BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kopf vs. Bauch» [1] Dieser Text wurde anläßlich des Diskussionsabends vom 15.05.2002 zum Thema «Kopf vs. Bauch» des Zürcher Diskussionszirkels «Club der toten Dichter» geschrieben.
von Christian Hennig
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1. Kopflose Gefühle?

Was ich «Gefühl» nenne, nenne ich. Zum Beispiel nenne ich es «Angst» oder «Freude». Ich brauche Sprache dazu. Mag sein, dass ich ohne Sprache Gefühle haben kann (würde man diese dann nicht eher «Instinkte» nennen?), aber sie könnten nichts bedeuten. Denn niemand wäre da, um ihnen Bedeutung zu geben. Sprache findet im Kopf statt, und kein Gefühl kommt daran vorbei – zumindest kein kommuniziertes. Und ich muss mir ‹mein› Gefühl selber mitteilen, um es zu merken. Noch einmal: Ich behaupte nicht, ohne Sprache gäbe es keine Gefühle. Aber wir werden unsere Sprache nicht mehr los, und auch unsere Gefühle werden unsere Sprache nicht mehr los. (Und Sprache verstärkt und verändert Gefühle, wenn ich nicht aufpasse, oder wenn ich es richtig gelernt habe.)


2. Bauchloser Verstand?

Stelle dir einen Menschen vor, wie du ihn sicher schon einmal erlebt hast: Einen Menschen, der sich auf die Vernunft beruft und dessen Sätze die Form dessen haben, was man landläufig als «Argument» bezeichnet. Stelle dir vor, dass dir seine Argumente nicht gefallen. Stelle dir vor, seine Stimme gerät in Wut, und du nimmst ihm kein Wort mehr ab, weil du denkst, dass er seine Argumente nur vorschützt, um von seinen ‹wahren› Interessen abzulenken, oder weil er nicht zugeben kann, dass er längst im Unrecht ist. Nun bastelt er Vernunft, aber er überzeugt dich nicht. Er ist angegriffen in seiner Substanz. Aber ich tippe: Er glaubt noch an sich und seine Logik. Und du magst die Argumente nicht, weil sie deiner Überzeugung zuwiderlaufen. Sicher, ihr könntet weiter Worte für euch kämpfen lassen.

Und nun deine Erfahrung: Habt ihr euch irgendwann geeinigt? Wäre das normal? Hast du schon einmal – hinterher – innerlich den Hut gezogen vor den Folgerungen deines Kontrahenten, die Argumente so weit durchdacht, dass du das Kopfgebäude des anderen so gut verstanden hast wie dein eigenes? Hast du deine eigene Verunsicherung erlebt? Bist du so weit durch den Nebel der Argumente gestiegen, dass dir nicht nur deren Bodenlosigkeit aufgefallen ist, sondern auch, dass letztlich die Vernunft euer beider Bäuche Scherge gewesen ist, beliebig mobilisierbar, aber – ohne Leidenschaft – zu keiner tiefen Entscheidung fähig?

Die Idee, man könne künstlich Maschinen bauen, die Intelligenz haben, die mit unserer vergleichbar wäre… Kennen diese Leute ihren Körper?


3. Unentwirrbar verflochten

Denken und Körpergefühl kommen nicht voneinander los. Was Tiere fühlen, oder Säuglinge, blosse Spekulation. Wenn ich Sprache habe, kann ich sie nicht mehr daran hindern, sich mit meinen Körpervorgängen zu der untrennbaren Melange zu verbinden, die den Menschen ausmacht. Und es ist sichtbar, erfahrbar, wie die Sprache, das Denken, die innere Wechselwirkung, so auf das Gefühl einwirken, dass nicht zu entscheiden ist, was das Gefühl ohne dies wäre. Und wie die Freiheit des Denkens nur durch den Körper und die Emotion Halt und Boden bekommt.


4. Die grundsätzliche Unzuverlässigkeit der Vernunft

Beobachte die Unfähigkeit der Sprache, die einfachsten Dinge auszudrücken. Sieh irgendwo genau hin und beschreibe präzise, was dort zu sehen ist. Sage, was dein Körper empfindet. Unfähig … die einfachsten Dinge … die grundlegendsten Eindrücke…

Denke über die Logik nach. Die logische Welt ist zeitlos, es gibt in ihr keine Entwicklung. Bemüht die Vernunft sich, zwingend nachvollziehbar zu sein, so zwingt sie das zu Unaufmerksamkeit. Schon der Glaube, die Sprache könnte alles Wesentliche sagen, beruht offensichtlich auf Unaufmerksamkeit. Und die Sprache hat immer noch Mittel, die die formale Logik vor Neid erblassen lassen. Doch alles zu sagen, selbst das wenige, was sagbar wäre, hält keine Logikerin aus. (Im übrigen – aus verständlichen Gründen – auch sonst keine Zuhörerin.) Dazu braucht man die Forderung nach «Konsequenz» – um sich wenigstens ein paar verkomplizierende Eindrücke vom Leibe (passender: Kopfe) zu halten. Die klare Vernunft, auf sich alleine gestellt, ist mit dem Leben offenbar hoffnungslos überfordert.

Gefährlich wird es da, wo rückhaltlos an die Vernunft geglaubt wird. Wo man das Leben so zubereitet, dass es rational fassbar wird – d.h. wo man Gedanken abschneidet, Missliebiges wegsperrt…

Doch dieses kann die Vernunft: Sich, gegen sich selber gewandt, in ihrer Begrenztheit entlarven. Sie tut es für meinen Geschmack zu selten.


5. Die grundsätzliche Unzuverlässigkeit des Gefühls

Dieses traut man der Vernunft eher zu: Distanz. Das Gefühl dagegen: Schwuppdiwupp ist die Angst geweckt, das Mitleid … Nach meiner Beobachtung lernen Kinder eher Gefühle zu manipulieren als zu sprechen. Sie schauen sich um, ob Erwachsene in der Nähe sind, bevor sie anfangen zu heulen. Sie lernen Gefühlsäusserungen als Mittel, zu bekommen, was sie brauchen. Meistens funktioniert es. Die Vernunft (oder besser: Der Kontroll- oder Machtwunsch, über dessen Vernünftigkeit man streiten kann) kann eine Wissenschaft aus der Manipulation der Gefühle machen. Marketing, Rhetorik, Psychiatrie… Die Psychopraxen sind voll von Menschen, die ihre verinnerlichten Kommunikations-Strategien für tief, authentisch und unveränderbar halten.

Aber meine Gefühle sind, was sie sind. Was, wenn ich ihnen nicht trauen kann? Vielleicht ist «ihnen trauen» ohnehin kein adäquater Umgang für Gefühle. Erkennen, würdigen.

Misstrauisch sein, wenn der Kopf ihnen vorschnell eine «Bedeutung» verpasst. Misstrauisch sein, wenn ich das Gefühl habe, das Gefühl lässt mir keine Wahl. Nicht nur der «Kopf», auch der «Bauch» kann heilsame Widersprüche zu bieten haben, wenn ich gut genug suche.


6. Verantwortung nicht verstecken

Ich halte die Wörter «Kopf» und «Bauch» für Mittel, unsere Verantwortung für unser Handeln vor uns selber zu verstecken. Dazu taugen beide. Was «vernünftig», «klar» und «logisch» ist, ist notwendig; dafür brauche ich nur mit meinen Argumenten einzustehen, nicht mit meiner Person. Andererseits muss ich bekämpfen, was mich wütend, krank oder verzweifelt macht, das sieht jeder ein. Kopf und Körper fordern ihr Recht. (Wenn es schlecht läuft, wird man sie bald nicht mehr brauchen, dann kann man alles auf die Gene schieben…) Wo «Kopf vs. Bauch» konkurrieren, gibt es immerhin schon zwei Positionen in mir; besser als eine.

Ich nenne sie «Kopf» und «Bauch», um den Überblick zu behalten, aber vielleicht vertrage ich noch etwas mehr Unübersichtlichkeit, um noch andere Regungen, Gedanken, Gefühle in mir zu entdecken und zu würdigen. Am schönsten wäre eine Idee, die die beiden ersten inneren Streithähne versöhnt, und dazu mir auch noch dabei hilft, solche verantwortlichen Entscheidungen zu treffen, die nicht vom «Kopf» oder «Bauch» eindeutig und ohne Alternative als einzig richtige ‹erkannt› werden. Eine Idee auch, die mir immer wieder deutlich macht, daß Entscheidungen letztlich unbegründbare, aber vertretbare Wahlen sind: Aus einer gewürdigten inneren Vielfalt heraus.



Erstellt: 10. Mai 2002 – letzte Überarbeitung: 10. Mai 2002
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