BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine Psychologie des Urteilens (3): Standardrituale» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

In dieser kleinen Reihe zur «Psychologie des Urteilens» beschäftigen wir uns mit der Frage, welche allgemeinen Bestimmungsstücke, welche Generica des Urteilens und Wertens sich in unserer Kultur herauspräparieren lassen. Uns interessieren dabei nicht die allfälligen ‹konkreten› Inhalte von Urteilen und Wertungen, sondern die grundsätzlichen Urteilsweisen und Urteilswege, oder anders, uns interessieren die oft so übereinstimmenden Ursachen-Orte, die bei einem Urteil gesucht und gefunden werden.

Nachdem wir im ersten Essay dieser Reihe («Urteilen und Werten: Eine Annäherung») vorsichtig die Begriffe ‹Urteilen› und ‹Meinen› auseinandergeschoben und den schönen Gedanken skizziert haben, daß unsere Kultur kognitive Geizkragen produziere, haben wir dann im zweiten Essay dieser Reihe gleich ein weit verbreitetes und allseits beliebtes Urteils-Generikum vorgestellt, «Die Tendenz zum erstbesten Urteil».

In dem hier vorliegenden dritten Essay nun untersuchen wir eine weitere weit verbreitete Übereinstimmung im Urteilen und Werten. Denn wenn es um Fragen geht wie «Warum hat jemand das und das getan?», oder «Wie konnte es geschehen, daß das und das passiert ist?», oder «Wer ist für das und das verantwortlich?» oder «Warum tut dieser Mensch das, was er tut?», ist leicht zu beobachten, daß Menschen in unserer Kultur in ihren Urteilen über andere Menschen eine Richtung bevorzugen: Die Ursachensuche in der Person selbst. Bei dieser am weitaus häufigsten benutzen Urteilsart werden Ausgangs- und Ursachenort eines Geschehnisses in eine Person hinein- oder zurückverlagert. Unsere Kultur legt uns in einer konkreten Gemengelage nahe, die Einflüsse einer Person auf das, «was hinten rauskommt» (Helmut Kohl) zu überschätzen und den Einfluß der Umgebungsbedingungen zu unterschätzen. Dies nennen wir von nun an das «Standardritual der Ursachensuche in der Person».

Das erstaunliche und aufregende ist aber nun, daß Menschen in unserer Kultur von diesem klassischen Standardritual immer dann abweichen, sobald sie selbst in ein Geschehen verwickelt sind. Ist das Geschehen gut ausgegangen, war irgendein «Erfolg» zu verzeichnen, dann bleiben die selbst in ein Geschehen Eingebunden beim «Standardritual der Ursachensuche in der Person» und suchen die Ursachen für den «Erfolg» in ihren ganz persönlichen Fähig- und Fertigkeiten. Ist das Geschehen jedoch schlecht ausgegangen, ist irgendein «Mißerfolg» zu verzeichnen oder gar ein Schaden entstanden, dann weichen die in dieses Geschehen Eingebundenen vom Standardritual ab und suchen die Ursachen für das, was geschehen ist, in der Situation, in den Umgebungsbedingungen, in allem möglichen, nur nicht bei sich. Dies nennen wir von nun an das «Standardritual der Ursachensuche in der Situation».

Wie alltäglich diese Rituale angewendet werden, zeigen die folgenden beiden Beispiele:
2. Zum Standardritual der Ursachensuche in der Person

2.1 Überblick

In unserer Kultur gehört die Ursachensuche in der Person für Ereignisse aller Art zum guten Ton. Es gibt eine Unzahl von Gelegenheiten, dieses Standardritual einzuüben und anzubringen. Keine politische Rede, keine Auseinandersetzung und auch kaum ein Diskurs unter Liebenden ist ohne dieses Ritual vorstellbar. Es gibt in unserer Kultur eine allgemeine und überwältigende Tendenz, die Bedeutung von Personenfaktoren relativ zur Bedeutung von Situationsfaktoren zu überschätzen. Der gesunde Menschenverstand – als kognitiver Geizkragen – spielt nicht nur das Lieblingsspiel, aus Situationen aller Art mit schnellen und ‹erstbesten Urteilen› herauszukommen, nein, seine Urteile beziehen sich darüber hinaus auch fast immer auf vermutete, in der «beobachteten» Person befindliche Merkmale. Und diese Merkmale «erklären» ein Ereignis. Und unsere überaus geduldige Sprache stellt uns ein wahrlich maßloses und reichhaltiges Repertoire von Erklärungen zur Verfügung wie Eigenschaftsworte und Adjektive aller Art sowie Worte, die auf Motive, Triebe, Bedürfnisse, Dispositionen oder Absichten innerhalb der Person zeigen sollen, über die geurteilt wird.

Durch die allfällige Ursachensuche in der Person besteht – bei näherer Betrachtung – das Lieblingsspiel des kognitiven Geizkragens in unserer Kultur nun darin, alles zweimal zu sehen, was nur einmal da ist. Wie das? Nun, was da ist, was «wirklich» da ist, ist eine Person, die etwas getan oder gelassen hat. Was der kognitive Geizkragen aber daraus macht, ist, das, was getan oder gelassen wurde, mit Persönlichkeitseigenschaften und Merkmalen aller Art zu verdoppeln. Hat jemand etwas gelassen, könnte das Ritual zu einem «Ja, er ist aber auch sehr unzuverlässig!» führen. Und hat jemand etwas getan, wäre als Beispiel ein «Er ist aber auch wirklich oft so aggressiv!» zu erwarten.

Das, was nur einmal da ist, ein Tun oder ein Lassen, wird also mit einer Eigenschaftszuschreibung verdoppelt. Das genügt aber nicht, ist der kognitive Geizkragen erst einmal in Fahrt gekommen, macht er weiter und ist im Rahmen seines Lieblingsspiels nur gar zu gerne und gar zu schnell bereit, nicht nur breite persönliche Merkmale aus angeblich beobachtetem Verhalten zu erschließen, sondern vor allem – gerade wegen dieser soeben zugewiesenen Merkmale – auch eine Konsistenz im Verhalten dieser einen «beobachteten» Person über die nächsten Situationen und Kontexte hinweg zu erwarten: Wenn diese Person das einmal gemacht hat und deswegen diese Eigenschaft «hat», dann ist ja wohl klar, daß sie sich aufgrund dieses innewohnenden steuernden Merkmals auch in Zukunft so verhalten wird, wie wir das erwarten.

Tja, so geht das. Konsistenzen im Verhalten einer Person zu entdecken ist – über den Umweg der Merkmalszuschreibung – eben sehr leicht, weil man – gleichsam als Wissender – das «Verhalten» ja gar nicht mehr beachten muß, da man ohnehin schon weiß, welches Verhalten – aufgrund der einmal zugewiesenen Persönlichkeitsmerkmale – «auftreten» wird. Und das Entdecken von angeblichen Konsistenzen im Verhalten des anderen wird immer leichter, wenn man erst einmal damit angefangen hat. Ach, Gott schütze alle Liebenden!

Beginnen wir mit der Analyse des Standardrituals der Ursachensuche in der Person und erörtern wir die Probleme dieser allzu beliebten kognitiven Fahrlässigkeit.


2.2 Personen als «Ursache»?

Das oben skizzierte weit verbreitete Standardritual des Urteilens legt also Ursachen für das Verhalten einer Person in die sich verhaltende Person selbst. Der Erfolg eines ganzen Unternehmens oder einer kleinen Sachbearbeiter-Abteilung, der Erfolg einer ganzen Nationalmannschaft oder einer kleinen Kreisklassentruppe soll – in unserer Kultur – «ganz, ganz» stark von den Eigenschaften des Managers, Trainers oder «Führers» einer dieser sozialen Gruppen abhängen. Die Ursachen für ein überaus komplexes systemisches Geschehen (vgl. den Essay zur «Sozialpsychologie») werden also radikal reduziert, kanalisiert und fokussiert auf eine Ursache in einer Person, in der Person, die «Führungsaufgaben» übernommen hat und deswegen auch «Führungseigenschaften» haben sollte. Ach, ist das nicht schön überschaubar, dieses alte Denken? (Es geht auch anders: Lesen Sie mal «Personen als Texte».)

Die kausale Erklärung eines Verhaltens geschieht nun mit Hilfe eines mystischen «Etwas», mit Hilfe eines psychologistischen Homunculus, der sich in der Person befinden soll. Von irgendeinem angeblich beobachteten «Verhalten» kommen wir hurtig zu einer «dahinter» liegenden «Eigenschaft» als Ursache für dieses Verhalten. Wie kann das funktionieren? Nun, vermutlich dadurch, daß das angeblich zum «Erscheinungsbild» einer Eigenschaft gehörende, das mit ihr «verknüpfte», und das schließlich zu einer Eigenschaftszuschreibung führende Verhalten meist völlig unzureichend definiert ist. Das Verhalten einer Person – falls überhaupt etwas zu sehen war – wird extrem geglättet und ausgedeutet, um zu einem bereits längst vorher feststehenden und für diese Zeit, diese Kultur und diesen sozialen Raum typischen sprachlichen Etikett zu passen.

Nehmen wir ein Beispiel: Wir könnten versuchen, das Verhalten eines Kindes minutiös und in allen Einzelheiten zu beschreiben, oder aber wir könnten einfach zusammenfassend und abschließend sagen: «Dieses Kind war aufsässig.» Mit dem Grad der Abstraktion vom Verhalten sollte eigentlich die Unsicherheit des Rückschlusses vom Verhalten auf die Eigenschaft steigen. Das ist allerdings nicht zu beobachten, eher das Gegenteil: Je abstrakter, je ungenauer die Urteile, desto sicherer werden sie ausgesprochen. Aufgrund des völlig ungeklärten Verhältnisses von angeblich beobachtetem Verhalten und angeblich zugrunde liegender Eigenschaft können wir beim «Standardritual der Ursachensuche in der Person» schon jetzt ein Fiasko auf der ganzen Linie konstatieren. Denn das «Erkennen» einer Eigenschaft als einer Ursache für eine gezeigtes Verhalten führt zu einer plumpen Zirkularität: Udo zeigt sich aufsässig, weil er aufsässig ist. Das Bedingende und das Bedingte sind identisch, das stürzt ab.

Wie umfassend wir an dieses Ritual gewöhnt sind, wie bedenkenlos wir es einsetzen, zeigt sich darin, daß wir es sogar bei unbelebten Gegenständen anwenden. Ein Gegenstand (Stein, Ball) «tut» was, bewegt sich, fällt runter oder gerät passiv ins Kreuzfeuer des Geschehens: Dieser Gegenstand hat schuld, birgt – als ein mysteriöses «Etwas» – die Ursache in sich, ist verursachender Agent. Es gibt hier rührende Beispiele aus der Welt der Kinder und mancher Erwachsener. Man tut sich an etwas weh und sagt: «Du böser Stein!», «Du böse Schere!», ja man schlägt vielleicht gar danach oder wirft es voll Zorn in eine Ecke. Interessant ist auch, wie viele Menschen über oder mit ihrem Computer sprechen: «Ausgerechnet jetzt will er wieder nicht!», «Nun mach mal voran!», «Was hat er denn jetzt schon wieder?» Das ist Anthropomorphismus pur. Die Ursachensuche in sich bewegenden oder sich in der Nähe befindlichen Gegenständen scheint so ein uraltes Kulturgut zu sein, da wir sogar unschuldige Gegenstände damit belästigen. Und Menschen erst recht!


2.3 Zur Vernachlässigung situativer Aspekte

Wenn Personenfaktoren strapaziert werden, liegt es nahe, daß Situationsfaktoren vernachlässigt werden müssen. Interessant ist das Phänomen, daß oft selbst bei vollem Einblick in die situativen Rahmenbedingungen, in die das Verhalten einer Person eingebettet ist, ganz überwiegend Personenfaktoren für die Bewertung und Erklärung von Verhalten herangezogen werden. Wie kann das sein?

Nun, wir sind offensichtlich in erheblichem Maße unsensibel für Kontexte, Situationen und Umgebungsbedingungen, selbst dann, wenn diese sogar noch besonders thematisiert werden und ein Verhalten fast vollständig erklären könnten. Das «Standardritual der Ursachensuche in der Person» sorgt dafür, daß unabhängig davon, wie eine Person tatsächlich verursachend oder wenigstens mitwirkend an einem Geschehen beteiligt war, immer irgendetwas an der beurteilten Personen hängen bleibt. Diese Urteilsgewohnheit ist uns aus den vielfältigen Insinuierungen, Verdächtigungen und Schmutzereien des politischen Alltags so vertraut, daß sie uns weder auffällt noch sonderlich erstaunt.

Ein gutes Beispiel für die Präsenz des «Standardrituals der Ursachensuche in der Person» und die Vernachlässigung situativer Aspekte ist die Rezeption des Milgram–Experimentes in Alltag und Wissenschaft, welches zuerst 1963 veröffentlicht und später mehrere Male repliziert wurde (z.B. 1971). Es handelte sich um ein Gehorsamkeitsexperiment, in dessen Verlauf die Versuchspersonen – unter den ständigen Ermahnungen eines Versuchsleiters – aufgefordert wurden, den angeblichen Lernprozeß einer anderen Person dadurch zu fördern, daß sie dieser zunehmend stärkere – und in der Endphase des Experimentes lebensgefährliche – Elektroschocks von 15–450 Volt geben, falls die Testperson bei einer Lernaufgabe versage. Die angebliche Testperson war natürlich ein Konföderierter des Versuchsleiters, der auch gar nicht wirklich geschockt wurde, sondern den Schmerz nur durch Schreie und Schmerzenslaute simulierte. Das Erschreckende war nun, daß sich im «Standardaufbau» dieses Experimentes – eine universitäre Einrichtung testet Lernverhalten – etwa 60% der Versuchspersonen zur Verabreichung der Höchststrafe verleiten ließen, von der sie annehmen mußten, daß sie zumindest äußerst schmerzhaft, wenn nicht sogar lebensgefährlich war. Nur nebenbei: Bei Nachuntersuchungen in der Bundesrepublik Deutschland ließen sich 86% der Versuchspersonen zur Vergabe der Höchststrafe verleiten. Wundert das jemanden? Nein.

Bei der Diskussion dieses Experimentes in Alltag und Wissenschaft war nun ein allgemeines Jammern über Gehorsamkeitstendenzen im allgemeinen zu beobachten, welches wir heute sehr leicht als das «Standardritual der Ursachensuche in der Person» entlarven können: Die Versuchspersonen wurden als kalte, brutale KZ-Knechte gesehen, als gedankenlose, unmoralische Büttel, ja als willenlose Kalfaktoren. Biologistisch und psychoanalytisch orientierte Theoretiker philosophierten über das letztlich Ur-Böse in uns, und über den Menschen als phylogenetisch definierten und aufgeladenen Aggressionsbolzen! Na ja.

Man kann das Experiment aber auch ganz anders sehen: Es wurde hier ein sozialer Raum geschaffen, der einen sehr starken kommunalen Druck auf die Versuchspersonen ausübte und sie ja auch – unbedingt – dazu verleiten sollte, mit immer höheren Schocks fortzufahren. Milgram selbst beschreibt das große Dilemma der Versuchspersonen, die auf der einen Seite zwar niemandem weh tun wollten, auf der anderen Seite aber dem Druck der Versuchssituation erlagen. Stellen wir uns zunächst einmal den Kontext eines Forschungslabors an einer angesehenen Universität in irgendeiner Großstadt vor, dann die Freiwilligen, die dieses Labor aufsuchen, um gegen eine geringe Bezahlung an «Untersuchungen» teilzunehmen, dann als Versuchsleiter einen seriös und «ein wenig streng» aussehenden Wissenschaftler im grauen Kittel eines Technikers, und stellen wir uns dann noch schließlich vor, daß dieser Versuchsleiter bei aufkommenden Zweifeln der Versuchspersonen immer wieder mit einem kaskadierenden «Bitte fahren Sie fort!», «Bitte machen Sie weiter!», «Das Experiment erfordert, daß Sie weitermachen!» und schließlich mit einem «Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!» die Spielregeln des sozialen Raumes überaus deutlich macht. Wir sehen: Selbst bei einem vollen Einblick in die kommunal definierten Anforderungen eines Kontextes lassen wir die persönliche Ursachenzuschreibung nicht aus.

Wir glauben, daß situative Faktoren des sozialen Raumes bei der Rezeption des Milgram-Experimentes stark vernachlässigt wurden und werden, obwohl Milgram selbst sich große Mühe gegeben hatte, situative Einflüsse durch allerlei experimentelle Variationen zu erfassen. Die in der Tat fürchterlichen Gehorsamkeitsleistungen liegen unserer Ansicht nach nicht in den Personen, sondern wesentlich stärker im stützenden und ja eigentlich über alle moralischen Zweifel erhabenen universitären System als staatlicher Dépendance. Wir glauben, daß es diese schrecklichen Gehorsamkeitsleistungen wie im Milgram-Experiment nur geben kann, wenn ein übergeordneter Kontext als kommunaler Plausibilitätsraum, als Rechtfertigung und als fraglose Sicherheitsinstanz zur Verfügung steht. Erst dann diffundiert die Verantwortung. Oder anders: Wenn die Spielregeln eines sozialen Raumes unbezweifelbar erscheinen, sind Menschen in diesem Raum buchstäblich zu allem zu bewegen.

In diesem Sinne haben die Milgram-Experimente eine Bedeutung, eine ganz schreckliche Bedeutung. Denn es geht im finalen und längst globalisierten Kapitalismus darum, die Spielregeln, das heißt hier, den Vorrang der «Ökonomie» vor allem anderen, ja selbst vor der Erhaltung unserer Biosphäre, völlig unbezweifelbar und unanfechtbar zu machen. Und es funktioniert. Denn überall zeigt sich bereits «das Globale im Lokalen».

Und wenn heute ein geachteter Manager irgendeines Unternehmens vor der Presse verkündet, er werde in nächster Zeit 10.000 Arbeitnehmer entlassen, dann ist dies kein Hinweis auf besonders gute oder schlechte Eigenschaften dieses Managers, sondern es handelt sich hier schlicht um eine Kontextleistung, um eine Anpassungs- und Gehorsamkeitsleistung dem finalen Spätkapitalismus gegenüber. Der Manager sagt halt die Spielregeln seines derzeitigen sozialen Raums auf. Und bekommt Beifall von allen Seiten. Und der Aktienkurs seiner Firma steigt. Na also. Es könnte aber auch ganz anders sein. Wenn sich allerdings «Über das Besiegte» in dieser Spaßkultur nicht mehr reden läßt, dann sollten wir schweigen.


2.4 Verhalten als Zeichen

Ein weiterer Gedanke zur Überschätzung und Überbewertung von Personenfaktoren beschäftigt sich damit, daß konkretes Verhalten in konkreten Situationen in lokalen sozialen Räumen zu beliebigen Zeichen verkommt, zu einem Hinweisreiz also auf etwas angeblich dahinter Liegendes. Das konkrete Verhalten selbst wird dabei völlig entwertet, wird uninteressant. Dieser Zeichenansatz ist universal, er beherrscht Alltag und Wissenschaft, spukt als Ursache-Symptom-Denken durch die Medizin und wird auch von Politikern in reichem Maße angewendet. Manchmal wird er sogar beim Namen genannt: «Diese Äußerung des Bundeskanzlers ist doch wieder einmal nur ein Zeichen für den latenten Antiamerikanismus der SPD!»

Verhalten als Zeichen aufzufassen, hinter allem Verhalten irgendwelche psychischen Merkmale zu vermuten, das ist Psychologismus in Reinkultur! Der Zeichenansatz ist wirklich erstaunlich einfach und profan. Nicht nur der «HERR» gibt uns ständig Zeichen, nein, alles, was passiert, geschieht in Zeichen, muß also von seiner Bedeutung her erschlossen werden. Stellen Sie sich, lieber Leser und liebe Leserin einmal vor, sie würden in irgendeinem privaten Kontext, der mit einer Agglomeration von Menschen zu tun hat, von irgend jemandem angelächelt oder berührt. Achten Sie auf das Lächeln oder die Berührung, oder versuchen Sie sich schnell zu sagen und zu erklären, was dieses Lächeln oder diese Berührung bedeuten, wofür sie also als Zeichen stehen könnten? Würden Sie sich beim Anschauen des Lächelns oder gar beim Spüren der Berührung erst einmal eine Weile aufhalten? Oder würden Sie sofort versuchen, diese als Hinweise auf etwas anderes, als Zeichen für etwas anderes zu entschlüsseln? Gute Fragen. Leider sind wir meisten so intensiv damit beschäftigt, die Bedeutung von Zeichen zu ergründen, daß wir gar nicht mitkriegen, was eigentlich passiert. Eine Berührung? Na wenn schon! Aber warum, wozu? Oder sollen wir es so ausdrücken: Wir spüren nichts, solange wir nicht wissen, warum uns jemand berührt. Komisch? Nöh.

Noch ein Beispiel: In der Politik können wir als Macher tun, was wir wollen, wichtig ist nur, daß wir gleichzeitig über die mit uns verbundenen Medien zum einen die schlichte Auswahl von Zeichen und «Ereignissen» steuern und zum anderen beeinflussen, wie über sie gesprochen wird, denn erst dadurch wird «klar», auf was diese Zeichen und «Ereignisse» verweisen. Heiner Geißler sagte einmal: «Die Menschen werden eben nicht so sehr von Werken und Taten beeinflußt, sondern von den Worten über die Taten.» [1] Der Spiegel Nr. 50, 1985 S. 21. Da unser Staat auf Sprache aufgebaut ist und in unserer Demokratie somit jede «Nachricht» eine Gelegenheit für die Obrigkeit darstellt, können wir uns vorstellen, wie einfach die «Kniffe der politischen Anästhesie» (Oswald Wiener) sind. Unabhängig von dem, was geschieht, können die im Besitz der Mächtigen befindlichen Medien zu den Handlungen der Mächtigen euphemistische Zeichen erfinden, die euphonisch klingen und die in der Bevölkerung zu Eutonie, Euthymie und Euphorie führen. Ist nicht so schwer. Die in den nächsten Jahren sicher zu erwartenden Einschränkungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe könnten so als Zeichen ausgegeben werden für eine längst notwendig gewordene «Motivierung» der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger. Und die in den nächsten Jahren sicher zu erwartende Erhöhung der «Eigenbeteiligung» an den Gesundheitskosten könnte als Zeichen für eine «Stärkung der Eigenverantwortung» ausgegeben werden. Ist ja auch naheliegend, denn immerhin taucht zwei mal das Präfix «Eigen» auf. Zur Not könnte man aber auch sagen, daß in dieser «Lage» ein jeder seinen Beitrag leisten müsse. Ein jeder? Genug davon!


2.5 Zur Stabilität und Konsistenz von Ursachen in der Person

Die Vermutung des gesunden Menschenverstandes, daß die aus irgendeinem Verhalten oder anderen Zeichen erschlossenen bzw. erfundenen Eigenschaften und Merkmale stabil und konsistent über die Zeit und gleichbleibend über verschiedene Situationen und Kontexte hinweg wirken, hat ziemliche Auswirkungen. Denn geringfügiges Nachdenken zeigt uns, daß die mit dem eigenschaftsorientierten Denken verknüpfte Konsistenzannahme leider abstürzt. Und ein etwas längeres Nachdenken könnte uns dazu bewegen, die Suche nach durch die Person bedingtem, über Situationen und Zeit hinweg konsistentem Verhalten aufzugeben und die im Alltag so leichtfertig im Diskursgeschäft gehandelten hoch generalisierten Merkmale und Eigenschaftskategorien wie etwa Ängstlichkeit, Aggressivität, Kommunikationskompetenz und so weiter aufzugeben zugunsten von spezifischen, situationsorientierten Beschreibungen, die dazu noch auf ein spezifisches kommunales Segment bezogen sind. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, das in unserem bürgerlichen kommunalen Makrosystem immer noch wunderschön zu beobachten ist:

Es gehört in diesen Kreisen zum guten Ton, daß ‹Er› «ängstlich» ist, wenn ‹Sie› fährt und ‹Er› mit im Auto ist, und ‹Er› es eigentlich gewohnt ist, selbst am Steuer zu sitzen. Gut, viele kluge Frauen verstehen es, diese lästige Situation zu vermeiden. Denn sie möchten sich selbst nicht dabei zuhören, wie sie denken, ‹Er› sei in dieser Situation eher «dominant», «besserwisserisch» oder gar «übergriffig», zumindest aber «nervig» bis «gemein». Bei einer genaueren Betrachtung einer solchen Standard-Szene sehen wir, daß ‹Er› überhaupt nicht «ängstlich» ist, sondern eine Fülle interessanter kleiner Verhaltensdetails zeigt, wenn ‹Sie› fährt: Was soll das: «Ängstlich»? Hat hier jemand Angst. Was geht uns mit diesem Soßenwort nicht alles an Einzelheiten verloren! Und überhaupt, jetzt wird es spannend: ‹Er› macht nichts anderes als das, was er machen würde, wenn er selbst fahren würde. Er achtet auf alles, was mit dieser unökologischen und dummen Fortbewegungsweise zu tun hat. So einfach ist das! Was ‹Er› also lernen müßte, ist die Vorstellung, daß er – als Mitfahrer – nicht selber fährt, sondern eben nur mitfährt. Schluß mit dem Eigenschaftswortgedusel!

Aufgrund unzulässiger Stabilitäts- und Konsistenzannahmen können wir Personen in unserer Umgebung in Eigenschaftskästchen stecken, deren Beschriftung wir selbst vornehmen dürfen. Und in diesen Kästchen bleiben die dann auch drin. Bis wir es uns – vielleicht, irgendwann, oder auch nie – einmal anders überlegen. Leider kann mit diesem Zuschreibungsgenerikum viel Leid erzeugt werden, denn wie soll sich jemand gegen das Aufkleben eines Etiketts wehren? Gibt es auch nur einen denkbaren Fall, in dem man den Etiketteur zur Rücknahme seines Etiketts bewegen könnte? Oder noch gemeiner: Wie können wir es verhindern, dem anderen ständig Beweise für seine Zuschreibungen zu liefern? Gar nicht? Hm, könnte sein. Schauen wir uns einige Beispiele an:

Stellen wir uns vor, ein Kind wird mit Hilfe eines von einer eifrigen Lehrerin «durchgeführten» sinnlosen Intelligenztests in eine Sonderschule eingewiesen. Welche Möglichkeiten hat dieses Kind, aus dieser Schule wieder herauszukommen? Welche Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiungen wurden hier geweckt?

Stellen wir uns vor, ein Kind hat sich bei irgendeiner handwerklich-mechanischen Angelegenheit ungeschickt angestellt. Nun benutzt jemand mit Hilfe einer unzulässigen Stabilitäts- und Konsistenzannahme diese winzige Episode, um fürderhin täglich Entwicklung zu verhindern: «Laß mal, Du kannst das sowieso nicht. Du bist zu ungeschickt!» Nur nebenbei: Aus solchen winzigen Miniaturen entfaltet sich unsere Ontogenese. Es ist ganz leicht, jemandem bestimmte Sachen nicht beizubringen, um das so erzeugte Nicht-Beherrschen anschließend als Bestätigung der eigenen Prämissen über Stabilitäten und Ursachen in der Personen anzusehen!

Schauen wir auf die fabelhafte Welt der Liebesbeziehungen. Aufgrund unzulässiger Stabilitäts- und Konsistenzannahmen werden hier täglich vielfältigste Probleme geschaffen: Solange wir jemanden lieben, ist das Hineinverlagern von stabilen und konsistenten Eigenschaften in die von uns geliebte Person wunderbar! Es wird zwar nie ganz klar, ob wir die andere Person lieben oder eher die Eigenschaften und Merkmale, die wir dieser Person zugeschrieben haben, aber das macht nichts, das ist ja gerade der verwirrende Zauber der Liebe. Leider erfinden wir aber auch eine ganze Reihe von Merkmalen in die geliebte Person hinein, die wir nicht schätzen. Und können dann jedes kleine Ereignis «Du, morgen kann ich wirklich nicht mitkommen, ich muß da und da hin!» nutzen, um nicht nur zutiefst enttäuscht zu sein, sondern auch um die Ursachen dafür in stabilen Merkmalen der geliebten Person zu suchen und zu finden: «Ja, natürlich, wenn ich dich schon mal um etwas bitte, was mir wirklich wichtig ist! Da sieht man es, ich bin dir doch völlig egal. Und du bist egoistisch!»

Um das nochmals klar zu machen: Jemanden zu lieben heißt hier, sich über das eigene Hineinsehen von stabilen und konsistenten Merkmalen in eine geliebte Person zu freuen, nein, nach diesen Eigenschaften verrückt zu sein! Und jemanden nicht (mehr) zu lieben, ja ihn zu hassen, heißt hier, sich über die stabilen und konsistenten Eigenschaften, mit der man eine (ehemals) geliebte Person selbst ausgestattet hat, zu ärgern.

Da Konsistenzen im Auge des Betrachters liegen, werden Inkonsistenzen ebenfalls im Auge des Betrachters zurechtgerückt. Sollte der gesunde Menschenverstand also trotz seiner fast immunen Urteilsprozesse einmal den Eindruck haben, daß das von ihm Beobachtete nicht gemäß seiner eigenschaftsorientierten Erwartungsregeln verläuft, wird diese mangelnde Konsistenz ganz einfach gelöst: Denn wenn wir Eigenschaften und Merkmale, ja den «Charakter» einer Person nur weit genug abstrahieren und vielleicht noch mit einem «Eigentlich ist er eher ein Soundso-Mensch!» verbinden, dann können wir praktisch alles, was wir beobachten, als Bestätigung für die von uns vergebenen und zugeschriebenen Eigenschaften ansehen. Und sollte dies auch bei größten kognitiven Anstrengungen nicht möglich sein, nun, dann bestätigt eben die Ausnahme die Regel.

Um Ihre Geduld, lieber Leser und liebe Leserin, zu belohnen, hier noch ein schönes Beispiel, das Sie vielleicht schon selbst mal erlebt haben: ‹Er›, der es eigentlich gewohnt ist, selbst am Steuer zu sein, sitzt im Auto auf dem Beifahrersitz, und ‹Sie› fährt. ‹Sie› hat sich über ihre Bedenken, sich in eine solche Situation zu begeben, hinweggesetzt. Und nun sieht ‹Sie›: Er ist ja gar nicht «ängstlich», denn er macht – nichts, gar nichts, überhaupt nichts: Er guckt nur nach vorne. Nach 10 Minuten Fahrt reißt ihr aber dann doch der Geduldsfaden und ‹Sie› sagt: «Nun sitz doch nicht so gottergeben da herum, wenn ich fahre!» Ist das Leben nicht schön? Ja.


2.6 Die Welt des Ursachensuchers

Das «Standardritual der Ursachensuche in der Person» ist natürlich gekennzeichnet von der Abhängigkeit der Ursachen vom Ursachensucher. Wir können als angebliche Ursachen für das Verhalten von Menschen ja nur Worte und Kategorien heranziehen, über die wir bereits verfügen! Im Regelfall des nicht-konstruktivistischen Alltags glauben wir somit, das Verhalten einer anderen Person zu ‹erkennen› und zu beschreiben, dabei plündern wir doch nur unser Arsenal verfügbarer Konstrukte. Wir können somit sagen, daß die zu einer Ursachensuche herangezogenen Eigenschaften eher das kategoriale Weltbild des Ursachensuchers charakterisieren, als das Verhalten der angeblich beobachteten Person. Die im Diskurs des Alltags herumschwirrenden Eigenschaften und Merkmale sind also kategoriale Wahrnehmungsdimensionen im Kopf der Ursachensucher, keine Zustände in der Psyche des Betrachteten. Nur damit das klar ist.

Und wenn wir jetzt einmal einen Blick auf die traditionelle Psychologie – und hier besonders auf die Persönlichkeits- oder Sozialpsychologie – werfen, können wir gleich feststellen, daß weite Teile der Wissenschaft Psychologie auf dem «Standardritual der Ursachensuche in der Person» basieren. «Theorien der Persönlichkeit» und «wissenschaftliche Eigenschaftstheorien» sagen also – wenn sie überhaupt auf etwas verweisen – eher etwas über die kognitiven Kategorien der Erfinder dieser Theorien aus als über die «Wirklichkeit».

Und wir können – als Konstruktivistinnen – mit einem Blick auf psychologische Testverfahren aller Art sagen, daß es sich bei der «Psychometrie» schlicht um methodische Ausschmückungen dieses Standardrituals handelt. Denn «Liegt der Irrtum nur erst, wie ein Grundstein unten im Boden, immer baut man darauf, nimmermehr kommt er an den Tag.» (Johann Wolfgang von Goethe)


2.7  Zur Beliebtheit und Akzeptanz des Rituals

Leider ergibt sich noch das unerfreuliche Problem der Akzeptanz eigenschaftsorientierter Beschreibungen. Solche Beschreibungen und Erklärungen sind in unserer Kultur außerordentlich beliebt und werden eben auch gerne hingenommen und akzeptiert! Ursachensucher, die Eigenschaftsworte verwenden, werden für ihre Eigenschaftswortverwendung permanent verstärkt und belohnt. Schauen wir uns nur ein Beispiel an, um deutlich zu machen, wie beliebt das Prinzip der Eigenschaftszuschreibungen bei denjenigen ist, auf die die Worte geklebt werden. Stellen wir uns vor, wir reagieren auf eine Annonce in einer Zeitschrift und bestellen irgendein graphologisches Gutachten oder lassen uns gar ein Horoskop ausarbeiten. Was bekommen wir in diesen Pseudo-Gutachten zu lesen? Nette Sachen: Obwohl derartige Aussagen, da sie für beinahe alle Menschen gelten, völlig nichtssagend sind, fühlen sich erschreckend viele Leute erkannt und durchschaut. Der gesunde Menschenverstand arbeitet nicht nur selbst eigenschaftsorientiert, nein, er bevorzugt auch diagnostische Aussagen, die auf einem eigenschaftsorientierten Konzept beruhen, ja, er erwartet sie, er liebt sie geradezu. Wen wundert das? Uns nicht. Denn das «Standardritual der Ursachensuche in der Person» führt mit seinem eigenschaftsorientierten Denken zu etwas sehr Angenehmem: Zu einer stabilen Welt, lästige Veränderungen sind nicht vorgesehen! Komisch, daß einem da immer der dauergrinsende Helmut Kohl in den Sinn kommt. Hat das nicht mal ein Ende?


3. Zum Standardritual der Ursachensuche in der Situation

Beim Phänomen der Akzeptanz von eigenschaftsorientierten Beschreibungen hatten wir gesagt, daß der gesunde Menschenverstand abstrakte Eigenschaftsbeschreibungen als Diagnose für sich selbst akzeptiert und willkommen heißt! Für summarische Beschreibungen gilt das vermutlich ohne Einschränkung. In konkreten Situationen, im Hier und Jetzt des tatsächlichen Lebens, kann das je nach kommunalem System und Kontextspezifität aber auch etwas anders aussehen.

Das «Standardritual der Ursachensuche in der Situation» bezieht sich auf die unterschiedlichen Attributionsstrategien von Handelnden und Beobachtenden. Die These ist: Wie kann es zu diesem Schisma kommen? Abgesehen davon, daß wir in unserer Kultur über Vorbilder aller Art täglich lernen, uns genau so zu verhalten, scheint uns das folgende besonders triftig, da es die unterschiedlichen Urteilsperspektiven von Handelnden und Beobachtenden mit den unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven dieser beiden Lager im Sinne einer Figur/Grund Trennung verknüpft: Aber, wie gesagt, daß das fast immer so funktioniert, ist Kultur. Es könnte auch ganz anders sein. Und zum Glück gibt es Subkulturen und kleine soziale Räume, in denen diese Standardrituale als peinlich empfunden werden.

Wir möchten nun mitten hinein greifen in einen riesengroßen täglich wabernden Diskurs: Fußball. Das in diesem Essay beschriebene Standardritual läßt sich tatsächlich am besten und einfachsten nach einem Fußballspiel beobachten, wenn der gesunde Menschenverstand, der sich ja immer für Fußball interessiert, mit seinen Urteilen über ein Spiel schnell bei der Hand ist: Ein anderes Beispiel: Jemand begeht irgendeine Straftat, wird erwischt und steht vor Gericht. Richterin und Staatsanwältin (als Beobachterinnen) sehen nun den «Täter» als Figur, als Mittelpunkt, als Akteur, ja als etwas «Greifbares» in einem eher unübersichtlichen Geschehen und urteilen, indem sie die Ursache für die «Tat» in die Person hineinverlagern. Hier könnte dann von «krimineller Energie» die Rede sein, oder von einer besonderen «Verwerflichkeit» der Tat, die wiederum auf einen «schlechten Charakter» verweise. Nur das «Standardritual der Ursachensuche in der Person» erlaubt es, jemanden zu bestrafen und vielleicht gar für Jahre einzusperren. Der Angeklagte sieht (als Handelnder) den Fall selbstredend ganz anders. Er beteuert immer wieder: «Ich konnte doch gar nicht anders, die Kumpels haben mich praktisch dazu gezwungen, mitzumachen. Die haben gesagt, du schlappe, feige Sau, du traust dich auch gar nichts.» Wer hat recht?

Gehen wir zum Schluß noch in die fabelhafte Welt der Liebenden. Stellen wir uns, ein Liebender ist mit seinem iMac beschäftigt und der andere Liebende möchte gerne etwas mit dem ersteren anstellen. Bevor überhaupt irgendetwas eskaliert, unterbrechen wir dieses Liebesspiel, kommen wacker hereingeschneit und fragen, die Liebenden, was sie da und warum sie es machen: Dies alltägliche Beispiel macht ein Problem vieler Beziehungen ganz deutlich: Der Handelnde sieht sein Verhalten als Resultat situativer Anforderungen, besonderer Umstände oder vorübergehender Aufforderungsgehalte, der Beobachter sieht stabile Dispositionen oder gleich «mangelnde Liebe». Das kann nicht gutgehen! Oder?

Es gehört einiges dazu, im Laufe seiner Entwicklung das «Standardritual der Ursachensuche in der Person» und das «Standardritual der Ursachensuche in der Situation» hinter sich zu lassen. Aber ist das nicht unsere Aufgabe, uns den kulturellen Zurichtungen – so gut es eben geht – zu entziehen?



Kommentare:
26. Januar 2002
Liebe Albertine, liebe Henriette,
hiermit möchte ich noch einiges zum Milgram-Experiment schreiben, da ich es zum einen recht interessant finde, zum anderen etwas den Eindruck gewonnen habe, daß beim Lesen Eures Traktates Milgram in der selben Schublade landen könnte, in der ein großer Teil der Rezeption bei Euch zu Recht gelandet ist.
Milgram [2] Ich beziehe mich auf Stanley Milgram: Obedience to Authority – An Experimental View, Harper & Row, New York in der deutsche Übersetzung von Roland Fleissner, Das Milgram-Experiment – Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, 1976). hat mit einem Versuch angefangen, bei dem den Versuchspersonen nur durch Klopfzeichen Signale vom ‹Opfer› übermittelt wurden, da er und sein Team nach den Voruntersuchungen nicht gedacht hatten, wie stark der äußere Rahmen die Versuchspersonen in ihrem Handeln leitete: 65% der Versuchspersonen gaben auch noch die stärksten Spannungsschläge. Dabei waren auf dem Gerät die Spannungsbereich nicht nur numerisch angegeben, sondern auch in betitelte Bereich gegliedert: «Leichter Schock», «Mäßiger Schock», «Mittlerer Schock», «Kräftiger Schock», «Schwerer Schock», «Sehr schwerer Schock», «Gefahr: Bedrohlicher Schock», «X X X». Die Gerätebeschriftung widersprach also in den letzten zwei Bereichen der Behauptung des Versuchsleiters: «Die Schocks mögen schmerzhaft sein, sie hinterlassen aber keine bleibende Gewebsschädigung.» In dieser Versuchsanordnung haben alle Versuchspersonen noch die «Schweren Schocks» verteilt, erst ab dann gab es Personen die den Versuch abbrachen.
In weiteren drei Versuchen wurde das ‹Opfer› immer näher an die Versuchsperson gerückt, d.h. im zweiten konnten die Versuchspersonen das Schreien und Protestieren aus einem Nebenraum hören, im dritten war das ‹Opfer› im selben Raum direkt neben der Versuchsperson und im vierten hatte die Versuchsperson ab den Schocks mit 150V die Hand des ‹Opfers› auf die Schockplatte zu drücken, da sich das ‹Opfer› ab dieser Spannung weigerte die Schockplatte anzufassen. In diesen Versuchen waren, da das ‹Opfer› ab 150V anfing zu protestieren, dort die größten Weigerungsquoten (mit 12,5%, 25% und 40%, jeweils nur eine Versuchsperson hat vorher abgebrochen). Aber auch noch im vierten Versuch führten 30% der Versuchspersonen alle Schocks aus.
In weiteren 14 Versuchen wurde die akustische Rückkopplung als Grundlage genommen, d.h. das ‹Opfer› saß in einem Nebenraum, war aber von dort aus zu hören. Auch hier gab es einige überraschende Ergebnisse, so z.B. gab es in Experiment 16 zwei Versuchsleiter, jedoch erschien die zweite (fingierte) Versuchsperson nicht zum Termin (die normalerweise das ‹Opfer› wurde). Um den Versuch dennoch durchführen zu können, erklärte sich einer der Versuchsleiter bereit, die Rolle einer Versuchsperson zu übernehmen und wurde so das ‹Versuchsopfer›. Auch hier, trotz der wissenschaftlichen Autorität, die ansonsten ein Versuchsleiter genießt (und von der, der zweite, der weiterhin die Anweisungen gab, auch Gebrauch machte), gaben 65% der Versuchspersonen die Schocks bis zur Höchstbestrafung, also wie bei der normalen Versuchsperson als ‹Opfer›. Die entthronte Autorität verliert diese anscheinend vollständig.
In Experiment 10 wird der Standort variiert, alle anderen Versuche fanden in der Yale Universität statt, und waren als universitäre Untersuchung leicht erkennbar. Milgram schreibt zu dieser Variation: «Dem Schein nach wurde die Untersuchung von ‹Research Associates of Bridgeport› durchgeführt, einer Institution von unbekanntem Charakter (da wir diesen Namen ausschließlich für die Zwecke unserer Untersuchung erfunden hatten. Die Experimente wurden in drei Räumen in einem etwas verwahrlosten Bürogebäude im Geschäftsviertel der Innenstadt durchgeführt. Das Laboratorium war spärlich möbliert, aber es war sauber und wirkte gerade noch respektabel.» Auch unter diesen Bedingungen haben immer noch knapp 50% der Versuchspersonen die Schocks bis zur Höchstbestrafung gegeben. Milgram: «Es ist möglich, daß die Kategorie der Institution, auf die nach der angegebenen Funktion geschlossen wird, eher unsere Willfährigkeit hervorruft als die qualitative Position innerhalb der Kategorie. Menschen legen Geld in eleganten Banken, aber auch in schäbig wirkenden ein, ohne sich große Gedanken zu machen über die unterschiedliche Sicherheit, die sie jeweils bieten. Ähnlich halten vielleicht unsere Versuchspersonen ein Laboratorium für ebenso seriös wie ein anderes, solange es sich um ein wissenschaftliches Laboratorium handelt. Es wäre wertvoll, die Untersuchung der Zusammenhänge weiterzuverfolgen, sogar über die Bridgeport-Untersuchung hinaus, und dem Versuchsleiter die institutionelle Unterstützung zu entziehen. Es ist möglich, daß von einem bestimmten Punkt an die Gehorsamsbereitschaft völlig verschwindet. Doch in dem Büro in Bridgeport wurde dieser Punkt nicht erreicht.» (Hervorhebungen im Original)
Das Experiment 11 wertet Milgram als Nachweis, daß die Versuchspersonen keine kalten, brutalen KZ-Knechte oder gedankenlose, unmoralische Büttel waren. Hier durften sich die Versuchspersonen die Schockhöhe zu jeder Bestrafung frei aussuchen. Es gab nur eine Person die die höchste Schockstufe verabreichte, im Mittel wurde ein «Mäßiger Schock» (in diesem Bereich gab das ‹Opfer› ein erstes, leichtes Stöhnen von sich) als Maximum gegeben. D.h. die Versuchsperson hatten kein eigenes Interesse daran, das ‹Opfer› zu quälen, obwohl sie es innerhalb des Versuchsaufbaus gedurft hätten («Der Versuchsleiter wies nachdrücklich darauf hin, daß der Lehrer [d.h. die Versuchsperson] die höchsten Schocks auf dem Generator wählen könne, die niedrigsten, irgendwelche in der Mitte oder jegliche Kombination.»).
Auch in dem Experiment 13 brechen die meisten Versuchspersonen das Experiment ab. Hier verläßt der Versuchsleiter unter einem Vorwand vorzeitig den Raum und überläßt es einem zweiten ‹Lehrer› (einer weiteren fingierten Versuchsperson) sich die Anweisungen für die Schockstärke auszudenken und zu geben. Nur noch 20% der Versuchspersonen ließen sich von diesem ‹gewöhnlichen Menschen› das Geben der stärksten Schockstärke vorschreiben. Einige Versuchspersonen bedrohten den zweiten ‹Lehrer› körperlich, damit dieser nicht alleine den Versuch fortsetze, nachdem das ‹Opfer› anfing zu protestieren, andere versuchten den Schockgenerator von der Stromquelle zu trennen. Milgram schreibt: «Sie hatten keine Hemmungen, den ‹gewöhnlichen Menschen› zu bedrohen, und zögerten nicht, seine Entscheidung zu kritisieren oder ihn persönlich zu züchtigen; ihre Haltung steht in scharfem Gegensatz zu der unterwürfigen Höflichkeit, die Versuchspersonen unweigerlich bei anderen Experimenten an den Tag legten, wenn die Autoritätsperson das Zepter schwang. Dort bewahrten nämlich die Versuchspersonen, selbst wenn sie den Gehorsam verweigerten, eine ehrerbietige Haltung gegen die Autorität.»
«Im dem Interview im Anschluß an die Experimente wurden die Versuchspersonen gebeten, auf einer 14-Punkte-Skala genau anzugeben, wie nervös oder gespannt sie bei Verordnung der Maximalspannung gewesen waren. Die Skala ging von ‹überhaupt nicht nervös und gespannt› bis ‹extrem nervös und gespannt›. […] Wobei die meisten Versuchspersonen von der Mitte bis zum oberen Extrem konzentriert waren. Die weitere Aufschlüsselung zeigte, daß gehorsame Versuchspersonen in etwas größerem Ausmaß angaben, gespannt und nervös gewesen zu sein, als die widerspenstigen Versuchspersonen, wenn die Höchstspannung verordnet wurde. Wie kann man dieses Auftreten von Spannung erklären? Zunächst einmal deutet es auf einen vorhandenen Konflikt hin. Wenn die Tendenz, der Autorität nachzugeben, die einzige psychische Kraft wäre, die in der Versuchssituation wirksam wird, dann hätten wohl alle Versuchspersonen bis zum Ende weitergemacht, und es hätte keine Spannung gegeben. […] Wenn die teilnahmsvolle Besorgnis für das Opfer die ausschließliche Kraft wäre, würden alle Versuchspersonen sich dem Versuchsleiter gelassen widersetzt haben.
Statt dessen fanden wir sowohl Gehorsam wie Gehorsamsverweigerung als Ergebnis, wobei in beiden Fällen häufig extreme Spannungen auftraten. Es entwickelte sich ein Konflikt zwischen der tiefverwurzelten Disposition, anderen nicht wehzutun, und der gleichfalls zwingenden Tendenz, anderen, mit Autorität Behafteten zu gehorchen. Die Versuchsperson wurde rasch in dieses Dilemma verwickelt, die hohe Gespanntheit läßt auf eine beträchtliche Stärke der beiden gegensätzlichen Kräfte schließen.
Mehr noch, die Spannung zeigt die Stärke der Ablehnung, aus der die Versuchsperson nicht durch Ungehorsam herauskommen kann. Wenn jemand sich unbehaglich, gespannt oder unter Streß fühlt, versucht er etwas zu unternehmen, um diesen unangenehmen Zustand zu beenden. Also könnte Spannung als Antrieb wirken, der zu Fluchtverhalten führt. Aber in unserer Versuchssituation waren viele Versuchspersonen selbst bei extremer Spannung nicht in der Lage, die Reaktion zustande zu bringen, die Erleichterung verschafft hätte. Folglich muß es einen konkurrierenden Antrieb, eine konkurrierende Tendenz oder Hemmung geben, die die Aktivierung von Ungehorsam verhindert. Dieser Hemmfaktor muß stärker sein als der empfundene Streß, sonst würde ja die Abbruchhandlung stattfinden. Jedes Anzeichen für extreme Spannung ist zugleich ein Anzeichen für das Ausmaß der Kräfte, die eine Person in der gegebenen Situation festhalten.
Schließlich kann man Spannung als Beweis dafür ansehen, wie real die Situation für die Versuchsperson ist. Normale Versuchspersonen zittern und schwitzen nicht, außer sie stehen in einer tiefen und tiefempfundenen Konfliktsituation.»
Mit diesem Schlußwort von Milgram will ich meinen Exkurs beenden und hoffe, daß er auch ein wenig gezeigt hat, in welcher Weise Milgram sich als Inszenator der jeweiligen Testsituationen gesehen hat.
Beste Grüße
Heike



Erstellt: 24. April 2002 – letzte Überarbeitung: 30. April 2002
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