BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Störungszentrierte Therapie - mehr Kunst als Wissenschaft» von Rufus Wolfo
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Ein Kommentar aus der Praxisperspektive zu
Peter Fiedler: Psychotherapie im Wandel: Ein Kritischer Blick zurück in die Zukunft. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, Heft 2/2016.



Prof. Fiedler (Uni Heidelberg) geißelt den therapieschulenspezifischen Dogmatismus, der mit Sigmund Freud begonnen habe, als dieser und seine Getreuen den ersten Bannfluch gegen Alfred Adler aussprachen. Später kam der gegen den Schweizer Psychiater C.G. Jung dazu. Die Ausgestoßenen gründeten ihre eigenen Schulen und schlossen wiederum - getreu dem Vorbild ihres Übervaters - Abweichler aus den eigenen Reihen aus. Bis weit nach dem zweiten Weltkrieg sei die Sektenbildung weiter gegangen, neben den tiefenpsychologischen entstanden weitere wie gesprächspsychotherapeutische, humanistische, systemische, verhaltenstherapeutische und andere. Die Gründung neuer Glaubensgemeinschaften sei in der BRD kurz vor der Einführung des Psychotherapeutengesetzes [1999] so richtig in Schwung gekommen. Jede dieser Gruppierungen wollte präsent sein, als der in Aussicht stehende Kuchen kassenfinanzierter Psychotherapieanbieter zur Verteilung kam. Doch bekanntlich wurde daraus bis heute nur etwas für die drei, die bereits vorher im Boot der Psychotherapie-Richtlinien saßen: die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologie und die Verhaltenstherapie.

Jede dieser Schulen habe bis heute eine Neigung zum monolithischen Festhalten an allumfassender Zuständigkeit, die in die Forschung hinein reiche, in der es nicht selten nur um die Konkurrenz zwischen Verfahren ginge, um Sieger und Verlierer, auch wenn die Unterschiede nicht mehr als hauchdünn seien. Meist gewinne der von vornherein feststehende Favorit der jeweiligen Forschergruppe. In einem solchen Konkurrenzdenken werde nicht hinterfragt, was die erfolgreichen Patienten der einen oder der anderen Gruppe unterscheide und wieso ein Verfahren vielen Patienten nicht geholfen habe. "Nicht die psychischen Störungen sind Ausgangspunkt für Überlegungen, wie ihnen am besten beizukommen wäre, sondern das Festhalten an 'Treu und Glauben' innerhalb eines für allgemeingültig gehaltenen Erklärungsrahmens oder Menschenbildes mit einem zugehörigen Satz therapeutischer Prinzipien und Verfahren" (S. 309).

Dieser Dogmatik stellt Fiedler den störungszentrierten Forschungsansatz gegenüber: Wirklich tragfähige Fortschritte hätten sich nicht aus der Fortentwicklung und Evaluation psychotherapeutischer Strategien und Techniken ergeben, sondern aus dem besseren Verständnis biologischer, psychischer und sozialer Prozesse, mit denen sich die Entstehung, Aufrechterhaltung und Beeinflussung psychischer Störungen erklären ließen. Richtigerweise hätte es darum gehen müssen, in Ausbildung und Forschung auf ein Spezialistentum im Umgang mit psychischen, psychiatrischen und psychosomatischen Störungen hinzuwirken und nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Therapieschule (S. 309). Viele frühere Sichtweisen hätten sich angesichts zunehmender Störungskenntnis nicht nur als falsch, sondern auch als für die Behandlung schädlich erwiesen. So seien Störungen von der Psychosomatik zurück in die medizinischen Behandlung gewandert, z.B. Bronchialasthma, Migräne, Colitis ulcerosa, Hypertonie, Magengeschwüre u.a. Auch hätten die wachsenden Kenntnisse über den Autismus heute zu besseren, empirisch gesicherten Frühbehandlungen geführt. Bereits heute seien die auf besserem Störungswissen beruhenden Fortschritte unverkennbar, insbesondere in der Behandlung 'schwerer' Störungen wie Schizophrenie, Depression, Zwangsstörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. An wichtigen Forschungsinstituten würden kaum noch störungsübergreifende Therapiestudien durchgeführt. Für die störungsspezifischen Behandlungskonzepte seien empirisch gesicherte Entstehungs- und Verlaufsbedingungen maßgeblicher Begründungskontext und nicht einfach die Diagnose! (S.311). Zur Behandlungserforschung befürwortet Fiedler allerdings nicht den gängigen RCT-Standard, sondern eine 'komparative Kasuistik', also den "Weg einer aufsteigenden, verallgemeinernden Erkenntnisgewinnung, der von einzelnen Fällen seinen Ausgang nimmt ..." (S. 312). Jeder Einzelfall könne als eine Variationsform einer jeweiligen psychischen Störung aufgefasst werden. Wiederholt sollten Einzelfälle detailliert erforscht werden, "um dann - aufsteigend - zu überindividuellen Erkenntnissen vorzudringen." (S. 312)

Allein, die empirische Absicherung ist so einfach nicht, wie diese einleuchtenden Sätze vermuten lassen. Oft wird sie schulenspezifisch verstanden und gehandhabt. Folglich ist man sich uneins über die Methodologie, mit der die Empirie erzeugt wird, über den Grad ihrer Sachangemessenheit und deren Validität. Auch entsprechen, wie Fiedler klar sieht, die jeweiligen Erklärungsmodelle immer nur dem Stand des wissenschaftlichen Fortschritts, der zumeist nicht nur dem Zeitgeist, sondern aktuell den gerade in Mode gekommenen Trendsettern entspreche. Sicherlich weiß Prof. Fiedler auch, dass induktives Verallgemeinern aus empirischen Ergebnissen logisch nicht zu begründen ist. Der Wissenschaftstheoretiker Sir Popper hat dieses, aufbauend auf seinem Vorgänger Hume, ausführlich dargelegt. Doch dieses negative Votum soll hier nicht überstrapaziert zu werden, weil der nomothetische 'RCT-Goldstandard in der bisherigen Psychotherapieforschung auch nicht zu Aussagen führt, die über die Mittelwerte und Varianzen der jeweiligen Stichproben hinaus Gültigkeit beanspruchen können. Die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse solcher Studien beruht trotz beeindruckendem technischen und statistischen Aufwand nicht auf einer soliden Logik der Erkenntnis, sondern vermutlich auf dem Gefühl, dass 'mehr Studien und Probanden' auch irgendwie zu ' sichereren Ergebnissen' führen.

Beruht Fiedlers Zuversicht darauf, dass es "empirisch gesicherte Entstehungs- und Verlaufsbedingungen" geben könnte, wobei eine störungsorientierte Forschung nicht an Diagnosen ausgerichtet sein müsse? Doch wie ist eine psychische Störung unabhängig davon zu erfassen? Existiert sie als eine eindeutig bestimmbare Entität jenseits der diagnostischen Kategorien des ICD oder DSM? Oder gar als transzendenter Gegenstand wie das 'Ding an sich' des Philosophen Kant, dessen Existenz man annehmen muss, damit eine Ursachen-Wirkungs-Relation von einer Grund-Folge-Relation unterschieden werden kann? Wäre eine solche Bestimmbarkeit anders zu erhalten als durch valide und reproduzierbare Messprozesse, die zudem eine eindeutige Unterscheidung zwischen zufälligen und systematischen Messfehlern gestatten? Nach solche sucht man jedoch in der Methodologie der psychologischen Forschung wie nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass Fiedler konkret jene Störungen aufzählt, die von der tiefenpsychologischen Psychosomatik zurück in die medizinische Behandlung gewandert sind. Denn dieser Fortschritt beruht auf Messprozessen, die, wenn auch in der medizinischen Forschung durchgeführt, physikalische Messprozesse sind. Jeder, der sich ein bisschen kundig gemacht hat, kann wissen, dass z.B. das in der Hirnforschung verwendete fMRT auf physikalischen Messprozessen beruht! Auf physikalischen Messprozessen beruht beispielsweise auch das 'verhaltensmedizinische' Bio- und Neurofeedback. Doch allein dadurch, dass in der selbsternannten Verhaltensmedizin und der Hirnforschung physikalische Messprozesse verwendet werden, werden diese noch nicht zu einer Naturwissenschaft.

Bei den bekannten psychologischen 'Messinstrumenten' besteht die Schwierigkeit im Gebrauch der Worte. Jeder Proband erfährt sie, sobald er beispielsweise die Items eines Fragebogens beantworten soll. Welche Bedeutungen haben die Worte, die Items, die Sätze, die da stehen? Haben sie eine, die bereits feststeht und die ein Proband lediglich erfassen oder erraten muss, um überhaupt richtig reagieren zu können oder haben sie just jene Bedeutung, die ein Proband ihnen im Moment der Beantwortung beilegt? Was befähigt den auswertenden Forscher aus der bloßen Summation der Antworten zu entnehmen, dass alle, die gleich geantwortet haben, gleiche Bedeutungen in den Fragen gesehen haben? Und welche Unsicherheit kommt noch hinzu, wenn wir beginnen zwischen 'Sinn' und 'Bedeutung' zu unterscheiden? Falls jedoch die Verwendung gleich lautender Worte nicht die Gleichheit der damit intendierten Bedeutungen oder gar des Sinnkontextes garantiert, wie lassen sich dann Ergebnisunterschiede valide voneinander abgrenzen? Was garantiert, dass auf solchen Messinstrumenten beruhende Vergleiche zu valide unterscheidbaren Typologien führen, und solchen, die nicht bereits im Voraus unterstellt waren? Dergleichen Fragen verweisen zurück zu Überlegungen, die der der Psychoanalyse abtrünnig gewordene Psychiater Prof. Szasz bereits im vergangenen Jahrhundert angestoßen hatte.

Fiedler geht es um selektive Indikation und differenzielle Psychotherapie - und nicht um Psychotherapieintegration. Schon gar nicht dürfe eine phänomen- und störungsorientierte Psychotherapie mit standardisierter Psychotherapie gleichgesetzt werden. Dabei bestreitet Fiedler nicht den Nutzen manualisierter Therapieprogramme. Das Vorgehen bleibe allerdings in der Herleitung konkreter therapeutischer Strategien immer ein behutsam mit Patienten abzustimmender Prozess, der vorrangig auf Plausibilitätserwägungen basiere, die durch immer besseres empirisches und theoretisches Wissen abgestützt werden müssten. Dennoch bleibe die Therapie ein immer induktiv und hermeneutisch zu gestaltender Prozess zur Findung therapeutischer Strategien, über die zugleich ein Konsens mit den Patienten hergestellt werden müsse. Fiedler erteilt der Illusion eine Absage, wonach ein Mensch in seiner Ganzheitlichkeit zu erfassen sei. Nicht einmal die spezifische Störung lasse sich als Ganze durchschauen. Folglich - und nun kommt für jede TherapeutIn, die im Lesen des Textes bis dahin durchgehalten hat, die Wendung zur Praxis - wandere jede Psychotherapie ..." von Sitzung zu Sitzung von einem Versuchsstadium ins nächste." (S. 313) Eine jede Behandlung gehe von der Beobachtung am neuen Einzelfall aus, auch wenn sich Therapeuten von vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnis leiten lassen (S. 313). Auch wissenschaftlich begründete therapeutische Techniken stoßen in der Praxis an ihre Grenzen und ihre Anwendung im Einzelfall sei eine "Kunst" (S. 314). Selbst evaluierten Therapietechniken sollte man nur mit kritischen Blick vertrauen. Somit sei der Psychotherapeut in vielen Situation gezwungenermaßen sein eigener Psychotherapieforscher und bleibe dies vermutlich fortdauernd trotz wissenschaftlichem Fortschritt und erworbener Routine.

Ei! Welch' Fazit für die Praxis! Nicht, dass mir das permanente Versuchsstadium nach mehr als 25 Jahren Erfahrung als Therapeut nicht bestens bekannt wäre! Schlimmer noch, je öfters ich alle alten Theorien über Bord werfe und mich auf den konkreten Ablauf in der Situation einlasse, desto gefestigter weiß ich in jedem Fall, dass ich anfänglich nichts weiß! Doch Hand auf's Herz: Wer will das denn wissen oder gar in einer Psychotherapiepraxis gesagt bekommen? Die Krankenkassen, die auf geprüfte Behandlungsstrategien pochen, die vor allem kurze und effektive Behandlungen ermöglichen? Niemals! Die hätten doch am liebsten überwiegend diagnosespezifisch als wirksam geprüfte Standard-Gruppentherapien. Der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen? Kaum vorzustellen! Wer das urzeitliche Kausalitätsgefasel und die festgeklopften Verfahren in den Psychotherapie-Richtlinien gelesen hat, und weiß, wie pingelig das Institut für Qualität nach geprüft-wirksamen Standardverfahren sucht, kann für das komparative Vorgehen wenig Hoffnung haben. Die Patienten, die voller Angst und Unsicherheit in die Praxis kommen und eine sichere Behandlung erwarten, die Ihre Störung ursächlich beseitigt? Auch nicht! Viele unter den Heutigen hätten doch gerne einen Therapeuten, der so einfach zu bedienen ist wie eine App. Die Psychotherapeutenverbände, die die wissenschaftliche Fundierung der jeweiligen Psychotherapieschulen unterstreichen, um in den gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen Einfluss und Gewicht zu bekommen? Naja, vielleicht könnte man mal darüber diskutieren, sofern man mit den geprüften Standardtherapien nicht mehr unter dem Beweisdruck steht, dass diese besser wirkten als Medikamente.

Selbst Prof. Fiedler scheint nicht so recht daran zu glauben, dass die komparative Kasuistik jemals mehr als ein Wegweiser für die Praxis werden könne. Ich lese Fiedlers Beitrag als bestes Bemühen um Aufklärung in jenem Sinne, in dem Wissenschaft die erforschten Tatsachen dem bloßen Meinen und den Vorurteilen gegenüber stellen soll. Doch bereits dem Philosophen Hegel war klar, was geschieht, wenn die Aufklärung auf dem Markt der Buchstaben unter die vielen Meinungen tritt: Sie wird dort selbst zu bloßen Meinung in der Konkurrenz zu anderen Meinungen und damit zu einer 'Schule' neben anderen 'Meinungsschulen'. In Zeiten, in denen die Patienten ihr Wissen aus dem Internet beziehen, wirkt diese Meinungsvermarktung ungebremst. Im Web steht alles nebeneinander, die beste Wissenschaft neben der Wahrsagekugel, die klügste Differenzierung neben dem propagandistischen Ganzheitsgerede und der buchstabengläubige Schöpfungsmythos neben den Erkenntnissen der physikalischen Astronomie. Mittlerweile allerdings mit Einschränkungen: Soweit diese Meinungen durch die im Hintergrund steuernden Monopolisten und die staatsnahen Überwachungsorgane zugelassen werden. Einschätzen was Wissen ist, können nur diejenigen, die bereits eine Struktur der Wissensbildung verinnerlicht haben. Ich fürchte, dass in Zeiten wachsender Konkurrenz der Individuen untereinander, die spüren oder überzeugt sind, funktionieren zu müssen, das menschliche Sicherheitsbestreben eher zu dogmatischen Gewissheiten neigt, als zu jenen Offenheiten und Unbestimmtheiten, die mit einer komparativen Kasuistik verbunden sind und voraussichtlich auch bleiben werden.



Ins Netz gestellt am 20. Dezember 2016
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