BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (17): Im Bus vergessen - die Schwierigkeiten beim Abholen von Schülern» von Tom B.
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Es gibt in der Pädagogik den vielzitierten Aphorismus, dass man die Schüler dort ‹abholen sollte, wo sie sind›. In letzter Zeit ist es mir passiert, dass ich meine Schüler wohl in einem metaphorischen Bus vergessen habe. Es begab sich, dass ich eine Arbeit schrieb mit katastrophalen Ergebnissen, die unter anderem daher rührten, dass viele der Schüler Schwierigkeiten hatten, die gestellten Fragen überhaupt zu verstehen. Wobei ich auf zwei Probleme gestoßen bin, die ich dem geneigten Leser und der geneigten Leserin nun aufzeigen möchte.


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Das erste Problem ist eines, das mir eigentlich hätte bewusst sein sollen, das mir dann aber doch entschwunden war. Heinz von Foerster formulierte einmal, dass ein Test erst einmal testet, ob ein Proband, in dem Fall der Schüler, diesen Test bestehen kann, unabhängig von Inhalten aller Art. In der Schule soll ein Test eigentlich ein bestimmtes Wissen oder spezifische Fertigkeiten testen. Und hier stand mir nun auf einmal Herrn von Foersters weise Erkenntnis direkt im Weg.

Zwar beschäftigt sich der durchschnittliche ‹Lehrkörper› überhaupt nicht mit solchen Fragen – oder nimmt das Problem als gegeben hin. Mich störte es jedoch, dass meine Schüler anscheinend daran scheiterten, die Formulierung einer Frage zu verstehen, die aus meiner Sicht einfach und klar gestellt war, und die ich deswegen auch für ‹einfach› beantwortbar hielt. Nun kann man zum einen sinnlos über die Dummheit der Schülerschaft lamentieren, was ich auch im entsprechenden Rahmen pflichtbewusst tat, zum anderen sollte man aber auch der Sache auf den Grund gehen. Denn eigentlich hielt ich die besagten Schüler gar nicht für so ‹unfähig›, wie es den Anschein hatte. Was sich für mich also heraus stellte, war, dass meine Schüler nicht den Test bestanden hatten, die Fragen zu verstehen. Das hatte zum einen die praktische Konsequenz, dass ich meinen Unterricht umstrukturierte, um halt meinen Schülern diese ‹Skill› – Fragen zu verstehen – beizubringen, aber es führte auch zu einer eher deprimierenden theoretischen Erkenntnis.

Im falschen Bus

Bei der Befragung meiner Schüler, warum sie sich mit dem Verstehen und Erkennen bestimmter Fragestellungen so schwer taten und tun, kam zutage, dass es an den Schulen, die sie bisher besucht hatten, Usus war, die gestellten Fragen so zu beantworten, wie es eine Schülerin mir erklärte: ‹Ohne auf die genaue Fragestellung im einzelnen einzugehen, schreibt man einfach alles, was einem zum Thema einfällt, hin, und dann kriegt man die meisten Punkte.› Übersetzt heißt das, man schmeißt jeglichen Inhalt, der grob in der Nähe des Themas ist, unreflektiert und ohne Zusammenhang mit der Fragestellung auf das Papier. Nun kann man sich vorstellen, dass eine Übertragung dieser Strategie in einen ernst gemeinten Unterricht in einer Oberschule schwierig wird. Schließlich möchte man da eben doch etwas mehr testen, als die Fähigkeit, ‹Romane› zu schreiben.

Doch gehen wir hier noch etwas tiefer und fragen uns, was uns diese Problemlösungsstrategie über das schulische Umfeld sagt, in dem diese Schüler ‹groß geworden› sind? Zum einen zeigt sich, dass hier anscheinend kein besonderer Wert darauf gelegt wird, dass Schüler auch ‹nonkonform› antworten können. Denn um eine solche Aufgabenhaltung zu erreichen, muß man als Lehrer effektiv nur auf reproduktive Aufgabenstellungen aus sein. Eine Bewertung oder Beurteilung eines Themas, oder auch nur eine einfache Transferleistung ist immer seltener gewünscht. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es natürlich weitaus angenehmer ist, wenn man als Lehrer bei der Bewertung und Korrektur von Aufgabenlösungen einfach nur einzelne unzusammenhängende Punkte ‹abhaken› muss, anstatt tatsächlich einen Text lesen und auf Sinnhaftigkeit prüfen zu müssen. Nur gibt das eigentlich kein Schulfach her, wenn man es ernst nimmt. Und die Einstellung, dass so etwas komplexes wie ‹politische Wirklichkeit› ohne Meinungspluralismus bei den Schülern gelehrt werden kann, ist wahlweise naiv oder gefährlich, wahrscheinlich beides.

Zum anderen zeigt sich, dass in den bisher besuchten Schulen kein gesteigerter Wert auf Präzision und eine eigenständige Denkleistung gelegt wurde. Wenn man sich als Lehrer aus der Menge des ‹auf die Seite erbrochenen Wissens› schlicht schmerzbefreit immer fein heraussucht, was man eigentlich wissen will, ohne das beliebige Durcheinander zu ahnden, entsteht natürlich ein Verhalten, das diese Möglichkeit ausnutzt. Schüler sind ja nicht dumm, doch sollten wir ihre Energie besser auf Inhalte richten als auf kreative Problemlösungsstrategien. Schüler verhalten sich entsprechend der Regeln, die wir ihnen setzen. Ist das Schreiben von ‹Romanen› erst einmal fein angelegt, dann tut sich natürlich der nächste Lehrer sehr schwer, wenn er das Paradigma wechseln möchte.

Es kann also nicht nur sein, dass wir unsere Schüler nicht wirklich da abholen, wo sie sind, es kann auch sein, dass sie im komplett falschen Bus weiterfahren. Denn meine Schüler sind auf der Straße des ‹Lösens von Aufgaben› teilweise in einer ganz anderen Richtung unterwegs als ich. Wobei ich mir wünsche, dass ich nicht umsteigen muss, sondern die Schüler wieder mit dem richtigen Bus ankommen. Aber Sie liebe Leser und Leserinnen wissen ja, dass auch auf den Busverkehr nicht immer Verlass ist.



Erstellt: 6. Dezember 2010 – letzte Überarbeitung: 8. Dezember 2010
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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