BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Im Gehirn gibt’s nix zu sehen!» von Artus P. Feldmann
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«Sehen heißt glauben.»
(Felix Hasler)

Prolog

Seit Jahren amüsieren wir uns in der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› über die derzeit so angesagte sogenannte ‹Hirnforschung›. Und immer wieder denken wir, es wäre endlich mal an der Zeit, zusammenfassend zu sagen, mit welcher Chuzpe welcher Unsinn in der ‹Hirnforschung› aggregiert wird und zu welchen bitteren Konsequenzen dieser Unsinn bis heute geführt hat. Den Titel für diese kleine Suada haben wir schon vor Jahren entworfen: «Im Gehirn gibt’s nix zu sehen!»


Déjà vu

Dieses Amüsement erfüllte uns auch, als vor vielen Jahren die Forschung zur sogenannten ‹Artificial Intelligence› (AI) gehypt wurde und danach die Forschung zur sogenannten ‹Gentherapie›. Nun, von der mit Milliarden unterstützten ‹AI-Forschung› hört man gar nichts mehr. Denn wer heute glaubt, das Eingeben von Sprachbefehlen in ein Smartphone hätte was mit AI zu tun, täuscht sich. Der per Sprache geweckte ‹Persönliche Assistent› im Smartphone führt einen Auftrag aus, in dem er blitzschnell auf einem Server die mögliche Reihe von Antworten scannt. Das ist alles. Hat das Nachsehen in einer Liste etwas mit Intelligenz zu tun? Nein, die AI-Forschung wurde in aller Stille begraben.

Und zu Beginn des Humangenomprojektes in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts hieß es, durch das Sequenzieren aller menschlichen Gene könne man lernen, defekte Gene gegen bessere Gene auszutauschen und eine Fülle von Krankheiten zu heilen. Also gingen die Milliarden in diese Richtung. Nun sind die Gene des Menschen kartographiert, schön, nur, was die einzelnen Gene und vor allem das Zusammenspiel verschiedener Gene für den Menschen bedeuten, das weiß man nicht. Und der schlichte Glaube, dies bestimmte Gen sei für das und das andere Gen für dies und das zuständig, nein, dieser Glaube hat sich nicht erfüllt. Von einer gezielten Gentherapie schweigen wir jetzt lieber. Bis heute gibt es kein einziges Verfahren dieser Art. Wie auch?

AI und Gentherapie sind in aller Stille verschieden. Aber wir haben ja heute die Hirnforschung, zu der die Milliarden gewandert sind. Eine Weile wird dieser Hype noch währen, dann gibt es wieder einen Abschied.


Felix Hasler: Neuromythologie [1] Felix Hasler (2012): Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript-Verlag.

Vor ein paar Jahren hat Felix Hasler ein ganz wunderbares Buch geschrieben, in dem er mit großer Genauigkeit und Geduld aufzeichnete, was wir immer über die Hirnforschung schreiben wollten. Gott sei Dank, wir sind entlastet. Denn Hasler hat wirklich einen unglaublichen Überblick, er erklärt nicht nur die Methoden der Hirnforschung sondern untersucht auch die Konsequenzen, bis in die kleinen und großen Skandale und Betrügereien hinein. Wir schauen uns einige seiner Überlegungen an und ergänzen sie hier und da.

Die Grundthese der Hirnforschung ist einfach: Wir schieben die Leute in einen engen und sehr lauten Apparat, der Magnetfelder erzeugt und nennen das Magnetresonanztomographie. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) verfeinert das Vorgehen in der Hinsicht, daß nun Klienten in dieser Krachröhre irgendetwas gezeigt wird oder sich diese irgendetwas vorzustellen haben, und dann versucht man, im Gehirn Areale zu finden, die - im Vergleich zu einem ‹Ruhezustand› - aktuell nun vermeintlich aktiv oder inaktiv sind. Aktiv sollen Areale sein, die stärker durchblutet sind und im Moment also mehr Sauerstoff verbrauchen. Das ist alles. Und das wichtigste ist, daß ‹Aktivität› immer irgendetwas zu bedeuten hat. Daß es neuronale Aktivitäten gibt, die zu einer Verengung von Blutgefäßen führen können, und damit der zentralen These widersprechen, geschenkt. Die Hirnforschung ist eine Wissenschaft der guten Nachrichten.

Im Anschluss an die ‹Messung› errechnet ein Computer Blutfluss und Sauerstoffbedarf in angesagten Arealen, vergleicht diese mit eben dem sog. Ruhezustand und produziert schöne Bilder. Deswegen faßt man diese Herangehensweise auch unter dem Wort ‹Bildgebende Verfahren› oder ‹Neuroimaging› zusammen. Diese Bezeichnungen sind sehr gut gewählt, denn ein fMRT bildet eben nicht das Gehirn ab, gibt eben kein Bild vom Gehirn, sondern erzeugt schöne Bilder aufgrund komplexer und langwieriger statistischer Berechnungen, bei denen eine Fülle von Entscheidungen zu fällen sind. Im Gehirn selbst gibt’s nix zu sehen. Auf den Bildern schon. Wie sagt es Felix Hasler? Hirnscanner sind Evidenzmaschinen. Oder anders, Bilder werden immer erzeugt. Nur was bedeuten sie?

Im folgenden werden wir einige Punkte heraussuchen, die uns angesichts der ‹Hirnforschung› besonders amüsieren oder erschrecken. Nicht vergessen, wir folgen dem wunderbaren Buch von Felix Hasler!

  • Es ist völlig klar, daß unser Gehirn an allem beteiligt ist, was wir tun oder fühlen, daß unser Gehirn also immer aktiv ist. Anders wär nämlich schlecht.
  • Die Frage, was wir davon haben, wenn wir zu wissen meinen, bei der und der Emotion (Liebe! Haß! Furcht!) käme es in bestimmten Gehirnarealen zu einer stärkeren Durchblutung, ist bis heute ungeklärt. Lokalisationstheorien hatten wir schon.
  • Es erscheint verwegen, zu glauben, Liebe, Angst oder sonstwas würde im Gehirn nur in einem abgegrenzten Areal repräsentiert. Das Gehirn ist Großmeister des Zusammenhangs.
  • fMRT-Messungen variieren zwischen Personen und innerhalb einer Person extrem. Das Wort Reliabilität einer Messung kann hier keine Rolle spielen.
  • Das Gehirn ist ununterbrochen aktiv, überall. Dieses Hintergrundrauschen ist so stark, daß sich vermutete oder erwartete Aktivitätseffekte in bestimmten Arealen kaum durchsetzen können.
  • Über dieses Hintergrundrauschen im allzeit aktiven Gehirn ist der Klient in der Röhre auch zum einen einem besonderen Krach ausgesetzt, und zum anderen soll er sich zum Beispiel irgendetwas ansehen. Die Aktivierung des Hör- und Sehapparates soll keine Rolle spielen bei der folgenden vermeintlichen Spezial-Aktivierung.
  • Viele Bildgebungsstudien werden ohne jede Ausgangshypothese gemacht. Man schiebt den Klienten in die Röhre, gibt ihm irgendeinen Auftrag, und hofft, daß im Gehirn irgendetwas zu sehen ist. Die erhobenen Daten werden dann statistisch so lange aufbereitet, bis irgendetwas herauskommt. Hasler sagt: «Einfach mal im Trüben fischen und dann so tun, als hätte man von Anfang an gewusst, wonach man sucht. (Seite 52)»
  • Von einer Beobachtung zweiter Ordnung, von einer Beobachtung des Beobachters, haben die angesagten Hirnforscher noch nie etwas gehört. Sie zeigen ihre bunten Bildchen ohne die geringste Ahnung zu haben von Epistemologie und Wissenschaftstheorie.
  • Die Tendenz, allem wesentlichen Menschsein das Gehirn vorzuorten, ja vorzuschalten, ist einfach lächerlich. Die berüchtigten Libet-Experimente, in denen vermeintlich gezeigt wurde, daß das Gehirn schon vorher weiß, was wir gleich tun werden, sind hinreichend kritisiert worden.
  • Die Konsequenzen aus dem Hirnforschungshype sind fatal. Vor etwa zehn Jahren hieß es etwa, wir alle hätten keinen freien Willen, weil unser Gehirn für ‹uns› alles entscheidet. Diese Logik muß man sich einmal vorstellen. Gehört das Gehirn nicht zu uns?
  • Wissenschaftler, die sich im Hirnforschungshype wohl fühlen und sich wichtig machen wollen, schreiben tatsächlich so etwas wie «Tatort Gehirn: Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens». Auf dem allerniedrigsten Niveau werden hier unbeweisbare Thesen aufgestellt, die nicht nur sofort ihren Weg zu BILD und FOCUS finden, sondern in denen auch eine neue Ausrichtung der Rechtsprechung verlangt wird. Dein Gehirn - Dein Schicksal! Wer es im Gehirn hat, kann doch nichts für seine Taten. Oder so. Welche unphilosophischen Abgründe tun sich hier auf. Es ist zum Fremdschämen.
  • Die Konsequenzen aus dem Hirnforschungshype sind sehr praktisch und willkommen für eine final-kapitalistisch geprägte Bio-Psychiatrie und Bio-Psychologie. Wenn alles wesentliche des Menschseins im Gehirn entsteht, können wir das Psychosoziale negieren, Kultur, Zeit, soziale Räume, Armut: Vergessen wir das alles. Menschen werden zu isolierten Gehirnen in einem sozialen Vakuum. Toll. Natürlich brauchen wir auch keine Psychotherapeutinnen oder Sozialarbeiterinnen mehr. Siehe den nächsten Punkt.
  • Wenn alles wesentliche des Menschseins im Gehirn entsteht, ist es nötig, das Gehirn zu behandeln, was sonst. Praktischerweise hat der medizinisch-industrielle Komplex Pharmaka erfunden und massiv beworben, die sich um das Gehirn kümmern. Toll. Wie wenig Substanz die Wirksamkeitsstudien etwa zu den ‹Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern› haben und welche Betrügereien und welche unvorstellbare Korruption bei der Einführung dieser Substanzen zu beobachten waren, das beschreiben Robert Whitaker und Lisa Cosgrove in ihrem großartigen Buch [2] Robert Whitaker & Lisa Cosgrove (2015): Psychiatry under the Influence - Institutional Corruption, Social Injury, and Prescriptions for Reform. New York: Palgrave MacMillan..
  • Der Hirnforschungshype hat dazu geführt, daß wissenschaftliche Studien von den Forschern am ehesten gefördert und bewundert werden, wenn sie reduktionistische, biologistische und mechanistische Thesen vertreten. Dann verleiht die ‹Deutsche Forschungsgemeinschaft› diesen herausragenden Vereinfachern auch schon einmal den ‹Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis›.
  • Der Hirnforschungshype hat aber auch dazu geführt, daß Forscher aus den Bereichen der Psychologie und Soziologie heute bei ihren Anträgen auf eine Förderung ihres Vorhabens regelmäßig ‹irgendetwas mit Neuro› hinein schreiben müssen.


  • Das soll genügen.

    Schließen möchten wir mit einem wunderbaren Aphorismus von Stephen Kosslyn [3] In: Felix Hasler a.a.O. Seite 37.:
    «Wenn Neuroimaging die Antwort ist, was war die Frage?»




    Ins Netz gestellt am 5. August 2014
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