BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine Psychologie des Urteilens (6): Der Zusammenhang der Welt als Illusion - Über Illusionäre Korrelationen» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

Im ersten Teil dieser kleinen Reihe über eine Psychologie des Urteilens – «Urteilen und Werten: Eine Annäherung» – haben wir erläutert, daß uns nicht nur die Schnelligkeit, mit der Menschen zu «Erstbesten Urteilen» kommen, fasziniert, sondern eben auch die auffällig gleichbleibende Psycho-Logik des Urteilens: «Wenn Menschen also etwas beurteilen, dann machen sie das schnell, und sie folgen bestimmten – leicht zu durchschauenden – Regeln.» Einige dieser Regeln, nach denen kognitive Geizkragen funktionieren, haben wir seziert und freigelegt und als «Standardrituale» des Urteilens bezeichnet. Eines der wichtigsten, verbreitetsten und akzeptiertesten Standardrituale ist die Ursachensuche in der Person. Unser Alltag, insbesondere auch unser politischer Alltag, wäre ohne dieses Ritual hohl und leer. Ja die diversen aufgeregten Parteisprecher und Wadenbeißer wüßten vermutlich nichts «gescheites» mehr zu sagen, wenn man ihnen dieses beliebte Ritual aus dem Munde nehmen würde.

Beeindruckend sind aber auch die so überaus oft zu beobachtenden «Egozentrischen Urteile», die immer wieder deutlich machen, daß da ein ‹Ich› im «Mittelpunkt der eigenen kleinen plausiblen und sozial festgezurrten ‹Ich›-Welt» steht und da draußen, außerhalb von sich selbst, Konsensuelles erwartet. Und dies völlig zu Recht! Stellt das ‹Ich› – als allfällig Urteilendes – doch schließlich diese Gleichförmigkeit, dieses zu Erwartende in der Welt da draußen ununterbrochen selbst her, sei es, indem es leichtfertig und mühelos das «Konkrete über das Abstrakte» siegen läßt, sei es, in dem es sich die Zusammenhänge in seiner kleinen Welt immer wieder so konstruiert, zurechtlegt und ordnet, daß es meint, eben diese zu «verstehen». Wie das geht? Mit Hilfe einer sehr nützlichen Einrichtung, auf die der «Gesunde Menschenverstand» in Alltag und Wissenschaft gerne zurückgreift: «Illusionäre Korrelationen». Schauen wir mal.


2. Illusionäre Korrelationen

Was sind Korrelationen? Nun, es gibt wissenschaftliche Fächer wie Psychologie oder Sozialwissenschaften, in denen Variablen – also Eigenschaften und Merkmale wie «Intelligenz» oder «Soziale Kompetenz» – und dazu passende «Psychometrische Meßverfahren» erfunden werden. Dann kann man statistisch prüfen, ob zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen zwei verschiedenen Meßreihen eines und desselben Merkmales oder zwischen Meßreihen verschiedener Merkmale besteht. Diesen Zusammenhang bezeichnet man als Korrelation.

Und was sind dann illusionäre Korrelationen? Nun, abgesehen davon, daß die meisten «wissenschaftlich» errechneten Zusammenhänge zwischen Merkmalen in der Welt da draußen ebenfalls illusionär sind (ein Punkt, den wir hier leider nicht vertiefen können [1] «Statistik ist eine unschätzbare Wissenschaft, sie hat jedoch die schlechte Angewohnheit, uns regelmäßig ein Element vorzuenthalten, das wie durch Zufall in der Regel sich als dasjenige erweist, das für die Erkenntnis des Zustands der Dinge das charakteristische ist.» Richard Weiner (1991): Der Bader. Berlin: Friedenauer Presse, Seite 78.), ergeben sich illusionäre Korrelationen in unserem Sinn dadurch, daß der gesunde Menschenverstand als kognitiver Geizkragen locker Zusammenhänge zwischen Merkmalen da draußen in der Welt herstellt und daraus dann mehr oder minder weitreichende Schlußfolgerungen zieht, ohne sich zu fragen, ob da auch wirklich Zusammenhänge sind oder ob diese zumindest wahrscheinlich sind. Illusionäre Korrelationen sind also erdachte, erwünschte, erträumte, für selbstverständlich gehaltene Zusammenhänge in der Welt da draußen. Und der gesunde Menschenverstand in Alltag und Wissenschaft hat eine erstaunlich stabile und universale Tendenz, eben solche Zusammenhänge zu sehen, also herzustellen. Nur nebenbei: Selbstredend definieren die sozialen Räume, welche Zusammenhänge zwischen welchen Merkmalen bei welchen Objekten in der Welt da draußen als «zusammen auftretend» gesehen werden sollen, und die Angehörigen dieser sozialen Räume halten sich dann auch daran. Meistens. Wo kämen wir sonst hin?

Zur Illustration ein kleines literarisches Beispiel: Im 1942 erschienenen Roman «Der Fremde» von Albert Camus wird Meursault, ein kleiner französischer Angestellter, an das Totenbett seiner Mutter gerufen. Er fährt zwei Tage in ein kleines Dorf, nimmt dort an der Trauerfeier teil, kehrt nach Algier zurück, trifft am nächsten Morgen seine Arbeitskollegin Maria und verbringt die Nacht mit ihr. Ein paar Tage später wird er in einen Streit hinein gezogen und erschießt einen Menschen am Strand, der ihn mit einem Messer bedroht. Im Verlauf des folgenden Mordprozesses wird nun vom Ankläger, als Vertreter des Volkes, all' das, was so zufällig geschah, in das Standardritual der «Ursachensuche in der Person» und in eine Logik «illusionärer Korrelationen» gepreßt. Nur ein Beispiel: Daß Meursault am Tag nach der Beerdigung seiner Mutter eine Liebesaffäre begann und Geschlechtsverkehr hatte, wird als deutliches Zeichen einer kriminellen Veranlagung gesehen. Besonders beeindruckend in diesem Roman ist es nun, daß Camus deutlich macht, wie die Gerichtsverhandlung mit der Person Meursaults und seinem tatsächlichen Verhalten eigentlich gar nichts zu tun hat, sondern nur mit fiktiven, vom Ankläger erfunden systematischen und kausalen Zusammenhängen in Meursaults Verhalten. Und diese erfundenen Zusammenhänge weisen für den Ankläger als Vertreter des Volkes und damit des gesunden Menschenverstandes eindeutig auf die Bösartigkeit und Charakterlosigkeit von Meursault hin. Illusionäre Korrelationen. Und ein wunderbarer Roman, lieber Leser und liebe Leserin, entdecken Sie ihn!

Noch einige wenige Beispiele aus verschiedenen kommunalen Systemen, die uns zeigen, wie leichtfertig wir uns auf illusionäre Korrelationen im Alltag beziehen. Hier zunächst Korrelationen, die sich mit dem «Charakter» von Menschen beschäftigen: Nun noch zwei Beispiele, den Lauf der Dinge betreffend: Da die Logik hinter all' diesen Beispielen klar ist, lassen wir es dabei bewenden. Sie können, lieber Leser, liebe Leserin, ganz leicht Hunderte von weiteren Beispielen finden, mit Hilfe derer Sie zeigen können, mit welchen illusionären Zusammenhängen Sie sich so durch ihr Leben hangeln.


3. Zur Psychologie illusionärer Korrelationen

Versuchen wir zu verstehen, was ein Sich-Beziehen, ein Rückgreifen auf illusionäre Korrelationen erleichtert und nahelegt. Damit beantworten wir dann auch die Frage, warum der Rückgriff auf illusionäre Korrelationen in Alltag und Wissenschaft so beliebt ist. Wie läßt sich das analysieren und zerlegen, was uns anregt, mit Hilfe illusionärer Korrelationen Formen der Welt zu erhaschen? Wie kommt es zu diesen mit Plausibilitäten aufgeladenen Geistesblitzen?

Eine wichtige Quelle scheint uns der schon im dritten Teil dieser Reihe besprochene «Zeichenansatz» zu sein (vgl. das Kapitel 2.4 im Traktat über «Standardrituale» des Urteilens): Wenn der gesunde Menschenverstand Verhalten als solches uninteressant findet und statt dessen dieses immer nur als Zeichen, als Hinweis, als Indikator für etwas anderes sieht, dann kann er natürlich beliebige Zusammenhänge zwischen einer Zeichen- und Indikatorwelt und einer Welt der Bedeutung erfinden. Das geht gut, und ganz leicht, da die Abstände zwischen den «gesehenen» Zeichen, die dann ja gleich für etwas anderes stehen werden, und den Verhaltensweisen selbst, beliebig groß sein können.

Und natürlich kommen die im Verhalten anderer «entdeckten» Zeichen in Worten daher. Das ist der zweite Punkt. Denn die Zeichensuche kommt zur Ruhe, sobald wir zum Zeichen, das heißt zum Wort gefunden haben. Wofür wir keine Worte haben, darüber läßt sich eben nichts sagen. Und das taugt auch nicht zu einem Zeichen. Alles klar? «Die Terminologie, die wir erfunden haben, vergewaltigt unser Urteil und unser Auge. Indem ich einen Fall indiziere, mache ich ihn zu dem, was er mir scheint.» [2] Jakob Wassermann (1932): Etzel Andergast. Berlin: S. Fischer Verlag. Seite 459. Und die Worte, die wir verwenden, um uns die Welt gefügig zu machen, sind ja nicht einfach nur Worte: «Es gibt gar keine Worte, die bloß Worte wären. Sondern jedes Wort ist von vornherein ein – höchst individuelles – Urteil. Man glaubt, a sei gleich a. Eine vollkommene Ungeheuerlichkeit.» [3] Christian Morgenstern (1918): Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuchnotizen. 12–15. Tausend. München: R. Piper & Co. Seite 94.

Und wenn wir nun nur ein wenig über diese von den Urteilenden selbst gestifteten Zusammenhänge nachdenken, dann fällt uns bald ein, daß eben diese Zusammenhänge selbstredend nicht aus der Wirklichkeit geschöpft werden, sondern über sprachliche Konnotationen konstruiert werden. Alles liegt in der Sprache. Alles. Die Sprache macht mit den Urteilenden, was sie will.

Nehmen wir als Beispiel mal einen sprachlichen Konnotationshof, den wir mühelos abgreifen können, sobald wir in der Welt da draußen als ein wichtiges Zeichen entdecken, daß jemand in einer Diskurssituation die Arme vor der Brust verschränkt: Da ist jemand, der sich in einer Abwehrhaltung verschließt, der verneint, der ab- und zurückweist, der abwinkt, der etwas negiert, ablehnt, verschmäht, mißbilligt und ab- und ausschlägt, der sich abschottet, der ein «Nicht mit mir!», ein «Ohne mich!» ausdrückt, der sich versagt, der andere auflaufen, abfahren und abblitzen läßt. Tja, wer dies und das tut, ist eben soundso. Und immer wenn dies und das «auftritt», dann wird auch dies und das geschehen. Denn ein «Unglück kommt selten allein.» Jetzt mal im Ernst: Ist das nicht toll, was wir alles über jemanden wissen, nur weil dieser die Arme vor der Brust verschränkt? Spüren Sie, lieber Leser und liebe Leserin, wie all' diese Zusammenhänge von uns aus unserer Sprache geschöpft werden? Und wie schnell wir mit angeblichen Zusammenhangsurteilen bei der Hand sind? Alles liegt in der Sprache. Ach!

Nur ganz nebenbei: Im Urteilsrausch werden alle Ausnahmen tunlichst übersehen, und insbesondere werden nicht eintretende Ereignisse, sich nicht erfüllende «Immer wenn, dann» Verknüpfungen nicht beachtet. Denn die Wirklichkeit bildet sich ja eben nicht in den Köpfen der Urteilenden ab, sondern sie wird erfunden: «Das Urteil folgt der Form und Natur des Urteilenden, nicht des beurteilten Gegenstands.» [4] Marsilio Ficino. Zitiert nach: Max Horkheimer (1938): Montaigne und die Funktion der Skepsis. In: Max Horkheimer (1971): Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Hegel und das Problem der Metaphysik. Montaigne und die Funktion der Skepsis. Mit einer Einleitung von Alfred Schmidt. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. Fischer Bücherei. Bücher des Wissens, Nr. 6014. Seite 111.

Kommen wir zum Schluß dieses Traktätchens und stellen uns – eine kurze Weile nur – vor, wie illusionär fast alle populären und ständig in den Medien transportierten «Zusammenhänge» sind. Das ist die wahrlich faszinierende und leider auch verheerende Wirkung unserer Medien: Jeder unterklassige Film, jede Soap, jede Talkshow, jede «Nachricht» über das Leben «populärer» Personen in der einschlägigen «Yellow Press» verstärkt die Plausibilität bestimmter illusionärer Zusammenhänge und damit die Durabilität unserer spezifischen Weltsicht. Gerade die Medien, und hier insbesondere das «TV», sind es, die systematisch und aus Prinzip alle in dieser kleinen Reihe aufgepiekten Urteilsfehler ständig mit Freuden anwenden und feiern. Sie wollen ihre Zuseher, Zuhörer und Mitleser halt nicht verlieren. Also geben sie ihnen, was diese so gerade eben noch verstehen: Die völlig abgenudelten und so überaus «auf der Hand», also «im Munde», nein, «auf der Zunge liegenden» Assoziationen und illusionären Korrelationen. Und alle Beteiligten wissen, daß das Naheliegende ja gar nicht falsch sein kann, schließlich wären alle anderen Menschen in eben diesem Kontext doch auch auf genau diesen illusionären Zusammenhang gekommen. Oder? Sollen wir noch einmal den wunderbar klugen und skeptischen Nicolas Chamfort zitieren, lieber Leser, liebe Leserin, den wir schon im Traktat «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» haben wiederauferstehen lassen? Ja? Wirklich? Ok: «Man kann wetten, daß jede öffentliche Meinung, jede allgemeine Konvention eine Dummheit ist, denn sie hat der großen Menge gefallen.» [5] Nicolas Chamfort (1987): Ein Wald voller Diebe. Maximen, Charaktere, Anekdoten. Die Andere Bibliothek: Band 31. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Nördlingen: Franz Greno, S. 40.

Wir sind umgeben von illusionären Korrelationen. Wir leben in und mit ihnen. Ja, ein ‹Ich› in seiner Welt könnte ohne ein Arsenal von illusionären Korrelationen, ohne die von seinem sozialen Raum in die Welt hineingesehenen «vernünftigen» Zusammenhängen gar nicht existieren.

Wirklich? Könnten wir nicht auch anders? Ach, das ist so schwer. Es bedürfte nicht eines «Skepsis-Reservates», sondern gleich derer tausende, um hier einen Neuanfang zu schaffen: «Denn es stellt sich leider heraus, daß der Mensch ein unheilbar urteilendes Wesen ist. Er ist nicht bloß genötigt, sich gewisser allgemeiner Maßstäbe zu bedienen, die gleich schlechten Zollstöcken sich bei jeder Veränderung der öffentlichen Temperatur vergrößern oder verkleinern, sondern er fühlt außerdem den Drang in sich, alle Tatsachen, die in seinen Gesichtskreis treten, zu interpretieren, zu beschönigen, zu verleumden, kurz, durch sein ganz individuelles Urteil zu fälschen und umzulügen, wobei er sich allerdings in der exkulpierenden Lage des unwiderstehlichen Zwanges befindet.» [6] Egon Friedell (1984): Kulturgeschichte der Neuzeit. München: C.H. Beck Verlag. Seite 11–12.

Der Zusammenhang unserer Welt, der Welt, die wir zu «verstehen» glauben, als Illusion? Oh ja!



Erstellt: 16. September 2002 – letzte Überarbeitung: 16. September 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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