BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Wahrheit über Männer und Frauen (1): Grundkurs»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2015)
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Vorbemerkung

In unserer kleinen Skizze zu einer Mythographie des Kaufens haben wir so nebenbei erwähnt, daß die soziale und lokale Konstruktion von genau zwei Geschlechtszugehörigkeiten in unserer Kultur nichts mit dem ‹biologischen Geschlecht› zu tun haben muß. Dies führt immer wieder zu einigen verwunderten Anfragen an die Redaktion. Deswegen möchten wir den Gedanken in dem folgenden kleinen Traktat ein wenig ausführlicher erläutern und auf die Konstruktion von ‹Frauen› und ‹Männern› in den großen Erzählungen von Moderne und Postmoderne eingehen. Dazu müssen wir allerdings ein wenig ausholen.


2. Unterscheidungen

Kultur ist nicht nur Reichtum an Problemen, wie es Egon Friedell mal gesagt hat, nein, eine ihrer Hauptaufgaben ist es eher, Probleme durch das Treffen von Unterscheidungen erst zu stiften. Und selbstverständlich glauben die Angehörigen einer Kultur, daß die getroffenen Unterscheidungen eben dieser Kultur förderlich sind. Kultur heißt also: Unterschiede machen. Und jede Unterscheidung führt natürlich zu weiteren Unterscheidungen.

In unserer Kultur gibt es nun mehrere große und wichtige Unterscheidungen, die soziale Klassifikationen, Stratifikationen und Segregationen von Menschen ermöglichen und erlauben, die also Ordnung herstellen. Welche Kategorien sind das? Was sind die wichtigsten Unterscheidungen in unserer Kultur, wenn Menschen betrachtet werden? Nun, es sind

  • Klasse (Sozialschicht, sozioökonomischer Raum, soziale Gruppe, kommunales System),
  • Ethnie (national oder regional), und damit auch das ‹Fremde› oder ‹Vertraute›,
  • Geschlechtszugehörigkeit und
  • Alter.

  • Diese Unterscheidungen sind nun keineswegs neutral, sie sind mit Status, Rang, Ansehen, also mit Konsequenzen verbunden, ja sie ermöglichen eine soziale Kontrolle, die Ausübung sozialer Macht und damit soziale Ungleichheit und soziale Benachteiligung.

    Setzen Sie sich, lieber Leser und liebe Leserin, mal in ein Straßencafé und betrachten sie, was die vorüber flanierenden Menschen mit dem, was sie anhaben und mit sich tragen, zeigen wollen. Es wird Ihnen überaus leicht fallen, hier tentative Zuweisungen zu sozioökonomischen Klassen vorzunehmen. Und nun stellen Sie sich vor, eine der von Ihnen beobachteten Personen würde Sie ansprechen und etwas fragen. Wie würden Sie auf wen reagieren? Oder stellen Sie sich vor, Sie müßten entscheiden, wem von den Passanten sie eine Wohnung vermieten oder einen Job anbieten würden; oder wen Sie gar als Freund akzeptieren könnten.

    Und schon sehen Sie, wie eng das wird, wie die Zugehörigkeit zu Klasse, Ethnie, Geschlechtszugehörigkeit und Alter – bzw. zu einer Kombination dieser Systeme – im sozialen Diskurs immer eine Rolle spielen wird. Nur ganz nebenbei: Das müßte nicht sein. Rein theoretisch kann man eine Diskurspartnerin weder als Mann oder Frau, noch jung oder alt, noch Ober- oder Unterschicht, noch Türkin oder Norwegerin sehen, sondern als ‹Mensch›. Aber wer kann das? Wie soll das gehen? Wo könnte das geschehen? Was meinen Sie, lieber Leser und liebe Leserin?

    Kultur heißt also: Unterschiede machen. Kultur heißt aber auch: Kommunikation. Und die für eine Kultur wichtigen Unterschiede werden permanent, d.h. immer wieder und pausenlos in kulturellen und sozialen Spielen interaktiv hergestellt. Selbstverständlich spielen die Kategorien nur dann eine Rolle, wenn sie von einem Diskurspartner auch eingeräumt werden (vgl. dazu unser Arbeitspapier Nr. 9 zum Thema Macht). Dabei kann eine bestimmte soziale Ordnungskategorie von uns artikuliert und herbeigezaubert werden (wir werfen gleichsam eine Spielkarte auf den Tisch, auf der der Systemname ‹Frau› steht und hoffen, daß sie als bedeutsam, als Trumpf akzeptiert wird); oder aber eine Diskurspartnerin sieht uns als zu einer dieser Unterscheidungen gehörig, vielleicht sogar gegen unsere Absicht, und wir haben nun die Möglichkeit, diese Kategorie einzuräumen oder nicht. Werden wir im interaktiven Diskurs einer dieser Unterscheidungen zugeordnet, beeinflußt das den weiteren Diskurs. Oder anders: Unsere angebliche Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie gibt uns einen sozialen Ort vor, in dessen Bedeutungshof wir uns zu bewegen haben. Dieser Ort kann – als Freiraum – durchaus die Größe eines Bierdeckels haben.

    Eine Mischung dieser Unterscheidungen ergibt nun den kulturell ‹natürlichen› Status und die Position einer Person in der Gesellschaft. Unser Platz in unserer Kultur und in unserem kommunalen Subsystem ergibt sich also aus der interaktiven Konstruktion einer Kombination dieser großen Ordnungssysteme. Unser Platz in unserer Kultur ist eine Schnittstelle von Unterschieden. Und ein Beruf ergibt sich oft aus einer Mischung verschiedener Unterscheidungen. Ein Beispiel: Schauen wir uns Putzfrauen auf den U-Bahnhöfen einer Stadt im Ruhrgebiet an. Klasse: Unterschicht; Ethnie: Türkisch; Geschlechtszugehörigkeit: Frau; Alter: mittel bis alt. Diese Putzfrauen trifft eine vierfache kulturelle Unterscheidungslogik, eine vierfache Zuweisung. Auf welchen Status verweist sie? Welchen Lohn erhält diese Frau für ihre Arbeit?

    Noch ein Beispiel: Sie fahren mit der U-Bahn. Ganz in der Nähe sitzt ein junger Mann in einem Jogging-Anzug, seine Haare sind vorne kurz und hinten lang. In der Hand hält er eine geöffnete Bierdose und trotzt damit der schräg über seinem Kopf angebrachten Anweisung, daß das Verzehren von Speisen und Getränken in der U-Bahn verboten sei. Ihnen gegenüber sitzt ein junger Mann, der eine Anzugsjacke, Hemd und Krawatte trägt. Er hat ziemlich kurze Haare und liest in der Zeitung, die von denen gelesen wird, denen die Bundesrepublik gehört. Was wollen diese beiden Männer mit ihrem Auftreten zeigen?

    Noch ein Beispiel: Der Ort, die Schnittstelle von Unterschieden, den eine reiche Frau aus der Oberschicht einnimmt, wird mit dem eines Oberschichtmannes viel mehr gemeinsam haben als mit dem einer Unterschichtfrau! Alles klar?

    Fazit: Kultur heißt Unterschiede machen; und diese Unterschiede werden immer wieder aktiv in Diskursen hergestellt; und unser Platz in unserer Kultur ist eine Schnittstelle von Unterschieden. Nun geht es weiter, denn es fehlt noch etwas.


    3. ‹Sex› und ‹Gender›

    Eine der wichtigsten Unterscheidungen, die in unserer Kultur nun permanent getroffen wird, ist der Geschlechtsunterschied, männlich oder weiblich. Westliche Gesellschaften kennen nämlich nur zwei Geschlechter (in der traditionellen Logik ist es ähnlich, da gibt es auch nur zwei Werte, wahr und falsch, vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 4). Die mit dieser Unterscheidung verbundenen gesellschaftlichen Kodierungen, das ganze Konstruktionstheater um diese zwei Geschlechter herum erscheint uns derart selbstverständlich, daß die Geschlechtszugehörigkeit den Anschein einer natürlichen Seinskategorie erweckt. Die Frage ist nur, ob dies wirklich der Fall ist oder ob hier das gesellschaftlich produzierte Konstruktionstheater mit der eigenen Person verwechselt wird. Auf jeden Fall muß es in unserer Kultur eine unablässig laufende und funktionierende Rechtfertigungs- und Begründungsmaschinerie für eben diese Unterscheidung in männliche und weibliche Wesen geben!

    Am besten kommen wir nun weiter, wenn wir unsere Denkbasis erweitern und zwei weitere Unterscheidungen einführen: Zum einen zwischen ‹Sex und Gender› und zum anderen zwischen ‹Moderne und Postmoderne›.

    Fangen wir mit ersterem an: Im folgenden wollen wir ‹Sex› als biologisches Geschlecht verstehen, als eine bestimmte Körperlichkeit, die sich zeigt in primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Und unter ‹Gender› wollen wir hier das verstehen, was eine Gesellschaft, eine Kultur aus der angeblichen Dichotomie des biologischen Geschlechts macht!

    Kleiner Rückblick: Vor 50–60 Jahren wurde zwischen ‹Sex› und ‹Gender› gar nicht unterschieden. Beide wurden als untrennbar, gleichsam natürlich miteinander verknüpft gesehen. Alle Unterschiedlichkeit zwischen Männern und Frauen erwuchs gleichsam natürlich und kreatürlich aus den verschiedenen Körpern. Dann, so etwa nach dem 2. Weltkrieg, wurden die Begriffe ‹Sex› und ‹Gender› erfunden: ‹Sex›, die körperliche Differenz, war etwas für die Naturwissenschaften, die Biologie, ‹Gender› war was für die Sozialwissenschaften. Das biologische Geschlecht wurde vom sozialen gleichsam entkoppelt. Das eröffnete Wege, den sozialen status quo der Zweigeschlechtlichkeit zu kritisieren. Natürlich sind die Begriffe ‹Sex› und ‹Gender› von konservativen Forschern und vor allem in Lebenshilfebüchern so lange durch den Sprachwolf gedreht worden, bis ‹Gender› wieder zu ‹Sex› wurde. Aber das nur nebenbei. Bis vor wenigen Jahren hat sich die Soziologie und Sozialpsychologie der Geschlechterdifferenz darauf beschränkt, an biologische Unveränderlichkeiten und das Alltagswissen von dem kleinen Unterschied anzuknüpfen. Es wurde beschrieben, wie biologische Anlagen von Sozialisationseinflüssen kulturell umrankt und in Geschlechterrollen ausgeformt wurden.

    Bevor wir zur nächsten Unterscheidung weitergehen, sollten wir sehen, daß ‹Gender› sehr oft unentrinnbar ist! Männer und Frauen leben in verschiedenen sozialen Welten mit unterschiedlichen Erwartungen, Belohnungen und Stressoren, mit unterschiedlichem Status, Einkommen und Anerkennung. In vielen Lebensbereichen gibt es keine menschliche Erfahrung, sondern nur eine männliche und eine weibliche. So ist es. Leider!


    4. Zwei Erzählungen

    Die Bochumer Arbeitsgruppe hat in dem wunderschönen Arbeitspapier Nr. 11 den Weg von der Romantik über die Moderne zur Postmoderne herausgearbeitet und gezeigt, wie viel die Essenzen dieser Kulturepochen mit unserem Leben heute zu tun haben. In der weiteren Argumentation werden wir nur Beschreibungen von Moderne und Postmoderne heranziehen. Zur Auffrischung und um den Duktus zu stabilisieren, beginnen wir hier mit einer winzigen Wiederholung (vgl. dazu auch den Essay ‹Wie wirklich ist die Wirklichkeit?›):

    Die Moderne ist das Zeitalter der exakten Naturwissenschaften. Im Blickpunkt stehen die Tatsachen, die in der Wirklichkeit festzustellen sind. Gefragt wird: Wie ist etwas essentiell, also natürlich, wirklich? Für die Psychologie heißt das: Was ist wirklich in den Menschen? Sind es Eigenschaften, Gene, oder andere Schicksalshaftigkeiten? Die Postmoderne ist das Zeitalter der Kulturwissenschaften. Im Blickpunkt steht der kulturelle Diskurs. Gefragt wird: Was wird hier gespielt? Wirklichkeit, so wird hier vermutet, wird im Diskurs durch Sprache und Gesten hergestellt. Für die Psychologie heißt das: Was ist zwischen den Menschen? Ist es der Diskurs, die Sprache oder sind es andere mäandernde Kulturproduktionen?


    4.1 Die moderne Erzählung

    Nun, die moderne Erzählung der Wahrheit über Männer und Frauen ist schnell berichtet, denn hier wird essentialisiert, naturalisiert und biologisiert. Die Geschlechtszugehörigkeit ergibt sich hier also völlig natürlich und logisch – gleichsam bio-logisch – aus dem Vorhandensein bestimmter Genitalien! ‹Sex› und ‹Gender› sind untrennbar miteinander verknüpft. Denn Geschlechtszugehörigkeit lagert innerhalb einer Person und hat mit sozialen Kontexten nichts zu tun. Das führt zu dem angenehmen Gedanken, daß alles, was ist, so ist, weil es einer natürlichen biologischen Ordnung entspricht.

    Die moderne Erzählung macht aus der Geschlechtszugehörigkeit also eine individuelle stabile Eigenschaft. Und eine männliche Frau oder eine weiblicher Mann sind unnatürlich, pervers und ‹artwidrig›. Und Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, sind in der ‹natürlichen› Ordnung der modernen Erzählung nicht vorgesehen. Deswegen waren solche ‹Kontakte› in unserem Land noch vor wenigen Jahrzehnten verboten, während sie in anderen Ländern, an denen die Aufklärung vorüber gegangen ist, wieder verboten werden. Homophobie kann es nur im Rahmen der modernen Erzählung geben. Das ist ein wichtiger Gedanke.

    Wir sollten nicht überrascht sein, wenn christliche Anhängerinnen der modernen Erzählung den Begriff ‹Gender› weder verstehen noch tolerieren. Das überfordert sie maßlos.

    Wir sollten nicht überrascht sein, wenn Anhängerinnen der modernen Erzählung mit dem Begriff ‹Sexismus› überhaupt nichts anfangen können.

    Wir sollten nicht überrascht sein, wenn Anhängerinnen der modernen Erzählung die mit dem Wort ‹Feminismus› verbundene aufklärerische Agenda nicht verstehen können, entspricht doch die Zweigeschlechtlichkeit in ihren Augen einer ‹natürlichen› und vermutlich von Gott gewollten Ordnung.

    Und wir sollten nicht überrascht sein, wenn tausende christliche Anhänger der modernen Erzählung dafür demonstrieren, daß ihre Kinder in der Schule nichts darüber erfahren sollen, was jenseits der strikten Zweigeschlechtlichkeit noch möglich ist. Da sei Gott vor!

    Folgen wir einmal dem Skript der modernen Erzählung über Männer und Frauen: Es war einmal die Evolution. Also die schiere Natur mit all ihren Wirrnissen und Herausforderungen. Und die Natur sorgte dafür, daß es zwei Geschlechter unter den Menschen gab, zwei Menschenarten mit zwei sich unterscheidenden Körpern, auf daß die Menschen sich fortpflanzten und man später überhaupt von einer Evolution reden konnte. Und aus den Körpern voller Hormone und natürlicher Triebe entwickelte sich ganz folgerichtig eine Psyche mit ihren auf den Körper bezogenen Motiven, Fähigkeiten und Interessen.

    Und aus dieser körperlichen und psychischen Zweifaltigkeit entwickelten sich soziale Gemeinschaften, in denen die männlichen Teilnehmer aufgrund ihrer natürlichen Dominanz und Aggression für die Produktion zuständig waren (z.B. für die Jagd) und die weiblichen Teilnehmer für Mutterglück, Aussehen und Reproduktion, z.B. saßen diese in einer Höhle und schwatzten und kochten, während sie die Kinder beaufsichtigten). Und aus diesen natürlichen sozialen Gemeinschaften heraus bildeten sich dann ganz natürliche Gesellschaften, in denen das Patriarchat als natürliche Ordnung gesehen wurde und wird. So einfach war und ist das. Alles klar?

    Und diese moderne Erzählung wird heute in konservativen und christlichen Medien Tag für Tag verbreitet und wiedererzählt. Nehmen wir nur ein Beispiel vom Januar 2015. In der Zeitung, die von denen gelesen wird, denen die Bundesrepublik gehört und hinter der immer ein kluger Kopf stecken soll, schreibt eine Frau dies:
    «B.F forscht als Evolutionspsychologe an der Universität Göttingen und vertritt damit jene Disziplin, die unsere Vorstellungen vom Miteinander der Geschlechter maßgeblich prägt, seit wir nicht mehr daran glauben, dass Kontext und Kultur alles sind. Motor unseres zeitgenössischen Paarungsverhaltens ist demzufolge die „Optimierung des Nachwuchses“, ein Programm aus einer Zeit, die mit Telefonen und Genderforschung ungefähr so viel zu tun hat wie ein Säbelzahntiger.»
    «Seit wir nicht mehr daran glauben ….» Ist diese Beiläufigkeit nicht ganz großartig inszeniert? Und ist diese Rückwärtsgewandtheit nicht irgendwo doch faszinierend? Augen zu! Es geht um die ‹Optimierung› des Nachwuchses! Schluß mit dem ‹Genderwahnsinn›!

    Ja, und es gibt Psychologieprofessoren, die allen Ernstes ihren Studierenden erzählen, daß Frauen heute leider kein räumliches Vorstellungsvermögen hätten, weil sie sich während der Evolution zu lange in Höhlen aufgehalten hätten. Kein Spaß.

    Machen wir uns auch einen kleinen Spaß: Jeden Abend gibt es endlose Staus auf allen einschlägigen Autobahnen dieser Republik. Woran liegt das? Was ist da los? Ganz einfach, das sind all die Frauen, die aufgrund ihres mangelnden räumlichen Vorstellungsvermögens mit dem Auto nicht wieder nach Hause finden.

    Die Essenz der modernen Erzählung: Evolution –> Körper –> Psyche –> Gesellschaft.


    4.2 Die postmoderne Erzählung

    In der postmodernen Erzählung ist ‹Gender› keine Naturtatsache mehr, sondern eine soziale und moralische Konstruktion. Zweigeschlechtlichkeit wird entnaturalisiert und dekonstruiert. Es wird gesagt, ‹Gender› sei das Ergebnis verschiedener sozialer Arrangements und Beziehungskonstruktionen. Die Geschlechtszugehörigkeit ergibt sich in dieser Erzählung aus einer interaktiven sozialen Konstruktion. Soziale Realität – eine aufgebrezelte Frau mit Sonnenbrille, knappem Top und Brilli im Bauchnabel etwa – wird durch Diskurse also nicht nur strukturiert, sondern hervorgebracht. Wir kollaborieren den ganzen Tag mit anderen dabei, die wichtigsten Unterscheidungen in unserer Kultur und damit uns selbst immer wieder herbeizuzaubern! Was machen wir den ganzen Tag? We are doing reality, and of course, doing ‹gender›!

    Doing gender? Wie kann das sein? Wie ist das zu verstehen? ‹Männlich› und ‹Weiblich› sollen keine Naturtatsachen mehr sein? Doch! ‹Sex› ja, ‹Gender› nein! Denn der Rekurs auf angeblich natürliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen ist immer ein Rekurs auf eine bereits existierende kulturell erzeugte Realität von Zeichen. Oder anders: Die kulturelle Wirklichkeit zweier Geschlechter kann nicht aus einem Unterschied der Genitalien folgen, da diese Genitalien nur ein Zeichen in einem bereits bestehenden Kontext von Wirklichkeit sind. Oder noch anders: Es gibt überhaupt keine natürliche, von den Dimensionen der Kultur und vom Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung eines Körpers oder eines Geschlechtsteils. Wir können nichts so wahrnehmen, wie es ist, oder ohne die Kultur, die die Wahrnehmungsdimensionen ja so nahelegt!

    In der postmodernen Erzählung beginnt also alles so: Es war einmal eine soziale Gemeinschaft, eine Gesellschaft. Bei uns ist das eine westliche kapitalistisch orientierte Gesellschaft, mit starken Macht- und Eigentumsunterschieden. Und diese Gesellschaft hat eine heterosexuelle Matrix aufgespannt, die wichtige Bedeutungen erzeugt. Und Menschen werden nun nicht in luftleere Räume oder in eine Wildnis hineingeboren, sondern eben in kommunale Systeme innerhalb dieser Gesellschaft. Und in sozialen Gemeinschaften wird die Geschlechtszugehörigkeit pausenlos thematisiert. Ja, es werden eigens TV-Shows eingerichtet, um jungen Mädchen zu zeigen, was von ihnen in unserer Kultur erwartet wird: Aussehen.

    Und wir müssen uns nicht darüber wundern, daß die sozialen Diskurse über die Geschlechtszugehörigkeit in den sich entwickelnden Kindern unterschiedliche psychische Strukturen entstehen lassen. Und wie erstaunlich ist das doch, daß fast alle Kinder – aus den Augen der Gesellschaft gesehen – korrekt gepolt und eingestellt werden!

    Und aus den psychischen Strukturen heraus entwickelt sich nun eine bestimmte, spezifische Art, mit dem eigenen Körper umzugehen und diesen auf eine spezifische Art zu empfinden. In der postmodernen Erzählung ‹verkörpert› sich also auch der Körper nach den Erzählweisen der Kultur. Selbstverständlich ist unser Körper somit auch eine soziale Konstruktion. Denn wir lernen in unserer Kultur, wie wir unseren Körper zu erleben haben, wie wir damit umzugehen haben, und wie wir bei Abweichungen zu reagieren haben.

    Die Logik der postmodernen Erzählung macht deutlich, wie sich aus bestehenden Machtverhältnissen heraus ein dazu passender sozialer Konstruktions-Diskurs entwickelt, der zur sozialen Konstruktion von Menschen führt. ‹Gender› schreibt vor, was individuell erlebt werden wird und darf! ‹Gender› führt also zu Selbstzuschreibungen und wird so zur self-fulfilling-prophecy auf individueller Ebene.

    In der Postmoderne führt unsere Zugehörigkeit zu verschiedenen kommunalen Mikrosystemen und/oder unser Wahrnehmen und Erleben verschiedener kommunaler Mikrosysteme via TV zu einer Auflösung der großen modernen Erzählung von der Zweigeschlechtlichkeit: hier Mann, da Frau. Wir sind Personenpersonen. Wir bergen eine ganze Reihe von Personen in unserer Psyche. So ist heute kein Mann ganz und nur Mann, also ganz klug, ganz unabhängig und ganz einsam, und keine Frau ist heute ganz und nur Frau, also ganz dusselig, ganz abhängig und ganz wetterfühlig! Es gibt bei der individuellen Konstruktion unserer Geschlechtszugehörigkeit heute viel mehr Angebote, Brechungen und Anreicherungen als früher. Daraus könnte so etwas wie ein neues Konzept von Androgynie entstehen! Das wäre sehr schön! Und Homophobie kann es im Rahmen der postmodernen Erzählung nicht geben. Das ist ein tröstlicher Gedanke.

    Die Essenz der postmodernen Erzählung: Gesellschaft –> Sozialer Diskurs –> Psyche –> Körper.


    Finale

    Abschließend möchten wir zeigen, daß der Begriff ‹Gender› als Kulturprodukt auf die kulturellen Kodierungen und Normierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit als Unterschiedlichkeit zielt und zumindest zwei Blickrichtungen eröffnet:

    Zum einen auf die Frage hin, welche Rolle diese Kodierungen, diese Normierungen im täglichen Leben spielen, wie sie direkt die Lebensäußerungen von Menschen, die interagieren, beeinflussen? ‹Gender› ist hier also ein Bedeutungssystem, welches Interaktionen zwischen Menschen organisiert. Wir können sogar so weit gehen zu sagen, ‹Gender› existiert gar nicht in den Personen selbst, sondern ‹Gender› ist ein Weg, Interaktionen zwischen Menschen mit Sinn zu versehen! Die in den schändlichsten TV-Sendungen herum laufenden weiblichen B-Promis mit künstlich vergrößerten Brüsten zeigen mit dieser ihrer Äußerlichkeit also genau die eine von ihnen erwartete und in unserer Kultur erwünschte Diskurskompetenz: Aussehen. Diese Frauen müssen nicht auch noch sprechen können. Das macht keinen Sinn.

    Und zum anderen können wir auf Untersuchungsrichtungen schauen, die prüfen, in welchem Zusammenhang ‹Gender› mit dem Zugang zu Macht, zu Ressourcen aller Art und mit gesellschaftlicher Anerkennung steht. Die Idee der Zweigeschlechtlichkeit hat ja viele Wirkungen, z.B. sichert sie Männern Herrschaft und Macht. Die endlosen Diskussionen um Frauenquoten in höheren Positionen, die von Anhängern der modernen Erzählung angezettelt werden, sollten uns zu denken geben.

    Hier noch ein Nachbild: Attraktive Männer haben einen interessanten Beruf, natürlich viel Geld, Macht und Charakter (was immer das sein mag), und sie gehen ihren Weg. Attraktive Frauen sind jung und schön und dünn und, tja und? Eben. Das war's schon.



    Kommentar:

    Sehr geehrte Frau Devilder, sehr geehrter Frau Orheim,

    mit großem Interesse habe ich Ihren Text zur Interaktion von Geschlecht, Charakter und Kultur, ja, von den Inskriptionen der Kultur in Gender und Selbst, gelesen. Ich möchte zu ihren Überlegungen und Beobachtungen die folgenden Erfahrungen hinzufügen, die ich auf einer Reise nach Thailand unlängst anstellen konnte.

    Thailand ist ja bekannt als Land der Ladyboys, die es zumindest in Bangkok im Touristenviertel auch wirklich viel gibt. Viele haben das Geld für Operationen nicht, weswegen sie einfach nur lange Haare tragen oder weiß geschminkt sind, wie das hier vor Ort die Mädchen, im Wunsch hellere Haut zu haben, oft tun. Das ungewöhnliche ist: Sie sind, soweit man das als Ausländer beurteilen kann, gut integriert. Wir haben die ersten Abende bei Jinni gegessen, offensichtlich männlich, aber weiblich gekleidet, und sie wird von allen als Frau angesprochen. Andere haben kleine Verkaufsstände, einmal sah ich einen Ladyboy in einer ganz normalen Touristen-Kneipe als "Tout" arbeiten. Das sind diejenigen, die die Leute dazu einladen/bedrängen, dort ein Bier zu nehmen. Offensichtlich denkt niemand, dass könne jemanden abschrecken. Das hat mich dann doch überrascht. In einem 5-Sterne-Hotel berichtete man mir, sei die Empfangschefin deutlich sichtbar transsexuell. Das ist selbst in Deutschland undenkbar, da wäre bestenfalls eine Arbeit irgendwo im Kellerbüro möglich.

    Obwohl die Geschlechter in Thailand eher noch strikter getrennt werden als in unseren Breitengraden (so gibt es reine Jungen- und Mädchenschulen), ist der Umgang damit doch völlig anders. Nochmal zu den Ladyboys: Wenn ein Junge sich eher als Mädchen fühlt, kann er problemlos in eine Mädchenschule wechseln. In einem Dorf auf dem Land haben wir beobachtet, wie ein Ladyboy bei einer Veranstaltung zunächst allein vor der Bühne stand und dann von den anderen Frauen des Dorfes dazugebeten wurde, um bei ihnen zu sitzen.

    Bezeichnend dagegen meine Erfahrung nur ein paar hundert Kilometer weiter im benachbarten Kambodscha. Dort erzählte mir ein junger Einwohner, auf die Frage, warum er Thailand nicht möge: They have Ladyboy. So reicht ein kleiner Schritt über eine Landesgrenze, um einen ganz anderen kulturellen Raum zu betreten.

    F. v. Füsteck-Hochheim



    Ins Netz gestellt am 17. Februar 2015
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