BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine Psychologie des Urteilens (4): Egozentrische Urteile» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

Lieber Leser, liebe Leserin, ein Stück des Weges in dieser kleinen Reihe von Traktaten über die Psychologie des Urteilens liegt schon hinter uns. Im ersten Teil haben wir vorsichtig ‹Meinen› und ‹Urteilen› auseinandergeschoben, im zweiten Teil waren wir fasziniert von der so weit verbreiteten «Tendenz zum erstbesten Urteil», und im dritten Teil dieser Reihe haben wir «Standardrituale» des Urteilens untersucht und etwas Licht hineingebracht in die Welt des kognitiven Geizkragens und seine so gewöhnlichen Konventionen des Urteilens und der Ursachensuche für das, was eben nun einmal geschehen ist.

Es gibt nun in der alltäglichen Welt des Urteilens noch ein überaus interessantes Phänomen, dem wir uns hier zuwenden wollen: Das ‹egozentrische Urteil›, welches mit dem ‹illusionären Konsens› eng verwoben ist. ‹Egozentrisches Urteil›? ‹Illusionärer Konsens›? Nur Geduld, lieber Leser und liebe Leserin, wir fangen ja schon an.

Können Sie sich an den kleinen Essay über die «Falsche Empörung» erinnern, auf den wir uns im ersten Teil dieser Reihe bezogen haben? Es geht hier regelmäßig und schlicht darum, daß jemand ganz am Anfang einer Eskalationskette einen Fehler macht und in allen seinen später folgenden Urteilen über diese Angelegenheit rundheraus nichts mehr davon wissen will. Das ist ein sehr gutes Beispiel für das, was wir ein ‹egozentrisches Urteil› nennen möchten. Aber es geht im Alltag ja noch weiter, denn dieser Jemand erwartet zusätzlich, daß alle ‹anständigen› und ‹vernünftigen› Menschen den ‹Sachverhalt› genau so beurteilen, wie er selbst. Das nennen wir den ‹illusionären Konsens›.

Es kommt bei diesen – von einer großen Regionalzeitung des Ruhrgebiets fast täglich breit ausgetretenen – ‹egozentrischen Urteilen› und ‹falschen Empörungen› regelmäßig zu ganz skurrilen Absonderlichkeiten. Nur ein Beispiel aus der heutigen Ausgabe dieser Zeitung, damit wir wissen, worüber wir reden, wenn wir von kognitiven Geizkragen reden: Eine Frau – selbstverständlich ist sie inmitten ‹ihres Berichtes› auf einem Foto abgebildet – empört sich, sie solle plötzlich und unerwartet 1000,00 € an ihren Stromlieferanten zahlen. Und das Geld habe sie nicht. Und zahlen würde sie sowieso nicht, und sie erwarte jetzt Unterstützung von allen Seiten. Ach, ja. Leider müssen wir uns näher betrachten, was ‹wirklich› geschehen ist. Die immerhin wacker für über 80,00 € im Monat Strom verbrauchende Frau hatte irgendwann einmal eine Abbuchungserklärung unterschrieben, leider hatte sie dabei eine falsche Kontonummer angegeben. Punkt. Und nun hat sie sich über ein Jahr lang nicht gewundert, daß die monatlichen Abschläge nicht von ihrem Bankkonto abgebucht wurden: «Das ist ja alles nicht meine Schuld, deswegen zahle ich jetzt auch nicht», sagt sie in ihrem todsicheren ‹egozentrischen Urteil›. Und ist sich ebenso sicher, daß ihr Urteil auch noch konsensfähig ist. Denn ihre Tageszeitung unterstützt sie ja bereitwillig darin, daß dies keine Illusion ist! Alles klar?

Warum schildern wir Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, diesen lächerlichen, schamlosen und von dem üblichen ‹urdeutschen Trias› (als da sind: Dummheit, Raffgier und Anspruchsunverschämtheit) getragenen Fall so ausführlich? Weil er nicht nur deutlich macht, um was es in diesem kleinen Traktat geht, sondern weil er gerade auch in seiner Schlichtheit zeigt, um was sich das Skepsis-Reservat alles zu kümmern hat, will es der sich selbst gestellten hehren und hohen Aufgabe gerecht werden, gerade auf diese alltäglichen Trivialitäten zu schauen, sie aus dem Übersehenen herauszulösen und so gut auszuleuchten, daß sich aus den vielen kleinen Traktätchen schließlich eines Tages eine Kulturphysiognomik der Jetztzeit spinnen läßt. Ein herkulisches Unterfangen, in der Tat.


2. Egozentrische Urteile

Da kommt also jemand daher und beharrt auf seiner Sicht der Dinge. Er könnte Alfred heißen (vgl. «Abschied aus der Welt der Ideen»), oder auch Alfrede. Und betont, daß sein Urteil angemessen ist. Einzig unter den Urteilen. Macht klar, daß man besser mit ihm und seinem Urteil zu rechnen habe. Plustert und bläht sein Urteil auf. Plärrt. Und? Ein alltäglich zu beobachtendes Phänomen. Nichts besonderes. Und es bleibt auch nicht dabei, daß da jemand daherkommt und auf seiner Sicht der Dinge beharrt. Er wird weiter gehen. Er wird nicht nur versuchen, mit allen Mitteln die Angemessenheit und Richtigkeit seiner ‹eigenen› Urteile einzuklagen, sondern er wird seine egozentrischen Urteile eben auch für üblich, ja gar für ‹normal› halten, während andere, alternative Urteile von ihm als unüblich, unverständlich, abweichend und unangemessen abgewertet werden.

Nehmen wir als Beispiel so etwas banales wie die Beurteilung von Musikproduktionen. Wir kennen alle Sprachfiguren, die ganz unmißverständlich deutlich machen sollen, wie schwer verständlich jemandem es erscheint, wenn ein anderer Jemand sich Musikkonserven irgendeiner Provenienz anhört. Die empörte Frage «Wie kann man sich nur sowas anhören?» ist in aller Regel sehr ernst gemeint! Denn je nach der Schlichtheit desjenigen, der diese Frage ausruft, sind Folgerungen und Konsequenzen zu erwarten, die sich aus dem gefällten egozentrischen Urteil ergeben: Leute, die solche Musik hören, sind wohl nicht ganz bei Trost. Oder anders: Die Aufteilung der Welt in «Ich versus die Anderen» fängt für Leute, die in ihren egozentrischen Urteilen verwunderungsfrei zu Hause sind, ganz banal an. Und setzt sich fort. Hin zu Urteilen über politische Angelegenheiten, Migranten, Gewerkschaften.

Dazu kommt, daß wir im Rahmen unserer ‹Standardrituale› des Urteilens gerade dann geneigt sind, auf stabile Eigenschaften zu attribuieren, wenn die Verhaltensweisen, Meinungen, Urteile und Musikkonsumgewohnheiten der Anderen eben von den unseren abweichen. Erinnern Sie sich, lieber Leser, liebe Leserin?

Zwei Punkte gibt es noch zu klären:
3. Illusionärer Konsens

Dieser Begriff bezieht sich auf das erstaunliche Phänomen, daß Menschen unseres Makrosystems, wir also, ihre Urteile und ihre Art des Urteilens für verständlich, vernünftig, sinnvoll, geschmackvoll und angemessen halten. Im ‹illusionären Konsens› bewegt uns regelmäßig die Frage: «Wieso urteilen andere über die Welt nicht so wie wir?» Aus sozial-konstruktivistischer Sicht ist leicht zu erklären, wie es dazu kommen kann: Ein ‹Ich› ist immer in seiner Welt, in seinem sozialen Raum, in seinem sozialen Plausibilitätsgenerierungsapparat. Ein ‹Ich› ist immer umgeben von anderen ‹Ich›-Behauptern, die eben seine Sprache sprechen, seine Mythen und Wahrheiten teilen, seinen Meinungs- und Urteilspräferenzen nahe stehen und somit seine ‹individuelle› Gestaltung und Ausstattung sozialer Räume teilen. ‹Eigene› Meinungen und ‹eigene› Urteile sind so innerhalb eines sozialen Raumes selbstverständlich, weil es eben keine ‹eigenen› Meinungen und Urteile sind. Was gesagt wird, wie geurteilt wird, und was geschieht, war ja zu erwarten. Konsens eben. Aber es ist ein illusionärer Konsens. Denn auf der Parkbank gleich nebenan wird ein anderer Konsens transportiert.

Die von einem illusionären Konsens gestützten egozentrischen Urteile führen zu mancherlei Lustigkeiten. Schauen wir uns mal eine Diskussion an. Michel de Montaigne wußte, um was es dabei geht: «Wir lernen diskutieren – leider nur, um zu widersprechen.» Wenn zwei sich in einer Diskussion ihre Meinungen oder Urteile um die Ohren schlagen, ist in sehr schöner Weise zu beobachten, wie zum einen vielfältige lokale «Diskussions-Skripte» aufgefahren werden, die den Diskussionsgegner – rein rhetorisch, oft auch moralisch – fertig machen, ihn ‹schachmatt› setzen sollen, und wie zum anderen die Diskussionsgegner – auf den jeweiligen illusionären Konsens setzend – ihren sozialen Raum bevölkern und Personen oder Daten herbeizitieren, die ihr jeweiliges Urteil stützen sollen: «Aber bei Hegel heißt es doch…» Sie meinen, lieber Leser und liebe Leserin, keiner weiß heute mehr, wer Hegel war? Könnte sein, tja, dann haben wir die Diskussion leider ‹verloren›. Wie, Sie meinen, wir sollten es mal so versuchen: «Also neulich bin ich durch Zufall in eine Sendung hineingeraten, und da haben sie aber gesagt, daß…» Sie meinen, das kommt besser? O.k., wir merken uns das.

Noch eins: Tolerieren es nicht gerade junge, postmoderne Menschen in besonderer Weise, wenn andere Leute ‹anders drauf› sind. Muß denn nicht schließlich jeder selbst entscheiden, wie er was beurteilt? Muß nicht jeder selbst am besten wissen, was er zu tun hat? Verzichten denn nicht gerade postmoderne Zeitgeistbewohner auf die Krücke des illusionären Konsenses? Nimmt im Zuge der finalen Globalisierung denn nicht die Toleranz gegenüber Andersurteilenden stetig zu, da alle Urteilsträger schließlich die gleichen Klamotten von Hennes & Mauritz tragen?

Tja, das wäre schön (Wäre es schön?). Leider läßt sich das aber nicht beobachten. Denn die verschiedenen ‹Communitys› grenzen sich voneinander ab, durch Kleidungs- und Musikkonsumpräferenzen, durch das Tragen von Markennamen. Allerdings aber sind postmoderne Menschen mit viel mehr sozialen Stimmen gesättigt, als das noch vor 20 Jahren vorstellbar war. Vielen jungen Menschen ist klar, daß es viele verschiedene Urteile da draußen gibt. Sie lassen das aber leider nicht so stehen, sondern entscheiden sich für eine Urteilsrichtung, eine Community. Und was wir heute auch sehen, ist eine stetig fortschreitende Aufspaltung größerer sozialer Räume in immer kleinere. Dennoch: Auch Angehörige eines kleinen sozialen Raumes (sagen wir mal, eine Community von Sprayern, die nächtens Gebäude mit ihren ‹Tags› verschönert) halten eben das für richtig und angemessen, was sie für richtig und angemessen halten. Und sie klagen es ein, daß andere da draußen dies gefälligst genauso zu beurteilen haben. Illusionärer Konsens.

Halten wir fest: Der Möglichkeitsraum von Urteilen wird von den sozialen Räumen eingerichtet, in dem die Urteile ausgesprochen werden. In der Aktualgenese eines Urteils muß ein Raumangehöriger demnach nur noch die ‹Informationen› zusammensuchen, die das von seinem Milieu schon vorher festgelegte Urteil im einzelnen plausibel machen könnten. Und gerade die Leute, die immer ‹man› sagen, wenn sie meinen, von sich zu sprechen, beharren in erstaunlicher Festigkeit auf Standardurteilen und Urteilsspielregeln ihres sozialen Raumes: «Das sehe ich nicht ein. Ich will mein Geld wiederhaben.» «Aber Sie haben doch selbst…» «Das ist mir egal, ich will mein Geld wiederhaben. Das würde jeder andere genauso beurteilen!» So weit so gut.


4. Das ‹Ich› in seiner Welt

Das ‹Ich› steht im Mittelpunkt der eigenen kleinen plausiblen und sozial festgezurrten ‹Ich›-Welt und erwartet da draußen – völlig zu Recht – Konsensuelles. Und egozentrische Urteile und der illusionäre Konsens schaffen Ordnung in dieser kleinen und überschaubaren ‹Ich›-Welt. Wenn aber nun ein Je-‹Ich› sich jeweils in seiner zweifelsfreien Welt bewegt, wie sollen sich dann Menschen aus unterschiedlichen sozialen Räumen – ganz grundsätzlich – zuhören oder gar verstehen können? Ludwig Wittgenstein sagt: «Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht ‹sagen›, was wir nicht denken können.» [1] Zitiert nach: Ludwig Wittgenstein (1984): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Paragraph 5.61, Seite 67. Keine Hoffnung?

Wer in dieser Welt Macht hat oder haben will, kann mehr oder minder leicht aus einem illusionären einen institutionalisierten Konsens machen: Er umgibt sich mit Leuten, die seine Urteile nachhaltig teilen, die «Ja» sagen und Beifall spenden, wenn er zu einem seiner Urteile findet. Der Vorteil scheint darin zu liegen, daß der Machthaber in seiner kleinen und bescheidenen geistigen Welt ungestört bleibt und permanent darin bestätigt wird, daß da draußen – in den Urteilen anderer Menschen – nur das Absurde an sich lauert. Schöne Welt? Was habe ich davon, wenn meine Umgebung stetig meine Urteile stützt? Außer Macht? Wo bleibt das eigene Werden? Und wieso fällt uns schon wieder Helmut Kohl als Prototyp ein, dieser tragische Stagnator?

Und natürlich urteilen auch höchste Bundesrichter oder Verfassungsrichter eines Landes nicht frei schwebend, sondern gemäß den Rechtsauffassungen ihres lokalen sozialen Raumes. Deswegen ist es für Machthaber in Demokratien ganz außerordentlich wichtig, zu bestimmten, wer höchster Richter werden darf, ‹einer von uns› oder ‹einer von denen› (gemeint ist damit natürlich der jeweilige politische Gegner). Welche Faxen dabei allerhöchste Richter in einer Demokratie wie den Vereinigten Staaten von Amerika machen können, zeigte sich bei der Wahl von Georg W. Bush zum Präsidenten der USA. Aber, ganz ehrlich, Bush ist ‹gewählt› worden, alles andere ist doch im täglich aufflackernden und ansteckenden Aktualfieber der Medien längst vergessen.

Versuchen wir ein Fazit zu ziehen zu dem, was uns in diesem kleinen Traktätchen beschäftigt hat. Wie wäre es damit: Das momentane, die Wirklichkeit eines spezifischen sozialen Raumes widerspiegelnde, Zufalls-Bewußte ist als sozial konstruierte Pseudo-Permanenz die wirkliche Wirklichkeit des normalen gesunden Menschenverstandes. Das momentan-reflektorische Zufalls-Bewußte desjenigen, der aus einem anderen sozialen Gehäuse stammt, erscheint dem gesunden Menschenverstand als absichtsvolle und typische Realisierung der unwirklichen Wirklichkeit des anormalen, abartigen, ungesunden Menschenverstandes. ‹Egozentrisches Urteil.› ‹Illusionärer Konsens.› Dortmund gegen Schalke. Immer.

Das Schlußwort überlassen wir dem Kardinal von Wien [2] Else Lasker-Schüler hat in ihren Briefen an Karl Kraus diesen mit den verschiedensten Namen angesprochen und verehrt: Herzog von Wien, Dalai Lama, venezianischer Cardinal und Kardinal von Wien sind die schönsten Namen, die sie erfunden hat. Zitiert nach: Else Lasker-Schüler (ohne Jahresangabe): Briefe an Karl Kraus. Herausgegeben von Astrid Gehlhoff-Claes. Köln-Berlin: Kiepenheuer & Witsch.: «Wenn einer sich wie ein Vieh benommen hat, sagt er: Man ist doch auch nur ein Mensch! Wenn er aber wie ein Vieh behandelt wird, sagt er: Man ist doch auch ein Mensch!» [3] Karl Kraus. Zitiert nach: Die Fackel Nr. 281/82, vom 4.6.1909, S. 29.



Erstellt: 29. Mai 2002 – letzte Überarbeitung: 29. Mai 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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