BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skizzen einer Psychologie des Meinens (1): Meinen: Eine Annäherung» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

1. Einführung

Lieber Leser, liebe Leserin, wir haben diesen kleinen – und für Anfängerinnen in der Kunst der Skepsis geschriebenen – Essay über das ‹Meinen› mit Absicht in die Rubrik «Wahrheiten und Wirklichkeiten» des Skepsis-Reservates der Bochumer Arbeitsgruppe gestellt. [1] Wir möchten endlich einmal Dr. Artus P. Feldmann, dem treuen ‹Sachbearbeiter› der Bochumer Arbeitsgruppe, für seine unbedingte Loyalität, seine grenzenlose Diskursfreude, seine flirrenden Ideen und seine vielfältigen Hilfen und Anregungen danken. Ohne seinen Zuspruch, ohne seine Geduld, wären die meisten Essays im «Skepsis-Reservat» nicht geschrieben worden. Artus ist ein Lektor, wie es vermutlich nur wenige gibt. Ach, was reden wir da: Wie es ihn nur einmal gibt! Basta! Denn die epistemologische Leichfertigkeit, die Nachhaltigkeit, die Penetranz, mit der Menschen ihre ‹ganz persönliche› Meinung über irgendetwas für wahr und für ein Abbild der Wirklichkeit halten und in die Welt stellen, verblüfft uns immer wieder. Das erkenntnistheoretische Grundproblem dieses nonchalanten Meinens über ‹Dinge› dieser Welt paßt also ganz hervorragend zu den in dieser Rubrik gesammelten skeptizistischen Erörterungen über Wahrheiten und Wirklichkeiten, die sich ja eben mit der Erkennbarkeit der Wirklichkeitswelt und den damit verbundenen philosophischen Problemen befassen.

Wir möchten uns in diesem Essay dem Phänomen des Meinens vorsichtig nähern, indem wir zunächst einmal herumschauen, herumhören und beobachten, was Menschen den ganzen Tag lang tun, wenn sie kommunizieren: Sie sagen Meinungen auf. Denn Menschen haben Meinungen zu allem und jedem! Wie selten hören wir mal ein «Also dazu habe ich jetzt wirklich keine Meinung jetzt!». Und wie glücklich sind wir in einem solch' raren Fall, wenn wir einer der üblichen Meinungsanhörungen entgehen dürfen.

Stellen wir uns vor, ein uns bekanntes Paar, welches einige Zeit unzertrennlich war, trennt sich. Wir hören uns in unserem sozialen Raum um. Welche Meinungen hören wir? Hier nur eine kleine Auswahl von Meinungsmöglichkeiten: Und so weiter, und so weiter. Ad libitum (vgl. dazu die sehr schöne Sammlung des Sagbaren im Arbeitspapier Nr. 8: «Beziehungs-Skripte»).

Was geschieht hier? Was reden die Menschen da? Vertreten sie einen Standpunkt? Äußern sie Meinungen, Plausibilitäten, Behauptungen, Auffassungen oder Ansichten? ‹Zeigen› sie eine Einstellung, eine Attitüde? Sprechen sie über ihre Vorstellungen? Ist es ein Dafürhalten? Wenn ja, wofür? ‹Wissen› sie etwas? Äußern sie Tatsachen? Oder sind es Wissens- oder Tatsachenbehauptungen? Oder verwechseln sie nur ihre Meinungen mit ‹Wissen› oder mit Tatsachen (vgl. dazu den Essay «Abschied aus der Welt der Ideen»)? ‹Meinen› oder ‹Wissen›, das ist die Frage. Das schauen wir uns im nächsten Abschnitt etwas näher an.


2. ‹Meinen› oder ‹Wissen›?

Wir möchten gleich zu Beginn unsere Meinung, unsere Auffassung, unsere Ansicht, ja unsere Theorie vom ‹Meinen› und ‹Wissen› deutlich machen. Denn wir haben zum einen eine bestimmte Auffassung über das Verhältnis von ‹Meinen› und ‹Wissen›, die angesichts unseres ‹konstruktivistischen› und skeptizistischen Hintergrundes alles andere als verwunderlich ist. Wir sagen: Fast alle Menschen meinen zu wissen, da sie meinen, zwischen ‹Meinen› und ‹Wissen› unterscheiden zu müssen. Bis auf die wenigen Glücklichen, die wissen, daß sie nichts wissen, was über ein ‹Meinen› hinausgehen könnte. Diese Menschen meinen nicht, daß sie etwas wissen, wenn sie etwas meinen, sondern daß sie etwas meinen, wenn sie etwas meinen. Das Wort ‹Wissen› täuscht unserer Ansicht nach im Diskurs über lebende Systeme eine Stabilität vor, die der permanenten Emergenz eben dieser lebenden Systeme nicht entspricht. Etwas ‹wissen› oder ‹meinen› hat vermutlich mit Tatsachen oder gar ‹Wahrheiten› nichts zu tun. Wohl zeigt ein ‹Wissen› oder ‹Meinen› auf eine subjektive ‹Wahrheit›, auf das also, was ein Subjekt in der Welt der Bedeutungen für bedeutsam hält.

Das ist das Eine. Nun zum Anderen:Wir möchten gleich klar machen, daß wir auch dem Wort ‹Information› nicht trauen (vgl. dazu den Essay zur «Kognitionspsychologie»). Damit lassen wir uns und Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, nicht die Rückzugsmöglichkeit offen, behaupten zu können, das eigene ‹Wissen›, die eigene Meinung beruhe auf ‹Informationen›. Natürlich gibt es – insbesondere im heutigen «Informationszeitalter» – in Alltag und Wissenschaft sehr viele ‹Informationen›. Leider sind dies aber gar keine ‹Informationen› in dem Sinne, daß sie uns darüber informieren, wie ein Sachverhalt «ist», stattdessen sind diese ‹Informationen› nur Zeichen für Meinungen über Wirklichkeiten (vgl. dazu insbesondere Albertines beinahe finales «Zeigermodell»).

So gibt es in Alltag und Wissenschaft äußerst nervige Menschen, die dazu neigen, ihre Mitmenschen damit zu behelligen, daß sie ständig irgendwelche «Informationen» aufsagen, die sie irgendwo gesehen, gelesen und gehört haben, und die sie für ein ‹Wissen› von dieser Welt halten. In die Köpfe dieser bedaurenswerten Geschöpfe ist leider der Gedanke nicht hineinzukriegen, daß es ‹Informationen› der Art, wie sie sich das vorstellen, vielleicht gar nicht gibt. Blicken wir auf den Alltag: In einer Zeitschrift zum Beispiel, die vorgibt, ein ‹Nachrichtenmagazin› zu sein, stehen selbstverständlich keine ‹Informationen›, ja nicht einmal eine einzige Nachricht, sondern nur fabrizierte, gemachte Meinungen, also Fakten. Es werden auf den vermuteten und vorweggenommenen Geisteszustand der Zielgruppe dieser Zeitschrift genau abgestimmte und in kleinen Tabellen anschaulich zusammengefaßte Meinungen konstruiert, um den Lesern die Illusion zu geben, sie verfügten damit über die neuesten Take-away Informationen über diese Welt, über angesagtes Welt-‹Wissen› also. Das ist natürlich schon sehr lustig. Im Bereich der Wissenschaft läuft das so ähnlich. Auch hier laufen Mitmenschen mit den neusten Daten unter dem Arm und den neuesten Forschungsbefunden herum, die sie als der Wirklichkeitswelt abgerungene «Befunde» mißverstehen (vgl. dazu insbesondere das Arbeitspapier Nr. 10).

Betrachten wir uns nun ‹Meinen› und ‹Wissen›, untersuchen wir ‹Meinen› und ‹Wissen›, versuchen wir, uns dem Phänomen ‹Meinen› und ‹Wissen› zu nähern. Lieber Leser, liebe Leserin, sie sind herzlich eingeladen, mitzudenken!

Der erste und naheliegendste Gedanke ist, daß wir alle Vielwisser und Vielmeiner sind! Wir alle sind aufgrund unserer Sozialisation notgedrungen zu Vielwissern geworden (keinesfalls nur, wenn wir Abitur haben). Wobei es in unserer Kultur extrem wichtig zu sein scheint, ‹Wissen› auch als ‹Wissen› zu bezeichnen und nicht als Meinung! In den üblichen wissenschaftlichen Studiengängen werden in den einzelnen Teildisziplinen Meinungen (gelegentlich werden diese noch Theorien genannt) über irgendetwas als ‹Wissen› dargeboten, nebst den dazugehörigen Meinungen, wie ‹empirische Befunde› zu diesen Meinungen zu sehen und zu verstehen sind. Studierende lernen all dies, und schwupps, in einem leicht zu durchschauenden Waschvorgang werden Meinungen zu ‹Wissensbeständen› (vgl. dazu das mittlerweile schon legendäre Arbeitspapier Nr. 1).

Dies führt dazu, daß wir zu einem beliebigen Meinungsaufsagungsanlaß (vgl. das kleine Beispiel im vorigen Abschnitt) etliche unterschiedliche Meinungen zitieren könnten, durchaus auch welche, die jenseits unserer ‹eigenen› Meinung stehen. Wir sind eben Vielwisser. Und Vielwisser können zu allem und jedem etwas sagen! Zwei Aphorismen dazu, die auch deutlich machen, warum etwa Studierende an Hoch- und Fachschulen soviel ‹Wissen› aufnehmen sollen. Hier der eine: «Vielwisser dürften in dem Glauben leben, daß es bei der Tischlerarbeit auf die Gewinnung von Hobelspänen ankommt.» (Karl Kraus, in der ‹Fackel› Nr. 279–280, S. 6, vom 13.5.1909)

Diesen Gedanken müssen wir mal auf die stetig voranschreitenden Wissenschaften beziehen: Jedes Jahr erscheinen zigtausende empirische Einzelarbeiten, ohne Sinn, ohne Wert, ohne einen Gedanken, Hobelspäne eben! Und, was sehr wichtig ist, bei diesem «akkumulativen Fragmentarismus» entsteht eben kein Werkstück, kein Möbelstück, kein Gesamtbild, ja selbst eine rohe Form, eine Idee, wie es mal werden könnte, wo das alles mal hinlaufen soll, ist weit und breit nicht zu sehen (vgl. dazu insbesondere den Abschnitt zu Karl Poppers «Kritischem Rationalismus» im 8. Kapitel des Arbeitspapiers Nr. 13). Aber auch in herkömmlichen Lehrveranstaltungen und Lehrbüchern wird von Vielwissern jedes philologische und lexikalische Detail aufgezählt, und wir fragen uns immer wieder, wann kommt endlich ein Gedanke? Einzelansichten und Einzelmeinungen stehen nebeneinander und bleiben so stehen. Welche davon gerade populär sind, bestimmt die schnell wechselnde Mode, die Meinungsmode.

Als kleines Beispiel zum Thema ‹Vielwisser› und zum immer noch aktuellen akkumulativen Fragmentarismus in den empirischen Wissenschaften ein kurzes Zitat aus einem beliebigen ‹Basisbuch›: «Nachfolgend sollen einige Befunde mitgeteilt werden, die im Anschluß an die Entwicklung von Intelligenztests […] und deren Gebrauch erhoben wurden. Keine der Untersuchungen für sich, wohl aber ihre Zusammenschau vermittelt ein umfassenderes Bild vom Konstrukt der Intelligenz» [2] In: Manfred Amelang & Dieter Bartussek (1981) Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer Verlag. Seite 209. Klar, über solche Sätze lesen wir ganz leicht hinweg, aber genau sie sind das Programm der Wissens-Konstruktions-Veranstaltungen selbst. Schauen wir uns das Procedere etwas näher an. Da gibt es zunächst einmal eine Fülle von einzelnen, kleinen ‹Untersuchungen› von den verschiedensten Autoren aus den unterschiedlichsten sozialen Räumen, die an beliebigen Stichproben, in beliebigen Ländern und zu beliebigen – angeblich im Zusammenhang mit dem ‹Konstrukt Intelligenz› stehenden – Themen ‹durchgeführt› wurden, und die alle nur eines zeigen sollen: «Hallo Leute, wir kommen mit dem ‹Konstrukt Intelligenz› und seiner ‹Messung› zurecht!»

Jetzt kommt der zweite Schritt: Diese schiere Masse von einzelnen, ganz unterschiedlichen und überaus disparaten Untersuchungen wird nun – zur Zierde eines Sammelreferates oder eines ‹Basisbuches› – nach dem Motto ‹Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!› so zusammengefaßt, daß das ‹Konstrukt Intelligenz› – während der Summierung der an sich unbedeutenden Einzelteile – auf magische, aber aktive Art und Weise substantiviert, vergegenständlicht, essentialisiert und reifiziert wird, und gleichzeitig die Möglichkeit der Messung des ‹Konstruktes Intelligenz› ganz außer Frage gestellt, ja als gegeben, als selbstverständlich gesetzt wird.

Was ist geschehen? Aus einem Bilderrauschen, aus einer Kakophonie von Einzelzeigern, von denen keiner weiß, wohin sie eigentlich zeigen, wurde eine Symphonie, eine Ordnung der Dinge, wurde Wirklichkeit. So geht das. Noch einmal: Nehmen wir das ernst, was da in diesem überaus unauffälligen kleinen Zitat steht, dann wollen die Autoren uns damit sagen, daß jedes einzelne Wissensfragment zwar schon irgendwie unbedeutend sein mag «Keine der Untersuchungen für sich […]», die schiere Masse der aufgetürmten und unbedeutenden Fragmente allerdings uns dann einen richtigen und angemessenen Eindruck von der Wirklichkeit mache! [3] Als wir mit einem Freund diesen Essay besprachen, meinte dieser, daß ihn die akkumulativ-fragmentaristische Argumentation hier an einen debilen Würstchenverkäufer erinnere, der da einst sagte: «O.k., ich setze zwar bei jedem verkauften Würstchen 10 Pfennig zu, aber die Masse machts!» Gute Geschichte. Wir meinen allerdings, daß so blöd doch keiner sein kann. Oder?

Nun zu dem anderen Aphorismus von Karl Kraus, der einen anderen und weiter oben bereits angedeuteten Aspekt des Vielwissens beleuchtet: «Der Vielwisser ist oft müde von dem vielen, was er wieder nicht zu denken hatte.» (Karl Kraus, in der ‹Fackel› Nr. 360, Seite 12, vom 7.11.1912) Vielleicht ist das für unsere «Gesellschaft des Spektakels» ganz gut, wenn wir vom vielen ‹Wissen›, von den vielen ‹Informationen› müde werden? Wenn wir zerpatscht von Bilder- und Informationslawinen nach Atem ringen? Denken wir noch ganz schnell daran, daß im traditionellen Wissenschaftsduktus erst der Vielwisser etwas kritisieren darf. Nur, ein Vielwisser ist dann dazu viel zu müde. Alles klar? Doch weiter.

Ein weiterer schöner Gedanke ist, daß ‹Wissen› und Meinungen gleichsam automatisch, implizit, schnell verfügbar sind! Wissenfragmente und Meinungen werden routinemäßig, automatisch, entladungshaft, ohne gedankliche Anstrengung abgerufen. Das kostet uns keine Mühe, etwas zu meinen. Und es erscheint uns ganz selbstverständlich, daß Wissensbestandteile und Meinungen sprachlich ausdrückbar sind. Diese – philologische – Aussprechbarkeit in Zeigern nennen wir auch ‹Definitionen›! Definitionen rücken die Welt zurecht. Und wir leben in einer Welt erfundener Definitionen! Sagen wir es so, Wissensfragmente und Meinungen haben uns den Kopf mit philologischen Definitionen aller Art gefüllt. Oder verstopft? Definitionsinfarkt.

Unser nächster Gedanke zum ‹Meinen› und ‹Wissen› hat mit strukturellen Aspekten zu tun: ‹Wissen› ist oft äußerst kristallisiert und fest! Meinungen sind sehr oft ausgesprochen stabil, manchmal ein Leben lang! Es gibt Leute, die stolz darauf sind, ihre Meinung niemals geändert zu haben. Die wissen eben, was sie wissen. Das kann man auch Fundamentalismus nennen. Ist schon bedrohlich. Beim ‹Meinen› und ‹Wissen› scheint es sich also in aller Regel um etwas ‹Festgewordenes› zu handeln, das nur unter besonderen Umständen wieder weich wird. Und: Dieses auskristallisierte ‹Meinen› und ‹Wissen› wird sehr gerne mit dem Selbstwert der eigenen Person verknüpft. Wir sind – insbesondere als Nicht-Konstruktivisten – empört, wenn jemand anderes die Welt anders sieht. Bei schlichten Gemütern reicht das zu einem tätlichen Angriff. Erstaunlich? Oh, nein. Wir selbst sind ja nur das Bündel, das Agglomerat, die Agglutination des für uns Sagbaren.

Die Auswirkungen des Verwechselns von ‹Meinen› und ‹Wissen› und der offensichtlichen Stabilität dieser beiden Abfrage- und Aufsage-Instanzen sind in einigen Bereichen des Lebens besonders traurig. Etwa in der Politik, oder der Medizin. Wechselt zum Beispiel in der letzteren einmal die momentane Wissenswahrheit, sind schon etliche Patienten irreversibel beschädigt. Jahrelang hat man bei der Diagnose X das und das gemacht, mit allen Folgen für die Betroffenen. Und plötzlich gilt das so lang Vertraute als Kunstfehler. (Plötzlich muß es ‹minimal invasiv› sein, um nur ein Beispiel zu nennen.) Für viele Patienten ist diese ‹Wende› zu spät gekommen. Aus einer Wissensmeinung war eine Wissenswahrheit geworden, mit allen Konsequenzen! Mediziner und Medizinerinnen halten ihre momentanen Meinungen für ‹Wissen›, da sie meinen, immer handeln zu müssen. Müssen sie das?

Unser nächster Gedanke zum ‹Meinen› und ‹Wissen› beschäftigt sich mit der Ordnung, der Struktur, die vom ‹Meinen› und ‹Wissen› im einzelnen Meiner und Wisser hergestellt wird. Ja, ‹Meinen› und ‹Wissen› schafft Ordnung! ‹Wissen› und ‹Meinen› erlaubt es, regelhafte Zusammenhänge in ein unordentliche Welt hineinzusehen. Ja, um sich die Welt zu erklären, führen Menschen ständig bizarre Operationen – wie etwa psychologistische Dopplungen – durch. Sie können es nicht haben, nicht ertragen, wenn sich etwas einfach so ereignet – Denken sie an die Meinungen zur Trennung eines Paares in der Einführung zu diesem Essay! – und nicht erklärt wird. Es kann nur so sein: Geschieht irgendwas, dann muß gleichzeitig noch etwas im Spiel sein. Ist das so eine Art Paranoia? Aber ja! Geschieht also etwas, oder tun die Menschen selbst etwas, dann muß dazu parallel eine Begleitchor auftreten und deutlich immer wieder hersingen, daß man das ‹brauche›, daß man das ‹wolle›, daß man ‹den Antrieb dazu habe › (oder eben auch nicht), daß das ja nur ‹ganz unbewußt› geschehen sei, oder daß sich im Verhalten des Mitmenschen soeben gezeigt habe, daß er ein ‹guter› oder ein ‹schlechter› Mensch sei, daß er jemanden ‹liebe› oder eben nicht ‹liebe›, und so weiter. Meinungen eben. Aber so wichtig als Rückgrat unserer Welterkenntnis! Wirklich so wichtig? Oh, ja! Wir alle machen nichts lieber, als Systeme aller Art aufzustellen. Möglichst übergreifende, absolute Systeme, in denen alles seinen klaren und eindeutigen Platz hat. Von einer kleinen Meinung aus gehen wir beherzt und hurtig zum All-Umfassenden, zur Weltformel. Jeden Abend schwadronieren Millionen Menschen über ihr Einordnungssystem aller Ereignisse, das anderen Ordnungsschubladen selbstredend weit überlegen ist. Schlichte Politik-Darsteller führen jeden Abend in ihren Medien ihre simplizistischen Mega-Kategorien auf und zeigen Meinungs-Entschlossenheit. Ja, die tun was! Und, natürlich: Je flacher, dümmer, schlichter ihr so dahin gesagtes Weltordnungssystem, desto mehr Beifall kriegen sie. Klar. Bei diesem imbezillen Systematisierungswahn kann uns nur Nietzsche helfen. Und er tut es: «Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.» Und mit diesem Aphorismus verstehen wir auch endlich, warum uns Politikerdarsteller als Meinungsaufsagende und Handlungsreisende in Weltordnungssystemen immer so verdächtig erscheinen. Alles klar?

Erstaunlich ist, wie leicht Wahrnehmungen von Meinungen und Wissensfragmenten, die nicht nur unserem allgemeinen ‹Wissen› und ‹Meinen› – unserem Weltsystem – widersprechen, sondern denen auch wir selbst – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr widersprechen können, von uns zu ‹Ausnahmen› gemacht und damit schlicht wegerklärt werden. Ja, das Ausnahme-Regel-Prinzip in seiner vielfältigen Deut- und Anwendbarkeit ist ein Grundpfeiler unserer Kultur. Ausnahmen bestätigen sogar die Regel, na wunderbar! Wir können uns in etlichen Fällen sogar vorstellen, daß es zur Kultur unseres Landes zu gehören scheint, das, was für alle gilt, ja, das, was alle tun, zur Ausnahme zu erklären! Wir denken hier an Steuerbetrügereien, Bestechungen, Spendendurchstecherein und sowas. Ja, verbirgt sich dann nicht hinter diesem Ausnahme-Regel-Spektakel schlichte bürgerliche Bigotterie? Klar.

‹Meinen› und ‹Wissen›. ‹Meinen› oder ‹Wissen›. Was ist denn nun ‹Wissen› und/oder ‹Meinen›? Vielleicht können wir das als erfahrene Skeptikerinnen so sagen: Etwas ‹Wissen› oder etwas ‹Meinen› ist Sinnkonstruktion, ist Kultur. Also vermitteltes, anerzogenes, sozialisiertes Sinn-Sehen in der Welt. Die Sinnhaftigkeit unserer Alltäglichkeit wird uns vorerzählt, wir erzählen sie nach! Und wir meinen, durch unser ‹Meinen› und ‹Wissen› einen Zugang zur Welt zu haben, und wir haben ihn auch! Nur anders, als wir uns das vorstellen.

Zur vor uns liegenden Alltagswelt und Wissenschaftswelt bekommen wir im Laufe unseres Lebens ‹Wissen› und Meinungen mitgeteilt oder erwerben dies – vor allem bei praktischen Fertigkeiten – selbst. Dieses ‹Wissen›, diese Meinungen begreifen wir, weil sie aufgrund von uns bereits bekannten Wissensfragmenten und Meinungen plausibel erscheinen, weil wir daran gewöhnt sind. Wir assimilieren. Gewöhntes gewöhnliches ‹Wissen› ist aber nicht nur plausibel, unmittelbar, automatisch einleuchtend, sondern eben sinnhaft. Mit unserem ‹Wissen› und unseren Meinungen erscheint uns das Durcheinander der Wirklichkeit der vor uns liegenden Alltagswelt und Wissenschaftswelt sinnhaft! Wir kennen uns eben aus.

‹Wissen› erweist sich für Skeptikerinnen also als das Haben von Meinungen. Und schon hören wir die gewichtige Frage: «Ja, aber gibt es denn gar kein Wissen?» Na ja, warum so grundsätzlich? Wir könnten uns Bereiche vorstellen, in denen wir das Wort ‹Wissen› gelten ließen. Das sind unserer Ansicht nach aber Bereiche des ‹dummen Wissens›. Wir könnten als Beispiel den ‹Ausbruch› des 2. Weltkrieges ganz genau festlegen: 1.9.1939 um 4:45 Uhr. Nur, was wissen wir mit diesem ‹exakten› Zeitpunkt über den ‹Ausbruch› des 2. Weltkrieges? Was verstehen wir durch die Kenntnis dieser Zahlen besser? Solche Beispiele ‹dummen Wissens› lassen sich vielfältigst finden.

Also noch einmal die Frage: «Gibt es denn wirklich gar kein Wissen?» Wir möchten den wenigen Lesern und Leserinnen, die das Wort ‹Wissen› aus psychohygienischen oder psychotaktischen Gründen gerne beibehalten wollen, noch eine Meinung überreichen, was denn ‹Wissen› sein könnte: «Bloße Kenntnisse haben, und seien sie noch so umfangreich, ist kein Wissen. Auch wenn diese Kenntnisse durch Studienordnungen und Prüfungsbestimmungen auf das praktisch Wichtigste zusammengestrichen werden, sind sie kein Wissen. Auch wenn diese auf den nötigsten Bedarf zurückbeschnittenen Kenntnisse ‹lebensnah› sind, ist deren Besitz kein Wissen. Wer solche Kenntnisse bei sich herumträgt und dazu noch einige praktische Kniffe und Griffe eingeübt hat, wird trotzdem angesichts der wirklichen Wirklichkeit, die immer anders ist als das, was der Spießbürger unter Lebens- und Wirklichkeitsnähe versteht, ratlos sein und notwendig ein Pfuscher werden. Warum? Weil er kein Wissen hat, denn Wissen heißt: lernen können. Der Alltagsverstand meint freilich, derjenige habe ein Wissen, der nicht mehr zu lernen brauche, weil er ausgelernt habe. Nein: wissend ist nur der, der versteht, daß er immer wieder lernen muß und der auf Grund dieses Verstehens sich vor allem dahin gebracht hat, daß er stets lernen kann.» (Martin Heidegger) [4] In: Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik. 6. Auflage 1998. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Seite 16–17.


3. Orte des ‹Meinens› und ‹Wissens›

Nun kommen wir zu einem ganz wesentlichen Punkt im Nachdenken über ‹Meinen› und ‹Wissen›: Zu den sozialen Räumen und Orten, in denen gemeint und gewußt wird. ‹Meinen› und ‹Wissen› sind weder ort- noch zeitlos. ‹Wissen› ist teilbar, Meinungen sind teilbar. So hat jede Zeit einen «Zeitgeist» – als schlichte Aufhäufung des glatt, problem- und widerspruchlos Sagbaren – und damit ihre zeitgemäßen Grundplausibilitäten und zentralen Sprachfiguren. Da gibt es ganz totale, übergreifende «Wissensbestände» und hoch generalisierte Abstraktionen, die gleichsam ein heiliges Kulturgut bilden. In diesen Fällen sagen wir gerne: «Das weiß doch wohl jeder!» Oder auch: «Das weiß doch jedes Kind!» Zeitgemäße kommunale Plausibilitäten, Mode-Meinungen und Mode-‹Wissen› können auch von einem spezifischen situativen Kontext völlig abgehoben sein und sozusagen frei über allen kommunalen Situationen schweben. Ja sie können sogar der Offensichtlichkeit einer sozialen Situation voll widersprechen. Trotzdem mußte das jetzt mal gesagt werden. Wir sehen, Zeitgeist-Plausibilitäten sind unglaublich bedeutsam, sie halten praktisch die Makro-Kultur zusammen.

Jede Zeit und jede Kultur hat aber auch ihre dezentralen Orte des Meinens und Wissens, ihre Provinzen, ihre Reservate. Meinungen sind in Subkulturen verankert. Und in all' diesen sozialen Räumen werden lokale Plausibilitäten und lokale Meinungen gepflegt und ausgetauscht. Und die vielen Orte und Lokale des Meinens und Wissens ‹zeigen› ununterbrochen und in ganz anschaulicher Weise einen Grundgedanken des ‹Sozialen Konstruktivismus›: ‹Wissen› und ‹Meinen› heißt, sich – mit anderen Ansiedlern in eben diesem sozialen Raum – auf etwas geeinigt zu haben! Denn Wissensfragmente und Meinungen werden immer von mehr oder weniger vielen Menschen geteilt, je nachdem, wie groß das kommunale System oder der soziale Raum ist, in dem diese Wissensmeinung als selbstverständliches ‹Wissen› aufgesagt wird.

Ein einfacher Blick auf lokale Meinungen und lokales ‹Wissen› zeigt uns, daß das, was in dem einen sozialen Raum als ‹Wissen› erscheint mag, ja gar als bestes ‹Wissen›, in dem anderen sozialen Raum gleich nebenan nur als eine Meinung unter vielen, wenn nicht gar als Unsinn angesehen wird. Eine Meinung wird zu einer fraglosen Meinung – und damit zu einem angeblichen lokalen ‹Wissen› – also nur im Rahmen des fraglosen Konsenses eines spez. kommunalen Systems, einer spezifischen Subkultur, eines spezifischen sozialen Raumes (vgl. dazu die Essays über «Persönlichkeitspsychologie», «Sozialpsychologie», «Personen als Systeme» und «Personen als Texte»).

Versuchen wir die globalen und lokalen Wissensbehauptungen und Meinungen ganz vorsichtig zu sortieren, dann ergeben sich etwa folgende Bereiche:

Zum einen gibt es hier Annahmen und Plausibilitäten über die ‹Natur› des Menschen. Eine sehr prominente Plausibilität ist derzeit die Vorstellung, alles Leben in unsrer Kultur basiere auf der genetischen Ausstattung der Kulturteilnehmer, und weniger bis gar nicht auf deren kultureller lokaler Sozialisation. Wir möchten jetzt nicht darauf eingehen, wie wichtig ein genetischer Determinismus für eine final-kapitalistische Spektakel-Gesellschaft ist. Wir möchten nur daran erinnern, wie in regelmäßigen Abständen Medien-Spektakel inszeniert werden (insbesondere in konservativen und christlichen Medien), in denen der Glaube an die Allmacht der Gene nachhaltig propagiert wird.

Zum anderen spielen in unserer Gesellschaft Annahmen und Plausibilitäten über politische Entwicklungen in Staat und Gesellschaft eine sehr große Rolle. Worte wie ‹Wachstum›, ‹Wettbewerb›, ‹Märkte›, gar ‹Selbstheilungskräfte des Marktes› oder ‹Herausforderung› sprudeln dem schlichtesten Gesellschaftsinsassen aus dem Mund. Alle meinen zu wissen, daß Unternehmer eigentlich überhaupt keine Steuern zahlen sollten, damit sie immer mehr in Arbeitsplätze investieren können. Oder denken wir an die hehre Meinung, Abgeordnete seien nur ihrem Gewissen verantwortlich. Na ja, wir denken, bei der Beurteilung dieser Meinung sollten wir ‹die Kirche im Dorf lassen›.

Des weiteren gibt es in unserer Gesellschaft hochinteressante und sich vehement widersprechende Annahmen und Plausibilitäten über ökologische Entwicklungen. Hier zeigen sich ganz deutlich die scharfen Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Räumen: Konservative, christliche Gruppen wiegeln regelmäßig die Bedeutung von ökologischen Schäden, aus denen ja nachhaltig und permanent private Gewinne abgeschöpft werden, ab. Sie wollen mit Menetekeln nichts zu tun haben und sie verspotten die Überbringer schlechter Nachrichten. ‹Rot-grün› orientierte Meinungs-Gruppen akzentuieren im Gegenteil dazu permanent ökologische Schäden und prophezeien eine ökologische Globalkatastrophe (vgl. dazu insbesondere das Arbeitspapier Nr. 3 mit dem schönen Titel «Bemerkungen zum technologischen Funktionsbegriff»).

Es gibt auch eine Fülle von Annahmen und Plausibilitäten über eine zeitgemäße Lebensführung. Auch hier zeigen sich viele scharfe Systemgrenzen. Und es gibt sehr prominente Plausibilitäten, die über die engeren kommunalen Systemgrenzen hinausgehen, wie etwa, daß es sinnvoll sei, ‹Eigentum› zu schaffen oder überhaupt sein ‹Geld zusammen zu halten›! Wir möchten dies hier aber nicht weiter vertiefen, da wir mit unseren Essays zum ‹Meinen› und ‹Wissen› nicht in erster Linie kulturphysiognomische Absichten verfolgen.

Kommen wir zum Schluß: Wir halten es für eine der wichtigsten und schönsten Aufgaben überhaupt, unsere lokal und global definierten Meinungen zum Lauf der Dinge, zu Gesundheit und Krankheit, zur Liebe und zum ganzen Rest immer wieder aufzuspüren, aufzulisten, zu durchleuchten und damit begreifbar und angreifbar zu machen. Das führt zu dem Gedanken, daß es auch eine sehr schöne Aufgabe sein könnte, mal alle die Meinungen aufzulisten, die unserer Einschätzung nach nicht stimmen können. Was die traditionelle Wissenschaft Psychologie betrifft, hat die Bochumer Arbeitsgruppe genau dies mal gemacht und die 176 prominentesten Meinungen, Sprachfiguren und Dogmen, die den derzeitigen Lauf der Dinge in der Wissenschaft Psychologie weiterhin nachhaltig beeinflussen, aufgeschrieben und mit Gegenbemerkungen konterkariert (vgl. das Arbeitspapier Nr. 1). Genau so eine Liste könnten Sie auch für sich selbst im Alltag erstellen, lieber Leser und liebe Leserin, Sie werden Augen machen! Skepsis ist Luxus!

Wir haben uns gefragt, wie das mit dem ‹Meinen› und ‹Wissen› denn so ist, und dabei gesehen, daß wir den Kopf voll haben mit allerlei Meinungen, die wir für ein ‹Wissen› von der Welt halten. Wir sind alle Vielwisser und wir sollten nicht meinen, daß das ein besonderer Vorteil ist. Leider kommen wir aufgrund unseres Vielwissens, aufgrund unserer permanenten kommunal definierten Wiedererkennungsleistungen nur sehr selten zum eigenen Denken, zu einem eigenen Blick, zu einer eigenen Anschauung von den Dingen, zu einem eigenen Urteil, auch wenn alle Menschen immer wieder gerne betonen, daß das ihre persönliche Meinung sei, die sie da gerade verträten. Das ist sehr schade, aber vermutlich wird das Leben scheinbar leicht, wenn wir zu allem und jedem ins immer offene Meinungsregal greifen können. Denn: «Alles Leben in Staat und Gesellschaft beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß der Mensch nicht nachdenkt.» (Karl Kraus, in der ‹Fackel› Nr. 264–265, S. 25, vom 18.11.1908) So könnte es sein. Die «Gesellschaft des Spektakels» sorgt dafür, daß wir Erwartungsstrukturen ausbilden, die die uns zugeworfenen Meinungen, Wissenshäppchen und ‹Informationen› so durcheinanderbringen, daß wir auch in Zukunft bereitwilligst und fleißigst Gehörtes und Gesehenes, also Vorgesagtes und Vorgesehenes assimilieren, bis unsere Meinungsslots ununterbrochen und zusehends ungesteuert überlaufen. Dann endlich können wir nicht mehr denken, nur noch meinen, und meinen zu wissen.



Erstellt: 27. September 2001 – letzte Überarbeitung: 30. September 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.