BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (12):
Hellsehen für Fortgeschrittene» von Tom B.
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«Die allgemeine Schule ist ein Werkzeug der Auslese, ein Sieb.
Die Korruption der Schule hat den Zweck der allgemeinen Schule verkehrt.
Der Sand geht hindurch, das Gold bleibt zurück.»
(Fritz Mauthner, 1906)

«In der Schule wird nur daran gearbeitet,
das Gedächtnis voll zu stopfen;
Verstand und Gewissen gehen leer aus.»
(Michel de Montaigne, ca. 1580)

Liebe Leserin, lieber Leser, ich habe Ihnen ja schon vor einiger Zeit nahe gebracht, daß Hellsehen eine Kernkompetenz für Lehrer ist; auch habe ich Ihnen aufgezeigt, daß die bayerische Bildung für Lehrer wenig mit dem Erlangen von Wissen und viel mit der Erstellung von Pseudostatistiken zu tun hat. Nun möchte ich Ihnen heute den Schulterschluss zwischen beiden Phänomenen zeigen: Institutionalisiertes Hellsehen.

Eine Kernkompetenz wie Hellsehen muß von den entsprechenden Institutionen vorgelebt werden, und wer kann diese edukative Aufgabe besser erfüllen als das Kultusministerium selbst? Also hat man sich aufgemacht, sprachlich das zu verfestigen, was man im Denken gerne hätte: Den eindimensionalen Schüler. Dieser wird in den einschlägigen Publikationen – insbesondere in den Lehrplänen – sehr schön sprachlich hergestellt, obwohl sich das Kultusministerium doch gerade die individuelle Entwicklung des Schülers als Ziel auf die Frontseiten seines Internetauftrittes schreibt, und dieses mit schönen Bildbotschaften untermauert, die alles zeigen, nur keinen Unterricht.

Doch wenden wir uns einem Lehrplan zu. Wenn Sie möchten, können Sie sich einen aussuchen und ein wenig darin herum stöbern. Was fällt uns an einem solchen Meisterwerk der Sprache und Ingenuität auf? Sicherlich vieles, doch was uns wohl am stärksten beeindruckt, ist die durchgehende Verwendung des Indikativs in der Beschreibung von Schülerfähigkeiten.

Hier ‹haben› Schüler regelmäßig bestimmte Lernstufen erreicht, ‹beherrschen› verschiedene Kompetenzen, ‹können› bestimmte Grammatiken ‹souverän› benutzen, daß es nur so ein Fest ist! Der bayrische Schüler hat keine Lernkurve, keine Entwicklung, keine eigenen Begabungen oder Motivationsprobleme, nein, er kann am Beginn eines neuen Schuljahres einfach das, was das Ministerium für angemessen hält und in den Lehrplan schreibt. Spannend, oder? Wie Grundschullehramtstudentinnen präkognitiv wissen können, was Schüler wissen können, weiß unser Ministerium, und dies sogar umfassend für alle Schüler in Bayern. Ich bin beeindruckt, immerhin arbeite ich mit diesen Schülern und kann mit Fug und Recht behaupten, daß ich ihre Leistung nicht schon vor der Klassenraumtür, geschweige denn vor der Tafel stehend einschätzen kann. Außerdem ist es für mich mittlerweile ein lahmer Truismus, daß Schülerleistungen nur durch sehr viele standardisierte Tests ‹festgestellt› werden können, und daß diese Tests immer nur und einzig und allein zeigen, daß sie funktionieren.

Doch, liebe Leserschaft, Sie werden sich sogar noch mehr wundern, wenn ich Ihnen hier einen kleinen Einblick in die Handbücher gebe, die man als Lehrperson von den Didaktik-Experten der Lehrbuchverlage in die Hand bekommt. Zwar findet sich dort die eine oder andere Perle, doch spannend ist gerade, daß auch in diesen Büchern für Lehrer gerne ein Indikativ gepflegt wird. Dort steht dann drin, daß ‹L› Vokabeln ‹vorentlastet›, ein grausames Beispiel absolut fehlgeleiteter Sprachlehre, oder auch, daß das Lernziel einer Aufgabe tatsächlich die ‹Auflockerung des Unterrichts durch einen Song› ist, wobei dazu noch relativ detailliert erklärt wird, wie man diese Auflockerung hinkriegt. Ja, das hat durchaus etwas von Gartenarbeit, denn auch die Saatbeschreibung ist enthalten, wenn zum Beispiel angegeben wird, welche Wörter die Schüler einfach mal so verstehen können. Spannend, ich werde auch regelmäßig danach gefragt.

Eigentlich ist es schon fast zum Lachen, wie sehr unser Bildungssystem an seiner Aufgabe vorbeischießt und wie alle – einschließlich der ‹wissenschaftlichen› Fachdidaktiker – mittanzen. Dabei ist das Ganze – insbesondere in Bayern – eigentlich nur ein striktes soziales Selektionssystem und es ist immer wieder richtig, es als solches zu benennen. Und dies Selektionssystem sieht seine frühere Aufgabe – die Bildung der Schüler – mit Hilfe eines Wörterbucheintrags als erfüllt an und muß sich selbst gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen, weil die Fähigkeiten der Schüler ja indikativ vordefiniert sind. Das Abitur soll ja auch auf eine Hochschulfähigkeit verweisen, was allerdings sehr viele Hochschuldozenten in steigender Stärke bezweifeln würden. Aber die Hochschullandschaft wird ja schon seit längerem an die Erwartungen des Selektionssystems angepaßt, wird doch heute an der Hochschule die Frequenz des Hechelns mit der Fähigkeit, eine komplexe Welt zu verstehen, gleichgesetzt.

Somit ist wenigstens das System in sich geschlossen und wir können als Lehrpersonen an Schulen und Universitäten in Ruhe den epochalen Mangel verwalten und kaschieren, bis wir endlich durch Produkte des Selektionssystems ersetzt werden, die all das, was uns Bauchschmerzen bereitet, mit Freude und einem unbekümmerten Auftragsverständnis erledigen.



Erstellt: 21. März 2009 – letzte Überarbeitung: 24. März 2009
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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