BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine psychologische Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen (1): Einführung» von Lisa Blausonne & Henriette Orheim
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Die Themen Scham, Schuld und Gewissen beschäftigen uns in der Bochumer Arbeitsgruppe schon eine geraume Weile, denn während der regelmäßigen Redaktionskonferenzen - eigentlich müßte mal jemand was über die Besonderheiten dieser ‹Meetings› schreiben - erzählen wir uns in zunehmender Weise Geschichten aus dem Alltag postmoderner Menschen, in denen im Detail eine ganz globale Abkehr von empfundener Scham oder Schuld und eine beeindruckende Gewissenlosigkeit deutlich werden. Diese Geschichten sind nicht lustig. Und deswegen haben wir bisher den Gedanken, einige Traktate über einen eventuelle ‹Abschied› von Scham, Schuld und Gewissen zu schreiben, immer wieder aufgegeben. Nicht überall hinsehen zu müssen, kann zu einem starken Gefühl der Erleichterung führen.

Doch Beispiele und Erzählungen häufen sich. Damit meinen wir nicht Berichte über die offensichtliche Maßlosigkeit von Bankdirektoren oder Firmenchefs, die mit dem von ihrer rechten Hand geformten Siegessymbol einen Gerichtssaal betreten und sinngemäß zum Besten geben, «nur in Deutschland würde Leistung bestraft». Wir meinen auch nicht das Tagesgeschäft der Schmierlappenpresse, das mit den Worten ‹Skrupel- und Gewissenlosigkeit› gar nicht mehr zu erfassen ist. Auf keinen Fall auch denken wir an einschlägige TV-Formate, in denen Mitmenschen sich öffentlich entblößen, beschimpfen, mit Schmutz bewerfen und ihre Menschenwürde für den Kick aufgeben, kurze Zeit im TV gewesen zu sein. Und als letztes denken wir auch nicht an Politiker und Politikerinnen, die scheinbar nur eine angelernte Verhaltensfertigkeit als Voraussetzung zur Ausübung ihres ‹Berufes› zeigen müssen: Die scham- und endlose Beschimpfung und Bekämpfung des politischen Gegners.

Nein, wir denken an Geschichten aus dem Alltag, die uns selbst widerfahren und uns - gelinde ausgedrückt - immer wieder überraschen. Hier einige Beispiele, damit Sie, lieber Leser und liebe Leserin ein Gespür dafür bekommen, über was wir in dieser kleinen Reihe von Traktaten schreiben möchten. Wir haben noch eine Fülle weiterer Beispiele aus dem Alltag präsent, die sich mit Gerichtsverhandlungen befassen (siehe oben). Hier offenbaren Angeklagte und deren Anwälte mitunter eine solch stupende Scham- und Gewissenlosigkeit, daß wir diese Geschichten einstweilen sammeln und aufheben bis zu dem Tag, an dem dann wohl ein Essay über ‹Anomie› geschrieben werden muß, eine sich stetig entwickelnde spezifische postmoderne Gesetz- und Bindungslosigkeit.

Doch zurück zu unserem Alltag. Auch hier verfügen wir noch über viele weitere Erzählungen und Berichte, die alle etwas mit einer Unzuverlässigkeit, Unachtsamkeit, Unverbindlichkeit, Unpünktlichkeit, Unabsehbarkeit, Unangemessenheit, Unanständigkeit, kurz, mit ‹schlechten Manieren› [3] Wir erinnern hier gerne an das schöne Buch von Asfa-Wossen Asserate (2003): Manieren. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 226. Dieses Buch hat Anfang 2004 eine erstaunliche Auflagenhöhe erreicht. Wie kommt das nur? zu tun haben: Da werden Absprachen und Zeiten nicht eingehalten, wichtige Aufträge nicht erledigt, Versprechen gebrochen, Verbindlichkeiten verlacht, kleinliche Vorteile ganz selbstbewußt genommen, und vieles mehr. Das ist ja auch bei der Komplexität menschlichen Zusammenlebens nicht verwunderlich. Interessant ist aber eben, wie etwa ‹unzuverlässige› Mitmenschen argumentativ auf ihre ‹Unzuverlässigkeit› und Unberechenbarkeit reagieren. Ob da also ein Scham- oder Schuldgefühl entstehen mag, nach dem man anderen durch sein Verhalten einigen Schaden zugefügt hat.

Wir ersparen uns weitere nähere Beschreibungen, da wir hoffen, mit den oben geschilderten biotischen Situationen deutlich gemacht zu haben, was wir in dieser kleinen Reihe diskurrieren werden: Da ist eine Abkehr von einer Welt außerhalb des ‹Ichs› zu beobachten und damit eine unbedingte Hinwendung zum ‹eigenen Ich›. Das ‹Ich› meint, keine ‹Umwelt› nötig zu haben. Das hat Konsequenzen.

In den folgenden Traktaten beginnen wir da, womit wir nach reiflicher Überlegung auch beginnen sollten: Mit der Scham. Wir glauben, daß man sich erst einmal überhaupt schämen können muß, um so etwas wie ein Schuldgefühl während einer konkreten Angelegenheit entwickeln zu können. Und daß dann - später - über ein gedankliches Bewegen von Argumenten über die eigene Schuld oder Unschuld so etwas wie ein ‹Gewissen› entstehen kann. Der Reihe nach also.



Erstellt: 4. März 2004 - letzte Überarbeitung: 4. März 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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