BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine Psychologie des Urteilens (2): Die Tendenz zum erstbesten Urteil [1] Dieser psychologische Fachbegriff wurde vor mehr als 20 Jahren von Hans-Lothar Voß erfunden und in die Fachwelt eingeführt.» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

In der traditionellen Psychologie – und dort vor allem in der Sozialpsychologie – hat man bis etwa Ende der 70er Jahre geglaubt, Menschen seien effiziente Informationsverarbeiter und somit ‹kleine› Wissenschaftler. Dieses Modell vom Menschen nannte man «Man as scientist». Das Paradigma war, daß wir alle – geordnet und objektiv – Informationen aufnehmen und mindestens varianzanalytisch weiterverarbeiten. Gut, da kommen schon mal Fehler vor, wenn wir nicht konzentriert sind und uns ablenken lassen, oder wenn wir nicht guten Willens und eben keine «unabhängigen» Wissenschaftler sind, aber im großen und ganzen funktioniert das mit der Aufnahme und Weiterverarbeitung von Informationen – so wie sie sind – ganz gut. Das Fach, in dem Untersuchungen zum Menschen als Informationsverarbeiter veranstaltet wurden, nannte man ganz folgerichtig denn auch «Psychologie der Informationsverarbeitung».

Konstruktivistinnen vermuten nun seit dem Beginn der 80er Jahre, daß wir zum einen nur wahrnehmen können, was als Kategorie oder Prototyp in unserem Kopf schon vorbereitet ist. Es kann in dieser Sicht also gar keine – und für ein Urteil notwendige – «Verarbeitung» von Informationen, die gleichsam von außen eintreffen, geben. Ein zeitgemäßer Name für das oben genannte Fach wäre denn auch weniger «Psychologie der Informationsverzerrung» – das setzte ja voraus, daß wir Informationen, so wie sie sind, überhaupt erkennen und aufnehmen können –, sondern eher wohl «Psychologie der Informationsmißachtung», «Psychologie der Informationserfindung» oder – noch schöner – «Psychologie der Perturbationsfolgen».

Soziale Konstruktivistinnen vermuten aber zum anderen auch, daß Menschen durch ihr soziales Gewordensein weniger geistig geordnete Wesen geworden sind, denn «Reflexamöben», die das machen, was sie machen, weil sie es machen, und weil sie es in einem definierten sozialen Kontext vorher schon einmal genau so gemacht haben. Und Menschen – so geht die konstruktivistische Sage – bleiben in der derzeitigen Kultur leider immer sehr weit unter ihren epistemischen Möglichkeiten. Sie spielen den kognitiven Geizkragen, der etwa leichtfertig kommunale Meinungen daher plappert (vgl. «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale»), und dessen kognitive Leistungen in Alltag und Wissenschaft einfach erschreckend sind.

Wir möchten im folgenden nun auf einen Aspekt des Urteilens eingehen, den wir im ersten Teil dieser Reihe (vgl. «Urteilen und Werten: Eine Annäherung») schon gewürdigt haben und der uns immer wieder fasziniert: Die Schnelligkeit, mit der Urteile gefällt werden.


2. Merkmale

Unter der «Tendenz zum erstbesten Urteil» möchten wir eine in unserer Kultur zu beobachtende und ganz übergreifende, allgemeine Geneigtheit verstehen, schnell – gleichsam ohne Verzögerungsschleifen – mit Urteilen bei der Hand zu sein. Die Tendenz zum erstbesten Urteil führt dazu, daß wir in fast jeder Situation möglichst schnell ein plausibles Urteil fällen und somit zu einer Erklärung für irgendeine Ausgangslage kommen, welcher Art auch immer und für was auch immer. Das schauen wir uns näher an! Vier Gedanken dazu:


2.1 Glatte Sprachfiguren

Bewegt sich ein gesunder Menschenverstand in einem konkreten sozialen Kontext, scheint das entscheidende Kriterium für den Abbruch der an und für sich endlosen Kette möglicher Kausalerklärungen zu sein, daß die subjektiv plausible Erklärung eine einigermaßen glatte und kurze Sprachfigur bildet. Komplizierte, ausführliche, in Nebensätzen verschachtelte Urteile werden in der «Gesellschaft des Spektakels» weder verstanden noch akzeptiert. Diskussionen und Diskurse aller Art folgen immer weiter ihren medialen Vorbildern. Und dort gilt: Was sich sagen läßt, läßt sich kurz sagen. Also am besten in einem Satz. Denn nach 15 Sekunden – eine für Menschen, die in der Gesellschaft des Spektakels leben, schon erstaunliche Aufmerksamkeitsspanne – ereignet sich das nächste Ereignis. Punkt.

Glatte und kurze Sprachfiguren erleichtern und beschleunigen nun diese nach Kürze drängende Urteilsfindung. Schaffen wir es, unseren ja potentiell unendlich währenden Prozeß des Abwägens und Urteilens mit einer glatten und kurzen Sprachfigur abzuschneiden, wähnen wir uns am Ziel und unser – auf ein Urteil gespanntes – System wird unmittelbar darauf entlastet.

Stellen wir uns – als Beispiel – einmal vor, wie ein freier Bürger, der sich in seinem Land mit seinem Automobil frei bewegen möchte, urteilt, wenn er in einer «Nachrichtensendung» hört, daß irgendeine soziale Gruppe mal wieder für ein allgemeines Tempolimit von 100 km/h auf allen Straßen dieses seines Landes eintrete. Sein schnelles Urteil: «Die wollen eine andere Republik!» Wir ahnen, was er meint, ahnen wir es? Und dann beobachten wir noch die Bürgerin, die wieder einmal enttäuscht darüber, daß sie in einer «Nachrichtensendung» darüber «informiert» wird, es werde – in naher Zukunft – keine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf allen Straßen eingeführt, sich zu dem spontanen Urteil hinreißen läßt: «Denen ist doch schlicht und einfach die Umwelt völlig egal!» Wir ahnen was sie meint, ahnen wir es? Die Suche nach einer Erklärung, nach einem Urteil, kann in diesen beiden beliebig zu multiplizierenden Beispielen gar nicht sorgfältig gewesen sein, da sie so schnell beendet wurde.

Einfache, billige, wohlfeile, glatte, plausible, modische Sprachfiguren erleichtern die Urteilsfindung ganz erheblich. Und diese glatten und schlichten und kurzen Sprachfiguren lassen sich natürlich nicht in jedem sozialen Kontext abrufen, sie passen nicht in jede soziale Konstellation. Genauso wie es «Orte des ‹Meinens› und ‹Wissens›» gibt (vgl. das 3. Kapitel in «Meinen: Eine Annäherung»), benötigen auch Urteile ihren sozialen Raum, ihren Kontext.


2.2 Automatische Kontextdiagnostik

Zufriedenstellend und für uns ausreichend scheint es zu sein, wenn zum einen eine für ein Urteil benutzte Sprachfigur selbst ohne Ecken und Kanten daher kommt, also einfach und glatt und kurz ist, und wenn zum anderen die abgerufene Sprachfigur unserer Ansicht nach zu einem bestimmten sozialen Kontext paßt und in diesem Kontext vertraut klingt, da sie hier schon hundertfach gehört und aufgesagt wurde.

Die Tendenz zum erstbesten Urteil ist kontextuell eingebunden, obwohl es sicherlich auch eine ganze Reihe kontextübergreifende Sprachhülsen gibt. Unseren erstbesten Urteilen muß also eine automatische Kontextdiagnostik vorausgehen, die den Möglichkeitsraum der abrufbaren Sprachfiguren definiert. Wichtig ist, daß diese Kontextdiagnostik wahrscheinlich wenig bewußt oder geplant abläuft. Statt dessen müßten die kommunalen Situationen in den sozialen Räumen wie eine Fete, eine Familienfeier, ein Cafébesuch, eine tätige Arbeitsgruppe, ein Abend unter Männern, die Anwesenheit eines Kleinkindes, der Besuch einer Kirche oder eine Szene unter Liebenden hinreichende Hinweisreize aussenden, die den automatischen Zugriff auf eine spezifische Sprachschablonenkartei und damit auf die herbeigezauberten Urteile steuern. Das finden wir sehr spannend, weil es eben oft auch Mißverständnisse gibt. Denn war die Sprachfigur zwar wunderschön glatt, aber unpassend für den Kontext, dann war das Urteil im besten Fall ein Witz, ein Jux, dann waren das Faxen. In schlimmeren Fällen verweist ein kontext-unangemessenes Urteil unter Fachleuten auf eine «Anpassungsstörung». Also Obacht.

Nur nebenbei: Damit haben wir soeben das Produktionsprinzip der meisten gängigen Witze entdeckt: Zuerst wird ein bestimmter Kontext aufgebaut, dann folgt eine Sprachfigur, die nicht zu diesem Kontext paßt: Schon lachen alle. Ist das wirklich so einfach? Ja.

Schauen wir uns eine Kontextdiagnostik an einem Beispiel etwas näher an: Stellen wir uns vor, lieber Leser und liebe Leserin, Sie besuchten Bekannte und turnten gutgelaunt mit ein paar «happy-go-lucky» Sprachfiguren in diese soziale Situation hinein. Sie verbreiteten gute Laune. Da Sie jedoch ihre unausweichliche autopoietische Organisation gelegentlich zu bändigen wissen, registrierten Sie plötzlich und unvermittelt, daß die übrigen Anwesenden alle überaus betroffen aus der Wäsche gucken. Geistesgegenwärtig versuchten Sie schnell eine neue und zutreffendere Diagnose über den Status des sozialen Raumes abzugeben und fragten deshalb: «Was ist denn?» Eine mögliche Antwort aus dem Off des sozialen Raumes könnte etwa sein: «Ja weißt Du denn nicht, daß Willi diesen schweren Unfall hatte!?» Tja, Pech, woher sollten Sie das wissen?

Die Tendenz zum erstbesten Urteil läßt sich also nach dem bisher Gesagten beschreiben mit einem Bild: In sich schon glatte Sprachfiguren rutschen glatt in kommunal überdefinierte Kontexte. Urteilen wird zum Kinderspiel. Zum Glück läßt sich daraus aber auch ein wunderschönes Gesellschaftsspiel machen unter dem Motto: «Was könnte hier gesagt werden?» So kann man in fröhlicher Runde einen Mitmenschen auserwählen, der in einem weiteren Feld (Liebe, Restaurant, Büro, Proseminar) einen engeren Kontext zu definieren hat. Beispiele: In einer Zweierbeziehung fühlt sich einer von beiden nicht hinreichend geliebt; in einem Restaurant ist jemand mit seinem Essen nicht zufrieden etc. Nun werden zwei andere dazu ausersehen, in dem definierten sozialen Kontext auszuprobieren, was alles gesagt werden könnte. Die beiden spielen also das, was sie sowieso den ganzen Tag machen: Glatte Sprachfiguren zu äußern in einem bestimmten sozialen Raum, dessen Kontext definiert ist. Und die Aufgabe der Zuschauer und Zuschauerinnen dieses kleinen Spiels ist es, bei besonders glatten und komplett überdefinierten Sprachfiguren Beifall zu spenden oder Haltungsnoten zu verteilen. Sollen wir mal in einen Urteilsdiskurs hinein hören?

... «Mir wird irgendwie immer klarer, daß Du mich weniger liebst, als ich Dich.» (Beifall) «Aber wie kommst Du denn darauf?» (Beifall) «Siehst Du, wie Recht ich habe, wenn Du gleich so aggressiv reagierst!?» (Starker Beifall) «Ich kann Dich wirklich nicht verstehen. Wir haben es doch so schön zusammen. Und dann kommst Du mit so was!» (Beifall) Und so weiter. Natürlich kann man in einzelnen oder in allen Spielrunden den Beifall auch weglassen. Dann wirkt es gleich viel authentischer. Wir finden aber, das kann jede Spielgruppe nur für sich selbst entscheiden!

Wie gesagt, dies ist ein sehr schönes Gesellschaftsspiel, das wir von ganzem Herzen empfehlen. Falls Sie niemanden kennen, mit dem sie das spielen könnten, lesen Sie einfach das Arbeitspapier Nr. 8 der Bochumer Arbeitsgruppe. Das wirkt auch sofort.

Aber wir sollten über diese Spielereien nicht vergessen, um was es in diesem Traktätchen geht. Halten wir einstweilen fest: Die Tendenz zum erstbesten Urteil ist ohne das Abrufen glatter Sprachfiguren und ohne eine automatische Kontextdiagnostik nicht denkbar. Nun aber weiter im Text.


2.3 Entweder – Oder

Wenn wir Sprachfiguren als Urteile abrufen, können wir beobachten, daß wir unsere Urteile so akzentuieren, daß sie zu einem pseudodualistischen «Entweder – Oder» führen. Erstaunlicherweise versuchen wir ein «Sowohl als Auch» zu vermeiden. Wir scheinen als Erben der kontinentaleuropäischen, formalen, zweiwertigen Logik zu glauben, daß Ursachen weniger zusammenwirken als sich wechselseitig ausschließen. In unserer Kultur herrscht die Urteilsrede vor, eine Seite müsse immer für etwas verantwortlich sein. Das ist ein ganz besonderer Punkt. Das würde nämlich bedeuten, daß wir in unserer derzeitigen Kultur gar nicht in der Lage sind, multidimensional determinierte Prozesse durchblicken zu können. Nun, das ist natürlich genau das, was wir in Strategiespielen aller Art, in denen komplexe ökologische Systeme gemanagt werden sollen, immer wieder erleben. Und die derzeitige Situation in Alltag und Wissenschaft spiegelt dieses Defizit ebenfalls eindrücklich wieder.

Näher betrachtet führt die gewohnheitsmäßige Akzentuierung eines «Entweder – Oder» dazu, daß konkurrierende Ursachen, Meinungen und Sprachfiguren abgeschwächt und abgewertet werden müssen. Die Herausstreichung, das Gültig-werden-lassen einer Sprachfigur, bringt also die Herabsetzung und die Abschwächung anderer Sprachfiguren mit sich. Dies ist ein wichtiger Gedanke. Wenn wir mögliche Alternativen nicht abschwächten, würde ja alles nicht so wunderbar glatt gehen. Dann kämen wir vielleicht gar auf den Einfall, daß neben der von uns soeben geäußerten Sprachfigur noch andere möglich wären! Und das geht nicht. Der gut sozialisierte und deswegen ‹gesund› zu nennende Menschenverstand muß in einem stabilen Wirklichkeitsraum leben, Möglichkeitsräume machen ihn nur unruhig. Dies führt – gelegentlich – bei Menschen, die ihre Entwicklungsaufgaben hinter sich gelassen haben, und nun aktuell mit einem Urteil in Berührung gebracht werden, zu einem onomatopoetischen Singsang des «Nein, Nein, Nein, Nein, Nein! Daran lag es auf gar keinen Fall!» Als könnte die gesungene Verneinung die Abwehr eines unerwünschten, unerfreulichen oder unbekannten Urteils ganz magisch verstärken und das zu fällende eigene Urteil stützen und stärken. Wie schön.

Fazit: Das westliche Prinzip des «Entweder – Oder», das Denken in pseudologischen Kontrasten und Dualismen (vgl. dazu unbedingt das Arbeitspapier Nr. 4 «Logik und der Gebrauch von Argumenten») und das damit verbundene Prinzip, die jeweils anderen möglichen Urteile abzuschwächen, um mit sich, seinem einseitigen Urteil und damit mit seiner einseitigen Urteilsfindung ins Reine zu kommen, sind ein weiteres wichtiges Generikum, welches das so weit verbreitete, einfache, glatte, mühelose, ja wohlige Abrufen einer plausiblen, glatten Assoziation als Urteil ermöglicht.


2.4 Keine Zeit

Zeit, eher keine Zeit, spielt eine große Rolle bei der Urteilsfindung. Fast immer scheint es unser Ziel zu sein, ein möglichst schnelles, spontanes Urteil zu finden. In großen Teilen unseres kommunalen Makrosystems scheinen wir nicht zu lernen, irgendetwas offenzuhalten. Wir lernen damit auch, zu glauben, daß Sekunden der Ungewißheit unerträglich sind und so konstruieren wir brav und vor allem schnell und gar nicht gewissenhaft unsere gewisse Welt. Wenn wir uns in unserem Makrosystem umsehen, entdecken wir, daß zögerliche, gewissenhafte Menschen, die nicht eben mal schnell irgendein Urteil aufsagen, sondern die abwägen, offenhalten, Zeit brauchen, oft als Menschen ohne Gestaltungskompetenz, als Menschen ohne Handlungs- und Leistungsbereitschaft, ja als Warmduscher, Weicheier und Frauenversteher geadelt werden.

Oh, wie wird in unserer gigantischen Anti-Reflexivitätskultur zögerliche Reflexivität verspottet, wie wird Bedächtigkeit verlacht oder als inkompetente Wehleidigkeit und Weinerlichkeit lächerlich gemacht! Und wie werden im Gegensatz dazu die Menschen bewundert, die klar und fest und stark und «mit Sicherheit» urteilen. Und wann wird bei uns und von uns irgendetwas in Ruhe weitergedacht, ausgedacht, zu Ende gedacht? Keine Zeit! Schnell irgendetwas aufsagen!

Und jetzt kommt's: Urteile unter Zeitdruck, sogenannte erste Eindrücke werden vom gesunden Menschenverstand sogar noch als positiv, erwünscht, unverfälscht und authentisch gepriesen und abgefeiert, da echt gefühlsmäßig und nicht so kopflastig. Auch die Alternativkultur preist das spontane «Aus-dem-Bauch-Urteil», den schnellen Eindruck (vgl. dazu «Meinen: Im Sog der Sprache»). Etwas zu Ende denken? Wie unspontan, wie eklig, wie lästig! Und außerdem, wo führt das hin?

Fassen wir zusammen: Schnell geäußerte, glatte Sprachfiguren des Entweder – Oder, die in einen spezifischen sozialen Raum passen wie die Faust auf's Auge, bestimmen den Kosmos des Urteilens in unserer Kultur. Und sie zeigen, daß das Offenhalten eines Urteils, daß Reflexivität und Skepsis abgesagt sind.


3. Autopoiese?

Man könnte nun auf die Vermutung kommen, daß die Schnelligkeit des Urteilens, ja die «Tendenz zum erstbesten Urteil» aus der Autopoiese, der Selbstorganisation lebender Systeme abzuleiten sei (vgl. dazu unbedingt den Essay über «Personen als Systeme»). Ja, man könnte, wie es konservative Zeitungen täglich tun, gar noch unsere «egoistischen Gene» heranziehen, um erklären zu können, warum Menschen so schnell mit beliebigen Urteilen bei der Hand sind: Sie müssen halt – im schlimmen täglichen Überlebenskampf in der freien Wildbahn (heute symbolisiert durch entfesselte und globalisierte Märkte) – schnell mit überlebenswichtigen Urteilen bei der Hand sein, um ihre so wichtigen und einzigartigen Gene weitergeben und damit genau ihre Art erhalten zu können. Wir könnten an dieser Stelle nun einen Link einbauen, mit Hilfe dessen Sie, lieber Leser und liebe Leserin, in der Lage wären, sich eine kleine mp3-Datei mit unserem herzhaften Lachen anzuhören. Aber das tun wir nicht. Wir argumentieren seriös weiter. Etwa so:

Nun, daß der gesunde Menschenverstand in der westlichen Wildbahn es bei seinen Urteilen nicht mit Achtsamkeit, Bedachtsamkeit, mit Skepsis und Nachdenklichkeit hält, hat nichts mit Autopoiese zu tun, sondern mit Kultur. Unsere Gene und unsere autopoietisch geformte Selbstorganisation schreiben uns nicht vor, uns schnell zu entscheiden. Für unser Überleben ist es ganz zweifellos viel wichtiger, nicht schnelle, sondern richtige Entscheidungen zu treffen, Entscheidungen, die uns und unseren ökologischen Lebensraum mit einbeziehen. Und daß der gesunde Menschenverstand in der westlichen Welt – ganz global jetzt mal gesehen – dies derzeit nun wirklich nicht tut, könnte das Überleben dieser «Art» von Menschen auf diesem Planeten «wirklich» gefährden. Ist doch gut so, oder?

Das Konzept, kurzatmige, oberflächliche, positivistische «Informationen» heranzuziehen, hat mit Autopoiese nichts zu. Das ist sozialisiert, ist Kultur. So stellen wir uns sehr gerne andere Kulturen vor, in denen die Menschen nicht spektaklistisch leben, sondern eher achtsam, bedächtig, abwägend und erwägend den kleinen Geschäften ihres Lebens nachgehen.


4. Einblicke

Das kontextgebundene Abspulen erstbester Urteile ist in unseren Augen schlicht beeindruckend! Wenn wir uns noch vorstellen, daß kontextspezifische glatte Urteils-Sprachfiguren die prominentesten, die beklatschtesten, die entlastendsten sind, und wenn wir bedenken, wie weit man mit ihnen, mit dem allgemeinen Schwampf, mit dem gewöhnlichen Sprachmüll also, kommt, dann finden wir das noch erstaunlicher. Übrigens, im allgemeinen Sprachmüll gibt es tatsächlich keine Struktur, kein Punkt und Komma, das Bild ist also gut getroffen.

Wir möchten noch eine Bemerkung dazu machen, inwieweit unsere Kategorie der «Tendenz zum erstbesten Urteil» im Rahmen einer «Sozial-konstruktivistischen Psychologie» uns die Augen öffnen könnte über das Treiben der Menschen: Sie erhellt nämlich das Ganzdunkel der traditionellen psychologischen Erklärungswelt, indem sie unseren Blick auf das wirkliche Leben lenkt. Diese schlichte Kategorie verleitet uns erfreulicherweise dazu, Urteile und andere Gesten zu beobachten, zu archivieren und dann je nach Kontext, kommunalem Raum und Zeitraum zu fragen, was ist in welcher Standardsituation zu erwarten? Wie ist die Rangreihe der Wahrscheinlichkeiten? Welche Urteile sind in diesem lokalen sozialen Raum bei dieser Gelegenheit zu erwarten? Und diese Hierarchielisten sind auf einen bestimmten kulturellen Zeitabschnitt bezogen, sie gelten nicht immer. Und sie sind auf bestimmte kulturelle Subgruppen bezogen, nicht auf alle Menschen. Das könnte man dann auch auch «Wirklichkeitsprüfung» nennen, und das ‹Ergebnis› solcher Prüfungen wären Betrachtungen zur «Kulturphysiognomik». Klar.

Es lassen sich auch wunderbare Detailuntersuchungen für bestimmte soziale Rollen planen unter dem Motto: Was bedeutet das Versprechen, in dieser Gesellschaft zum sozialen Raum der Fußballstars, Wissenschaftler, Psychoanalytiker oder Oppositionspolitiker zu gehören? Was bedeutet es, ein solcher Jemand zu «sein»?

Daß diese lokalen sozialen Topoi Menschen generieren, die mit spezifischen lokalen Urteilen vorschnell bei der Hand sind, dürfte uns klar sein. Schauen wir uns – Spaß muß sein – deshalb mal einen Ausschnitt an aus einer Untersuchung über das «Sagbare» eines Psychoanalytikers, der unter einem sehr strengen Regiment in einem hoch artifiziellen sozialen Bedeutungsraum und unter sehr hohen Kosten nicht nur gelernt hat, daß alles, was Menschen tun, eine Bedeutung zu haben hat, sondern auch folgende Urteile zu fällen: «Kommen meine Patienten zu spät zur Therapiesitzung sind sie mir gegenüber – unbewußt – feindselig, kommen sie zu früh, zeigen sie – unbewußt – Motive der Abwehr, kommen sie aber pünktlich zur Therapiesitzung, dann sind sie – unbewußt – Zwangsneurotiker»! Wow!

Wir kommen zum Schluß dieses kleinen Traktates über die Schnelligkeit des Urteilens in unserer Kultur. Wie sollen wir das zusammenfassend ausdrücken, was wir uns ausgedacht haben? Vielleicht so: Außengeleitete Menschen, die in einer «Gesellschaft des Spektakels» mit einer «Sklavenkette an das ‹TV› gefesselt» sind (Hans-Georg Gadamer), müssen schnell urteilen können. Denn wer schnell ist, zeigt, daß er keine Ratschläge von außen braucht. Was in einer Situation zu sagen und zu urteilen ist, steckt also angeblich in ihm selbst. Wir sagen jetzt mal ganz kühn, nur selbstunsichere Menschen müssen sich schnell entscheiden und zu einem Urteil durchringen. Sich selbst wichtig zu nehmen, schnell «nachdenken» zu können, schnell zu einem klaren und deutlichen Urteil «ein für alle mal» zu kommen, die Welt also im Griff zu haben, auf was verweist das schon? Doch nur darauf, daß hier jemand sich und sein Urteil wichtig nimmt, sich also seiner selbst sicher zu sein scheint und deutlich machen möchte, daß sein ‹Ich› – mit seinem Urteil – eine Schneise der Ordnung in die Welt geschlagen hat. Das nennen wir Selbstwerterhöhung und Selbstwertstärkung in ‹Ich›-Kulturen. Tja, «So viel ‹Ich› war nie», und gleichzeitig so wenig. Die Tendenz zum erstbesten Urteil als Selbstunsicherheit also? Könnte sein. Und das in einer Kultur, in der doch vermeintlich jeder eine ganz eigene Persönlichkeit «ist», ein ganz eigenes ‹Ich› hat? Ja, gerade. Durch unsere Tendenz zum erstbesten Urteil versuchen wir uns unseres flüchtigen ‹Ichs› zu versichern. Zumindestens ist es schon mal urteilsfähig. Und das auch noch hurtig!

Wer innengeleitet ist, wer seinem Eigensinn, seiner Eigenzeit, seinen «Eigenbewegungen», seinem Eigenraum traut, der kann sich Zeit lassen, immer, und der wird auf ein erstbestes Urteil nicht angewiesen sein.



Erstellt: 15. April 2002 – letzte Überarbeitung: 15. April 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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