BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wie kränklich ist die Wirklichkeit? - Die Rhetorik der Psychopathologie - Ein Kongressbericht» von Tabitha Schwartzkopf
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Verehrte Freunde und Freundinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, dear friends!

Wir haben es geschafft! Die Taskforce Psychopathomythologie ist erfolgreich auf dem Berliner Kongress für Verhaltenstherapie aufgetreten! Wir haben während einer ‹Poster-Session› unser Plakat gezeigt, mit all den in unserem vorherigen Beitrag gesammelten Befunden zur Debatte um das DSM-5 in Deutschland. Eine Wirklichkeitsprüfung also. Wie wird wirklich gesprochen über diese ganzen Diagnosen? haben wir uns gefragt und Spannendes gefunden. Unsere liebsten Mitkonstruktivisten, Lothar, Manfred und Eugene, haben zunächst ein Seminar zum ‹Abschied vom psychiatrischen und psychotherapeutischen Größenwahn› gegeben, auf dem beinahe Eva Illouz aufgetreten wäre. Sie ist eine liebenswerte Dame aus Israel, die über die Psychiatrisierung der Gesellschaft forscht. Und der alte Professor Szasz war auch da. Hundert Jahre alt und hellwach stand an er seinem Stehpult, schimpfend: «Sicher ist ADHS keine Krankheit. Wenn es eine Krankheit wäre, würde man Sie damit zum Arzt schicken. Und da fragt Sie keiner, ob Sie sich gut benommen haben in den letzten Wochen.» Wunderbar! Ich bin später noch hingegangen und habe ihn umarmt. So ein süßer alter Mann! Jetzt war die Szene gesetzt für unseren großen Auftritt. Und was für ein Auftritt es war!!

Es startete langsam. Sehr wenige Beobachter kamen zu den 25 Plakaten. Keiner kam zu uns, zu mir und meinem alten Freund Thorsten. Und dann, schließlich, doch. Ein junger Mann, der so viel Abstand hielt vom Plakat, vielleicht weil ich direkt daneben stand. Er wirkte furchtbar schüchtern. Ganz gründlich hat er alles gelesen bis ich ihn angesprochen habe. Das war ihm unangenehm, aber dann kamen wir doch ins Gespräch. Worum geht es hier?, fragte er. Er sei Literaturwissenschaftler und nur zufällig vorbeigekommen. Und dann fängt er an zu reden, weiß viel mehr über Freud und Psychoanalyse als ich jemals wissen will und kennt auch die ganzen diagnostischen Debatten. Als ich gerade fragen will, was er später noch macht, geht er plötzlich. Verschwindet hübsch und leise wie er gekommen war. Erst als er nicht mehr zu sehen ist, wird mir klar: Das, liebe Freunde, war Timotheus Fleck, der – wie sollte es anders sein – schon wieder das Studienfach gewechselt hat.

Inzwischen hatte es sich ein wenig gefüllt. Von den 25 Postern waren ca. 20 experimentell orientiert. Akkumulativer Fragmentarismus alter Schule. Das ist heute wieder New School. Und vor diesen Postern steht eine kleine Menge von Leuten. Und dann gibt es noch uns, die anderen. Weil mir langweilig wird, besuche ich sie. Bleibe stehen bei Jenny, die mit MigrantInnen gesprochen hat, darüber wie es ist, in einem fremden Land zu sein und dann nicht zum Psychotherapeuten zu dürfen, wenn man jemand zum reden braucht. Mit Helen, die den Einfluss sozialer Faktoren auf die psychische Gesundheit erforscht. Mit Jane – irgendwie haben sie alle englische Vornamen wie ich –, die mit Eltern gesprochen hat, die ihren Kindern Krebsdiagnosen mitteilen mußten. Wir sind eine muntere Runde und sind uns sofort einig. Drüben die Menge, die da, unter sich, ja, worüber eigentlich?, redet. Und wir, die wir alle in unserem eigenen kleinen sozialen Club sind.

Es wird dann immer voller und unser Club löst sich auf, weil unser Poster über die Rhetorik der Psychopathologie doch noch Interessenten findet. Ältere Damen bleiben stehen und blinzeln auf die vielen, vielen Zeilen Text. Eine besonders alert wirkende Dame aus einer ganzen Truppe von Therapieveteraninnen bedankt sich für die abweichende Perspektive: «Endlich mal was Neues!».

Als sie gehen kommt ein junger, wissenschaftlich wirkender Mann zum Plakat. Er hat irgendwas mit der Kongressorganisation zu tun. Er nimmt sich eine Minute Zeit zum Lesen bis er mich anspricht: «Das ist ein Medienphänomen!» Wenn Allen Frances [1] Allen Frances (2013): Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: Dumont. (Allen Frances ist einer der ehemaligen Autoren des ‹Katalogs für psychiatrische Störungen DSM›.) nicht der Kritiker wäre, würde niemand darüber berichten. Und in Wirklichkeit habe sich von DSM-IV zu DSM-5 kaum etwas verändert. Er verstünde das Anliegen des Plakats nicht. Ich versuche es zu erklären. Er will aber lieber wieder über DSM-IV und -5 reden. Wenn die ersten Daten hereinkämen, könnte es sein, dass sogar weniger Diagnosen vergeben würden mit dem DSM-5, meint er.

Das erinnert mich daran, dass ein Epidemiologe neulich im Deutschen Ärzteblatt die Rückkehr zu einer sachlichen Debatte gefordert hatte. Dass die APA (American Psychological Association) längst eine Kommission eingerichtet habe und man eventuelle Probleme mit dem DSM selbst richten werde – falls es denn tatsächlich welche geben sollte. Hey, das fehlt auf dem Plakat noch. Das ‹Haltet Euch raus!›-Argument. Ich bin begeistert!

Inzwischen versammelt sich eine ansehnliche Menge vor unserem Poster, vielleicht angezogen von der Diskussion zwischen mir und dem Wissenschaftsverwalter. Der junge Mann hat mich gerade mit der Aussage irritiert, man könne dem DSM doch nicht seine eigene Logik vorwerfen. Denn weil das DSM eben seine eigene Logik habe, dürfe man es nicht kritisieren. Jetzt, liebe Freunde, begann er langsam mich zu ärgern. Ich habe ihn böse angeschaut und gefragt: «Wieso darf man das nicht?» Er antwortete und forderte, wir sollen nichts mehr sagen über die DSM-Diagnostik bis neue Daten vorlägen. Er sagt aber jetzt schon, dass unsere Arbeit, unser Artikel, unser Poster, ein Teil eines reinen Medienphänomens seien. Mir stellt sich die Frage: Wieso müssen wir auf neue Daten warten und er nicht? Das Gespräch endet dann auch bald.

Eine beeindruckende Dame kommt vorbei, mit einem Schwarm Studentinnen. Mein alter Freund Thorsten, der sich – wie Sie schon wissen – mit mir zusammen an unserem Poster präsentierte, sagt, es sei Anna Auckenthaler, eine Professorin für Gesprächstherapie. Sie zeigt auf unser Poster. «Das ist sehr interessant, da müssen wir nachher noch die Web-Adresse aufschreiben!» und weg ist sie. Eine Wittener Professorin kommt vorbei und zeigt mir auf dem Handy Bilder ihrer wunderbaren fußballspielenden Tochter.

Und dann kommt, mit der nächsten Menge, etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Es gibt nämlich Fragen, eine Menge Fragen. Und alle zu einem Thema, auf das ich im Traum nicht gekommen wäre. Nämlich zur Methodik. Mit welcher Methode seien die Daten erhoben worden? «Wie sind die Daten geordnet worden?», «In welchem Zeitraum wurden die Daten erhoben?» Ob wir ausschließlich Professoren angesprochen hätten für die Interviews. «Wie haben Sie ihre Gesprächspartner ausgewählt?» Jenny, vom Migrantinnenplakat, macht sich einen Spass daraus, meine wissenschaftliche Assistentin zu spielen. Zwinkernd erklärt sie den Unterschied zwischen Skripten und Mythen und dass man das hier ‹Wirklichkeitsprüfung› nenne. Sie hatte das auch wissen wollen. Vorhin. So grob, neben anderen Dingen. Aber dieser methodische Furor jetzt, darauf war ich nicht vorbereitet. «In welcher Form haben Sie die Repräsentativität der Aussagen abgesichert?» Old School – New School.

Mir wird klar: Ich sollte unser Vorgehen erklären. Eigentlich war es beim Schreiben unseres Artikels über die Rhetorik der Psychopathologie so, wie es immer geht: Wir nehmen ein paar Artikel, warten gutes Wetter ab, setzen uns ins Macondo und während wir Milchkaffee trinken, fängt Thorsten umständlich an, die Texte zu sortieren. Er bildet Kategorien, sammelt Zitate, ordnet und schreibt ein paar Sätze. Dabei tut er sich schrecklich schwer. Da habe ich meistens Zeit, meinen Vater in den USA anzurufen und zu hören, was die Familie so macht. Thorsten wirkt während der Ordnung der Dinge so angestrengt, daß ich ihn immer wieder ermutige mit einem «Das ist gut.», «Genau! Das gehört hierhin.», «Schreib das so.» usw.). Am Ende ist es dann meistens eine runde Sache. Wir haben alle gefundenen Zitate eingeordnet, und wir haben ein Sprach-Netz, eine Konnotations-Falle, ein Geflecht, ein Maschenwerk von Begriffen und Argumentations-Stilen ausgeworfen, in dem dann auch aus den anderen Texten Zitate hängen bleiben. Ist es wirklich so? Repräsentiert das eine Wirklichkeitsprüfung? Well, die Wirklichkeit sah niemals echter aus, Darling.

Doch bevor ich sprechen und den um uns herum stehenden Menschen erklären kann, wie wir ‹wirklich› vorgegangen sind, ergreift Thorsten das Wort und macht der Menge in deren Worten begreiflich, es sei so eine Art ‹Qualitative Inhaltsanalyse› gewesen. Doch die Fragen hören nicht auf: Bestand das Team nur aus Psychologen? Nein, ja, eine Sprachwissenschaftlerin sei auch dabei gewesen. (Er zwinkert mir zu.) An welcher Uni sei diese Untersuchung gemacht worden? An der Ruhr-Universität zu Bochum. An welchem Lehrstuhl? Nun, es handele sich bei der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› um einen lockeren Verbund ehemaliger Mitarbeiter der Fakultät für Psychologie. Und, nein, Dietmar Schulte, der ehemalige Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie, habe unsere Arbeit nicht unterstützt. Und, nein, Fördergelder hätten wir auch nicht bekommen. Und da lacht eine der um uns Herumstehenden und sagt:
«In der Freizeit noch was für die Wissenschaft tun? Soweit kommt es noch.»
Welch ein Schlußpunkt! Ach! Es war wunderbar!

Es grüßt Euch,

yours truly,

Tabitha



Ins Netz gestellt am 1. Mai 2014
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