einem ganz normalen Montag, im ganz normalen Osten Deutschlands. Es nieselt kühle Frische auf die fröstelnden Schüler, die vor dem Haupteingang der Schule – ihrer Schule – stehen und, von einem Bein aufs andere tretend, darauf warten, dass ihnen der Hausmeister Einlass ins Trockene gewährt. Ein paar Jugendliche rauchen, in der jeweils anderen Hand haben sie eines der neuesten Handys, die derzeit für sie auf dem Markt zu erschwinglichem Taschengeldpreis zu haben sind.

7:30
Die Schule wird geöffnet, die Zigarettenstummel heimlich beseitigt. Ein stummer Strom blasser, durchfrorener, unausgeschlafener Gesichter fließt stockend durch den Schulflur, gerinnt zu kleinen hilflosen Grüppchen, die wiederum ziemlich hilflos nach dem ‹Raum der ersten Stunde› suchen, als ob die Schule eine boshafte Seele hätte und ihre Räume über das Wochenende nach einem völlig neuem System anordnen würde, um die Eindringlinge jedes Mal aufs Neue zu verärgern. Nachdem die Grüppchen ihre ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten entdeckt haben, postieren sie sich auf dem Gang und warten auf das so genannte Vorklingeln, zu dem dann – geradezu wie konditioniert – der jeweilige Fachlehrer erscheint und die Tür aufschließt. Seit der letzten Renovierung wurde jede Klinke an den Außenseiten der Türen durch einen Knauf ersetzt.

In träger Weise schlumpern die Schüler auf ihre Plätze, setzen sich - und wenn der Lehrer Glück hat, werden die meisten Schüler bis zum Stundenklingeln ihre Schreibsachen ausgepackt haben.

7:40
Stundenklingeln. Alle Türen werden geschlossen. Das Unterrichten soll beginnen. Wer jetzt noch kommt, der muss zaghaft und schuldbewusst anklopfen, sich rechtfertigen oder er wird von einem prinzipientreuen Unterrichtenden gleich zum Schulleiter verwiesen.

Kontrollpersonal wird auf die leeren Gänge entsandt, um darüber zu wachen, dass kein entlaufener Schüler die Unterrichtsruhe stört. Geht man jetzt durch das Schulgebäude, hört man im Flur den Hall der ausführenden Lehrerstimmen, mal lauter, mal leiser, einen Schüler, der gerade für eine mündliche LK herhalten muss, einen Lehrer, der gerade eine Klassenarbeit ausgibt, einen, der das letzte Stundenthema wiederholt, einen anderen, der den Schülern ein neues nahe legen möchte und so weiter und so weiter.

8:10
Ruhestörung. Ein paar Praktikanten aus der Universität stehen in einem kleinen Kreis im Flur und lachen laut. Das Aufsichtspersonal kommt - mit ärgerlichem Blick über den Brillenrändern - hinzu: Guten Morgen. Sie wissen aber schon, dass gerade Unterrichtszeit ist? Wir legen hier sehr viel Wert darauf, dass während dieser Zeit völlige Ruhe herrscht im Schulgebäude. Wer sind Sie denn eigentlich?

Die Studenten stellen sich vor, die Aufsicht verweist sie ins Lehrerzimmer. Dort sitzt bereits der Dozent gebeugt über ein Lehrbuch für Sozialkunde – kopfschüttelnd, die Stirn in Falten gelegt. Er schaut auf, begrüßt die Studenten mit einem lapidaren: Ach, da sind Sie ja endlich. Nehmen Sie doch Platz! und vertieft sich vorerst wieder in das Buch. Haben Sie sich schon mal die Lehrbücher zu Gemüte gezogen?

Die Studenten greifen zu den Lehrbüchern. Na ja, meint ein Student nach einiger Zeit grinsend, passt doch zu der Form des Unterrichts, der hier wahrscheinlich stattfindet, nicht? Die anderen Studenten erwarten gespannt eine Reaktion ihres Lehrmeisters. Dieser lächelt – nur mit dem rechten Mundwinkel – und meint dann zu seinem Zögling: Sie machen mich sehr neugierig auf Ihre Lehrprobe, Herr K.


Das Klassenzimmer und seine Feinde

Das folgende Stück spielt in einer 9. Klasse, das ‹Fach› nennt sich Sozialkunde. Das ‹Stundenthema› findet sich im Wort ‹Entstehung des Grundgesetzes› wieder. Mit dem Grundgesetz haben es hier 21 Schüler in frontalunterrichtlicher Sitzordnung zu tun. Die Hauptwisserin Frau L. hat die Ehre, ihren 21 Zöglingen den großen Fortschritt des menschlichen Denkens und Handelns zu präsentieren und einzutrichtern. Der Raum ist winzig. An der hinteren Wand kleben neugierig die Lehramtsstudenten inklusive Dozent, für sie entartet die Stunde zu einem eigenartigen Lehrstück.

Frau L. - Mitte 50, im dunkelblauen Hosenanzug, eckige hochmoderne Brille und blonde Strähnchen – setzt zum Leidwesen aller Beteiligten in einer unnatürlich hohen Stimmlage an.

Frau L.: Wir erheben uns! Ihr seht, wir haben Gäste. Vielleicht gelingt es uns mal, eine Vorzeigestunde hinzubekommen, nicht?

Einige Schüler drehen sich um, schauen die so genannten Gäste an, um sich schließlich, die Blicke der anderen suchend, über die Situation zu belustigen. Das Spiel kann beginnen.

Frau L.: Gut, setzt Euch. Wir haben die letzte Stunde begonnen, über das Grundgesetz zu reden...

Schülerchor: Wir?

Frau L: Still jetzt! Einer von Euch kommt nach vorne und wird mal zeigen, was wir die vorige Stunde gelernt haben. Freiwillige? ... Nicht? Ihr wisst, damit könntet Ihre Euch eine gute Note verdienen, wenn Ihr gut zugehört habt... Gut, dann werde ich einen Freiwilligen auswählen... Na, wer bräuchte denn mal eine Chance... Peter!

Peter – der Schüler aus der hintersten mittleren Bankreihe – zuckt unwillkürlich zusammen, seine Federmappe fällt herunter, er verdreht die Augen, wird rot, zögert.

Schülerchor (freudig erleichtert): Peter, los!

Frau L: Wir haben heute noch viel vor, wie lange dauert es denn noch, bis Du mal hier vorne erscheinst?

Peters Kopf dreht sich leicht nach rechts. Er schaut zu Anna in der ersten Reihe, aber Anna schaut nicht zurück. Peter sieht so aus, als wüsste er gerne, was sie gerade denkt. Er erhebt sich, sein Stuhl kippt und schlägt mit einem lauten Knall auf den Fußboden. Es folgt lautes Gelächter und ein ärgerliches Gesicht von Frau L. Ein Student hebt den Stuhl auf und lächelt Peter mitleidvoll an. Dieser geht langsam nach vorne. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Man sieht ihm an, dass er sich fehl am Platz fühlt, dieser Weg nach vorne muss für ihn ein Alptraum sein. Er schaut wieder zu Anna, doch Anna schreibt. Was schreibt sie nur? Peter ist den Tränen nahe, vermutlich weiß er, dass es noch schlimmer kommen kann. Alle Schüler und Frau L. wissen, dass er stottert.

Frau L: Nicht so zögerlich, Peter. Du tust ja gerade so, als ob Du Dir hier Dein Todesurteil abholen würdest. Du musst das mal als Chance sehen, die ich Dir gebe, um Deine Note aufzubessern. Wenn Du gelernt hast, dann gibt’s doch keinen Grund, hier aufgeregt zu sein und auch noch vor all den Leuten hier zu heulen.

Peters erste Träne fließt, als er, vorne angekommen, sich zur Klasse dreht, sein Gesicht gegen das seiner gefühllosen Mitschüler, der mitleidigen Studenten, des verstörten Professors und der Lehrerin, die schon völlig entnervt und stirnrunzelnd auf ihre Uhr blickt – und vor allem gegen das von Anna. Diese schreibt immer noch. Peter sieht zu ihr hinüber. Anna schreibt mit einem weichen Bleistift ein paar große Wörter auf zwei Blätter. Frau L., die noch in der ersten Reihe – das Gesicht Peter zugewandt – steht und langsam ein paar Schritte rückwärts bis zur Wand geht, merkt nicht, wie Anna ihrer Banknachbarin ein Blatt gibt und beide die Blätter vor ihren Oberkörpern halten, sichtbar nur für Peter. Peter wirkt für einen kurzen Moment verstört. Dann lächelt er ein wenig.

Frau L: Na, hat es jetzt Klick gemacht, Peter? Ich würde sagen, wir fangen an.

Peter wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Er stellt sich aufrecht hin und sieht die Lehrerin an. Diese beginnt nun nach und nach, Peter über das Grundgesetz auszufragen, wann es entstand, was es beinhaltet. Aber Peter schweigt. Die ganze Zeit schweigt er und beobachtet die Lehrerin nachdenklich, hin und wieder zu Anna blickend.

Frau L: Peter, weißt Du es nicht, oder denkst Du nach?

Aber auch hier erhält keiner eine Antwort. Weder zuckt Peter mit den Schultern, noch zeigt er sonst irgendeine Regung, die man als Reaktion auf die Fragen deuten könnte.

Frau L: Peter, ich stelle Dir jetzt eine letzte Frage. Also, wenn Du noch eine Fünf bekommen möchtest, dann beantwortest Du sie hier. So schwer kann das doch nicht sein. Du versuchst es ja noch nicht einmal. Das ist doch wieder mal verschenkte Zeit hier. Ich hatte heute noch so viel vor. Und ich muss Dir wirklich sagen, was Du hier veranstaltest ist unfair gegenüber denen, die ihre Chance genutzt hätten, um sich eine gute Note zu holen. Das ist undemokratisch. Ich dachte, ich hätte es hier mit halbwegs erwachsenen und vernünftigen Menschen zu tun... Na gut, wie heißt denn der erste Artikel unseres Grundgesetzes und was bedeutet er?

Peter betrachtet aufmerksam und mit einem zögerlichen Lächeln das Gesicht der Lehrerin. Es wird plötzlich still in der Klasse. Warum lächelt Peter die Lehrerin an?


Der Versuch und seine Unternehmer

Studenten und Dozent finden sich nach der Stunde zu einem reflektierenden Gespräch in einem kleinen Gruppenarbeitszimmer ein. Wir befinden uns auf dem Flur und vernehmen neugierig die Stimmen:

Ja, was haben denn die Schüler in der vorherigen Stunde nun gelernt? Peter konnte sich ja gar nicht äußern. Hat er also nichts gelernt...?
Sie haben wahrscheinlich gelernt, still und gehorsam zu sein...
Sie haben gelernt, dass Menschenwürde eine Leerformel ist...
Sie haben gelernt, dass die Lehrerin nicht gelernt hat, was Menschenwürde ist und wozu sie in unserem Grundgesetz steht...Das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung...
Als ob sich Lernen in eine dreiviertel Stunde packen lässt...!
Wie jetzt, gelernt... Peter hat doch gar nichts gelernt...
Woher wissen wir das denn...?
Er hat eine 6 bekommen, weil er nichts gelernt hat...
Du meinst: auswendig gelernt...
Er hat's einfach nicht verstanden...
Was hat er nicht verstanden? Woran sehen wir denn, ob jemand was wie verstanden hat...?
Ich kann mir Peters schweigsames Lächeln einfach nicht erklären...
Vielleicht hat er ja den Test umgekehrt und die Lehrerin getestet, ob sie versteht, was denn mit Menschenwürde gemeint ist...?
...
Hm, aber dann müsste er ja verstanden haben, was mit Menschenwürde gemeint ist...
Was ist denn damit gemeint...?
Wollt Ihr jetzt eine Definition von mir hören...?
...
Wir können die Frage selbst nicht beantworten, so ist das...
Vielleicht hat ja Peter auf seine eigene Art und Weise geantwortet...
...
Ich versteh' das nicht. In der ersten Reihe saß doch eine Schülerin, die ihm wahrscheinlich geholfen hat, sie hat mit ihrer Banknachbarin etwas auf zwei Blätter geschrieben und dann haben beide Peter diese Blätter gezeigt. Ist das niemandem aufgefallen?
...
Ich dachte, das hätte jeder gesehen...
...
Was soll den auf den Blättern gestanden haben? Peter hat doch gar nichts gesagt?
...



Der Beginn und sein Ende

13:05
Für die meisten Schüler kündigt die Schulglocke das Ende der letzten Stunde an. Kleine Zweier- und Dreiergrüppchen kumulieren sich zu einem kommunikativen, gebrochenem Strom, dessen einziges Ziel der Ausgang ist. Die Sätze verklingen im privaten Gemauschel über PC-Spiele, Filme, Zeitschriften, Mitschüler, Treffen mit Freunden oder den AG-Gruppen, die für den nachmittäglichen Ausgleich geschaffen wurden. Einzelne Schüler laufen verlassen zwischen den anderen herum und versuchen Schritt zu halten. Aus einem Seitengang kommt Peter, er schlurft einsam auf den Ausgang zu, die anderen Schüler nur bruchstückweise wahrnehmend. Frau L. schließt adrett und flüssig hinter ihm auf, überholt ihn ohne einen Blick, ohne ein Wort. Ab und zu wendet Peter seinen Kopf. Hinter ihm läuft Anna zwischen zwei anderen Schülerinnen, die sich gerade über die neueste Ausgabe der Peach unterhalten. Anna schweigt, versucht Peters Blicke zu erhaschen und zu lächeln.

Die Schultore verlassend wenden sich beide von ihrer Unsicherheit ab und gehen ihrem ganz normalen Leben nach, das nach einem ganz normalen Schultag in einer ganz normalen Regelschule im ganz normalen Osten Deutschlands von ganz normalen Schülern gelebt wird.



Erstellt: 6. März 2008 – letzte Überarbeitung: 10. März 2008
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