BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine psychologische Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen (4): Gewissen» von Lisa Blausonne & Henriette Orheim
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1. Einführung

Am Ende unseres vorhergehenden Traktates über die Schuld sprachen wir - wieder einmal - über die ‹Gesellschaft des Spektakels›, in der heute die meisten Insassen unserer postmodernen Kultur ihren letzten Halt finden: «Und ohne jedes Schuldgefühl daran dann teilhaben zu wollen, damit beginnt es.» Einige Leser und Leserinnen haben uns daraufhin gemailt und auseinandergesetzt, daß durch eine Teilhabe an der ‹Gesellschaft des Spektakels›, in perfekter Weise symbolisiert durch das Zeittotschlagen beim Betrachten der schlimmsten Lichtquelle der Welt, doch eher ein Gefühl der ‹Scham› denn der Schuld entstehen würde. Denn wem gegenüber mache man sich schuldig, wenn man ‹freiwillig› immer wieder an der Gehirnbewirtschaftung von außen teilnimmt?

Das ist ein guter Gedanke, fern von jeder Sophisterei. Denn ein Gefühl der Scham ergibt sich - oder kann sich ergeben - beim Nachsinnen über den, der wir sind. Und falls diese Selbstprüfung einen unangenehmen Befund zeitigt, wäre eine kulturell angemessene Reaktion darauf, sich still zurück zu ziehen, in sich zu gehen, und Vorsätze zu entwerfen, die in Zukunft verhindern, daß man über das eigene ‹In-der-Welt-sein› errötet. So betrachtet hätte der letzte Satz unseres Traktates über die ‹Schuld› lauten müssen: «Und ohne jedes Schamgefühl daran dann teilhaben zu wollen ...»

Schuld beruht auf dem, was wir tun, schuldig werden wir über Handlungen und Taten, natürlich auch durch Unterlassenes. Und eine kulturell angemessene Reaktion wäre es, demjenigen, den wir mit Taten oder Ausgebliebenem geschädigt haben, eine Entschädigung anzubieten, uns bei ihm zu ent-schuldigen oder gar eine Bestrafung zu akzeptieren. Aber wer wird denn ‹geschädigt› bei der Teilhabe an der ‹Gesellschaft des Spektakels›? Wem gegenüber macht sich denn der postmoderne Zeitgeistbesitzer ‹schuldig›? Nun, die Antwort liegt nahe: Er schädigt sich selbst - er macht sich schuldig gegenüber seinem eigenen Werden.

Die ‹Gesellschaft des Spektakels› basiert auf der festen Absicht der ‹Herren des Wörterbuches›, die Verankerung der Gesellschaftsinsassen in lokalen, sozialen Sinn-Systemen zu lösen, sie zu entwurzeln und zu flexibilisieren, und sie insbesondere in ihrer Selbstreferenz nachhaltig und auf Dauer so zu stören, daß sie ebenfalls nachhaltig und auf Dauer nicht nur von der Exzellenz und Grandiosität ihres ‹Ichs› überzeugt sind, sondern sich auch nicht schämen, diese Überzeugung anderen Mitinsassen mitzuteilen. Es wird ihnen ein ‹Ich› gegeben, um es ihnen zu nehmen. Und die von ihrem ‹Ich› besoffenen Insassen gehen auf diese Verlockung ein, gerne, bewußtlos, und lassen sich täglich mit allerlei Niedrigkeiten zerstreuen und von ihren letzten lokalen Sinnräumen und lokalen sozialen Regeln ablenken und entfernen - und häufen dabei Schuld und Schuld auf sich. Und am Ende eines durchschnittlichen Tages, den das grandiose ‹Ich› wieder einmal nur als Glotzesel oder Krämerseele abgesessen hat, dann, ja dann dann öffnet sich die Frage, nach dem Gewissen. Und damit sind wir beim Thema dieses Traktätchens.


2. Gewissen

Irgendwo im Nachlaß der 1880er Jahre schreibt Nietzsche : «Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt.» Schauen wir uns also um, was zu dem Wort ‹Gewissen› so gesagt wird, damit wir wissen, was mit diesem Wort ausgedrückt werden, wozu es dienen soll.

Das Wort ‹Gewissen› ist eine Übersetzung des lateinischen ‹conscientia›, was eigentlich so etwas wie ‹Mitwissen› bedeutet. Im englischen Sprachraum sprudelt diese Quelle mit dem Wort ‹conscience› bis heute. Gängige Eingrenzungen des Begriffs ‹Gewissen› ergeben sich durch folgenden Konnotationen: Ein ‹Gewissen› spiegelt ein ‹persönliches› Bewußtsein vom sittlichen Wert oder Unwert des eigenen Verhaltens wieder, ein ‹Gewissen› soll also eine Art Richter und letzte Instanz sein bei der Beurteilung vom Guten und Bösen des eigenen Tuns. Mit dem Wort ‹Gewissen› bezeichnet man ein für den einzelnen Menschen als verbindlich betrachtetes System von Werten, das ihn in die Lage versetzt, sich, unabhängig von äußeren Beeinflussungen oder Maßstäben, verantwortlich in der Welt zu bewegen. Wir können auch sagen, daß das ‹Gewissen› die Summe der Fähigkeit zur moralischen Selbstbeurteilung ist. [1] Diese Darstellung folgt dem Online-Lexikon des Bibliographischen Instituts & der F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004. Ein ‹Gewissen› kann aber auch als das Bewußtsein der Verpflichtung einer bestimmten Instanz gegenüber gesehen werden. Hier geht es also um die Beurteilung, ob externe Maßstäbe eingehalten und verwirklicht wurden oder eben nicht.

Gleichhin, ob es um die Beurteilung innerer oder äußerer Maßgeblichkeiten geht, Voraussetzung für die Ausbildung eines ‹Gewissens› ist die Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis? Da stutzen wir sogleich. Wie soll sich eine Selbsterkenntnis entwickeln, wenn gerade die Selbstreferenz - wie wir es in der obigen Einführung beschrieben haben - in einer ‹Gesellschaft des Spektakels› täglich gestört wird? Wir werden darauf zurückkommen.

Beschäftigen wir uns noch ein wenig mit dem Gebrauch des Wortes ‹Gewissen›. Denn weit verbreitet ist die Rede vom ‹guten› und ‹schlechten Gewissen›. Ein ‹gutes Gewissen› ist ein gutes oder sanftes Ruhekissen, dies weiß ein jeder. Ein ‹gutes Gewissen› kann und sollte also derjenige haben, der seinen moralischen Maßstäben gefolgt ist - falls er welche hat. Und ein ‹schlechtes Gewissen›? Wann hat man ein ‹schlechtes Gewissen›? Tja, eigentlich, so will es der Volksmund, soll man ein ‹schlechtes Gewissen› haben, wenn man seinen eigenen moralischen Anforderungen nicht genügt hat, wenn man Fehler gemacht hat und sich Nachlässigkeiten, Versäumnisse und Unaufrichtigkeiten ‹zu Schulden kommen ließ›. Ein schlechtes Gewissen kann herrühren von einer Unwahrhaftigkeit oder Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Man kann auch jemandem, der eigentlich ein ‹schlechtes› Gewissen haben müßte, ‹ins Gewissen reden›, ihn ernst und eindringlich ermahnen und ersuchen, sein - von anderen - mißbilligtes Verhalten zu ändern. Und wenn es so etwas wie ‹Selbsterkenntnis› geben, wenn es also Menschen geben sollte, die ein ‹Mitwissen› haben von dem, was sie so anrichten, dann müßte ein jeder sich auch selbst ‹ins Gewissen reden› können.


3. Zur Psychologie des Gewissens in der Postmoderne

Die obige kleine Begriffsbestimmung zeigte uns, daß wir in den allfälligen Kontexten unseres Lebens mindestens zwei Möglichkeiten haben, wenn es um die Beurteilung der Moralität unseres eigenen Tuns geht: Entweder klären wir eine fragliche Angelegenheit der Moral mit uns selbst, mit unserem Gewissen, oder wir tun das nicht. Im zweiten Fall gibt es viele bekannte Möglichkeiten, die dabei helfen, um die Binnenschau und die ‹Gewissensprüfung› herumzukommen. Die populärste und schlichteste ist, sich ‹herauszureden› und besondere Umstände für das eigene Fehlverhalten geltend zu machen oder gleich anderen Personen ‹die Schuld› zu geben. Und schon stellen wir uns den Raum aller Handlungen, den Kosmos des gesamten moralisch bewertbaren Tuns in der Jetztzeit vor und fragen uns, in wieviel Prozent aller Fälle (vor Gericht, in der Politik, im kleinkrämerischen Alltag, überall also) unsere Mitmenschen Fragen der Moralität zu ihren Lasten entscheiden? 2%, 1%? Noch weniger?

Wie kann das sein? Wir haben doch als selbstbestimmte und uns selbst steuernde Wesen ein ‹Gewissen›, eine Beurteilungs-Instanz für unser Tun. Warum wird diese Instanz so selten angerufen? Oder ist das, was einst ‹Gewissen› hieß, ein unnötiger Ballast geworden, der die eigene Positionierung am globalen Markt der Möglichkeiten verhindert? Haben heute fast alle Leute gar kein Gewissen mehr? Hm, das könnte auch sein.

Und jetzt noch ein statistisches Argument: Es ist doch sehr unwahrscheinlich, daß fast alle Leute fast alles - moralisch gesehen - richtig machen und die Ursachen problematischer eigener Aktionen deswegen regelmäßig in den besonderen Umständen oder bei anderen Personen suchen. Da spielt uns unser kleines krumpeliges ‹Ich› wohl einen Streich, wenn es sich fast immer herausreden will. Schauen wir also näher hin.


3.1 Ein Blick zurück nach vorn

Bevor wir der Frage nachgehen, welche Rolle der Begriff ‹Gewissen› in der Postmoderne spielt, möchten wir einen historischen Rahmen setzen. Haltlose, schwache und ‹gewissenlose›, oder aber starke, brutale und ‹gewissenlose› Menschen gab und gibt es zu allen Zeiten. Ein gutes Beispiel dafür, wie ein scheinbar ‹Gewissenloser› mit dem Begriff ‹Gewissen› umgeht, findet sich in George Stevens' grandiosem Western «Shane» von 1953. [2] Nur nebenbei: Western eignen sich hervorragend, um ergiebige Diskurse über Scham, Schuld und Gewissen zu etablieren. Der Hintergrund in «Shane»: Der von der amerikanischen Regierung im Jahr 1862 erlassene ‹Homestead Act› ermöglichte vielen Siedlern, legal Land zu pachten und sich eine Existenz zu verschaffen, wenn sie sich verpflichteten, den Boden fünf Jahre zu bewirtschaften. Dies stieß auf wenig Gegenliebe bei den Großgrundbesitzern und ‹Rinderbaronen›, die das weite Land für ihre Zwecke behalten wollten und deswegen versuchten, die Homesteaders vor der Fünf-Jahres-Frist zu vertreiben. In «Shane» nun engagiert der ‹Rinderbaron› Rufus Ryker einen ‹Gunslinger›, um Joe Starret, den Wortführer der ‹Homesteaders› zu ‹beseitigen›. Im Saloon von Sam Grafton entwickelt sich nach dem Eintreffen des ‹Gunman› folgender Dialog:

Sam Grafton (gespielt von Paul McVey): «I can guess what's on your mind.»
Rufus Ryker (gespielt von Emile Meyer ): «Keep your guesses to yourself.»
S.G.: «I want you to know, I like Jo Starret.
R.R.: «Fool ougtha listen to reason.»
S.G.: «Your reason.»
R.R.: «What's the matter with you? Nothing I say strikes you rigth.»
S.G.: «No offence, Rufe, no offence. It's your own conscience eating on you.»
R.R.: (abfällig) «Conscience!»

Hier ist jemand so eingesponnen in seine ipsistischen Pläne, daß er nur mit Unverständnis und Ratlosigkeit reagieren kann, wenn jemand ihm den Begriff ‹Gewissen› entgegen hält. Was hat das Wort ‹Gewissen› mit seinen, Rufus Rykers Plänen zu tun. Eben.

Schauen wir in einen anderen kulturellen Sektor hinein, der für unseren Diskurs bedeutsam ist: Gerichtsverhandlungen. Kulturphysiognomisch interessant ist aber nicht, daß vor Gericht immer wieder Menschen stehen, deren Taten von ihrer Grausamkeit und ‹Gewissenlosigkeit› her kaum nachzuvollziehen sind. Spannender und aufschlußreicher für unser Thema ist es, über die Zeit hinweg zu verfolgen, wie sich ‹Beschuldigte› vor Gericht präsentieren.

André Gide schildert im Jahr 1912 in seinen berühmt gewordenen «Erinnerungen aus dem Schwurgericht» [3] André Gide (1997): Schwurgericht. Drei Bücher vom Verbrechen. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 150., wie er als Geschworener an verschiedenen Prozessen teilnahm. Die meisten der wegen Kindesmißbrauch, Diebstählen oder Morden Angeklagten schildert Gide als zerpatschte Kreaturen, die in für sie unerklärliche Situationen hinein gerieten, die dann zu einem ‹Verbrechen› führten. Externale Attributionen gab es schon immer. Das ist nicht weiter spannend. Was uns aber auffällt in diesen Berichten, ist, mit welchem Respekt, mit welcher Achtung und Ehrerbietung, ja mit welcher Demut die Angeklagten dem Gericht gegenübertraten. Das ist eine Qualität, die es so nicht mehr gibt. Im Traktat über die ‹Schuld› schrieben wir, daß heute «kaum mehr Urteile im Namen des Volkes akzeptiert oder zumindest hingenommen werden. Selbst der kleinste Krauter geht heute in die Berufung und wird, wenn es um seine ‹Schuld› geht, zum uneinsichtigen Querulanten.» So ist es. Was hat sich geändert? Viel. Wenn ‹jeder selbst am besten wissen muß, was er tut›, wird selbstredend auch vor Gericht das ‹Ich› zur letzten Instanz. Immer häufiger zu beobachten ist, wie Angeklagte die Institution des Gerichts selbst ablehnen und sich darüber empören, daß da jemand es wagt, über ihr ‹Ich› zu urteilen. Die Floskel ‹Im Namen des Volkes› taugt hier nur als Witz. Und allgemeine Regeln und Gesetze sind etwas für ‹Ich-Schwache›. Die derzeitige Ästhetik des Auftretens vor Gericht spiegelt das ziemlich genau wider. Wir empfehlen sehr, einmal einen Vormittag in einem Landgericht zu verbringen.


3.2 Tod des Über-Ichs?

Im 2. Kapitel haben wir über die Frage philosophiert, wie ein Zeitgeistinhaber ein ‹Gewissen› entwickeln können soll, wenn er zum einen vom Insgesamt der spektaklistischen Kultur nachhaltig daran gehindert wird, Prozesse der Selbstreferenz und der Selbsterkenntnis zu starten, und ihm zum anderen gleichzeitig nachhaltig eingetrichtert wird, er hätte ein grandioses ‹Ich›, welches sich täglich bei Kauf- und Programmwahlentscheidungen aller Art zeigen und bewähren darf. Mit diesem Argument haben wir den politischen Rahmen gesetzt für den von uns vermuteten ‹Abschied vom Gewissen›, für den ‹Tod des Über-Ichs›. Wir möchten im folgenden diesen Rahmen noch etwas füllen und ausmalen.

Zur Bildung und Entwicklung eines ‹Gewissen› benötigt eine Person zunächst einmal einen sozialen Raum, eine Pólis. Ein ‹Ich›, das aus seinen lokalen sozialen Räumen herausgehoben und im ‹globalen Raum› fallen gelassen wurde, kann kein lokales ‹Gewissen› ausbilden. Helmut Hansen hat in seinem Essay über den «Abschied vom ‹homo politicus›» näher ausgeführt und beschrieben, wie die derzeitigen Zeitgeistinsassen dazu gebracht werden, eigene ökonomische Interessen über alles andere, insbesondere auch über die Pólis zu stellen. Die fehlenden sozialen Verankerungen und die Lächerlichmachung jeglicher Form von Kommunitarismus führen zum dringend erwünschten «Abschied von jeder Haltung». Eine soziale Gemeinschaft im eigentlichen Sinne zählt nicht mehr. Zwar gibt es noch ‹Peergroups› und künstlich erzeugte ‹Communities›, aber alle wissen, daß diese sozialen Gruppen beliebig, flüchtig, auswechselbar und Trends und Moden unterworfen sind. Gruppen sind heute eher zufällige Zusammenballungen von Menschen, die in einem Augenblick in einer bestimmter Hinsicht ähnliche Konsuminteressen haben. Und in einem Monat kann eine jede in einer ganz anderen sozialen Gruppe sein. Und wenn man Glück hat, steigt man in eine Gruppe auf, die noch ‹cooler› scheint, als die bisherige.

In der Postmoderne ist man oder frau nicht mehr Teil von etwas Größerem, welches mehr wäre als die Summe seiner Teile. Heinz von Foersters Gedanke, daß es mir besser geht, wenn es anderen Menschen besser geht, und daß ich mir einen Gefallen tue, wenn ich mich für meine Pólis interessiere, ist im Moment nicht en vogue; genauer, dieser Gedanke wirkt heute lächerlich. In der Postmoderne ist man oder frau überhaupt nicht mehr Teil von irgendetwas, sondern ausschließlich und immer als Ganzes ‹bei sich›. Diese Entwicklung könnte auch aus unserer Perspektive etwas Schönes haben, aber leider verfügen die meisten Menschen der Jetztzeit nicht über die Souveränität, die aus ihnen Skeptikerinnen oder Ironikerinnen beim Blick auf das eigene ‹Ich› machen würde. So finden wir heute immer mehr Menschen, die ausschließlich und immer nur ‹bei sich› sind - ohne ‹bei sich› zu sein.

Zur Bildung und Entwicklung eines ‹Gewissen› benötigt eine Person weiterhin auch ein Wissen um die Geschichte seines lokalen sozialen Raumes. In diesem Wissen - und damit nähern wir uns Sigmund Freuds Begriff vom «Über-Ich» - ruhen Narrationen über moralische Bewertungen, wertgeladene Symbole und Traditionen, Beschwichtigungsdiskurse und mögliche ‹Ausgänge› moralischer Verhandlungen. Kurz: Die Geschichte lokaler Räume befaßt sich immer auch mit der Phylogenese lokal akzeptierter Moral. In diesem Punkt nun zeigt sich eine der größten Gefahren der zunehmenden ökonomistischen Globalisierung: Die ihrer lokalen sozialen Räume Enthobenen wissen kaum mehr etwas über Vergangenes, ihr Lebensraum ist überall, und selbst ihre Biographie ist von ihrer Person gelöst. So wird den Zeitgeistbesitzern die Historizität allen Geschehens nicht nur immer fremder, eines Tages ist sie ihnen endlich gleichgültig. Jedes ‹Ich› springt in diesem angehenden Jahrtausend frisch in die Welt und lernt, ‹autonom› zu definieren, was richtig oder falsch ist. Doch wie können Werte vermittelt werden, wie kann ein ‹Gewissen› gebildet werden, ohne Historizität, ohne soziale geschaffene Maßstäbe?

Und schließlich benötigt eine Person zur Bildung und Entwicklung eines ‹Gewissen› Muße, Ruhe, Zeit. Gibt es Prozesse der Selbstreferenz, der moralischen Prüfung ohne Muße, Ruhe, Zeit? Können Werte, kann ein ‹Gewissen› ohne Ruhe entstehen? Albertine Devilder hat in ihrer «Ode an die Langweile» beschrieben, wie die Gesellschaftsinsassen fast nichts mehr fürchten als sich zu langweilen und deswegen Kurzweil aller Art suchen: «Wie souverän doch ein Dummkopf die Zeit behandelt! Er vertreibt sie sich oder schlägt sie tot. [...].» [4] Karl Kraus in der Fackel Nr. 256 vom 5.6.1908, Seite 15/16. Aber eine lange Weile ist notwendig, um sich zu betrachten und so etwas wie ein ‹Gewissen› entwickeln zu können.

Sollen wir zum Schluß dieses Abschnitts noch erwähnen, daß Leute, die bei politisch äußerst weitreichenden Entscheidungen (Atomkraft, Gen-Food, Embryonenzüchtung) ‹Gewissensprobleme› artikulieren, in diesen Zeiten als ‹Bedenkenträger›, ‹Fortschrittsfeinde›, ‹Gutmenschen› oder ‹Weltverbesserer› bezeichnet werden?


3.3 Gewissen ‹light›

Selbstredend gibt es auch heute noch das Wort ‹Gewissen› und man kann es ohne Probleme in allerlei Diskurssituationen einbringen. Doch uns scheint, es ist eine Sprechblase, eine Hülle, eine Diskursspielmarke geworden, ähnlich wie die Worte ‹Emotion›, ‹Freiheit›, ‹Demokratie›, ‹Reform›, ‹Globalisierung› oder ‹Konstruktivismus›. Das schauen wir uns etwas näher an.

Ein Beispiel: Wir halten irgendjemandem in irgendeiner Situation irgendeine der üblichen Unzuverlässigkeiten, Unpünktlichkeiten, Unaufmerksamkeiten, Ungenauigkeiten oder Unverbindlichkeiten vor. Was wäre eine zeitgemäße Reaktion darauf? Genau, Sie kennen die Antwort, lieber Leser und liebe Leserin: «Willst Du mir jetzt ein schlechtes Gewissen einreden oder was?» In diesem Satz ist fast alles drin: Die fördernde ‹Gesellschaft des Spektakels›, die Grandiosität des ‹Ichs›, die Unverschämt bezüglich des eigenen Tuns und die gewitzte diskursive Wende mit der Schuldübergabe an denjenigen, der die Vorhaltung gemacht hat. Das ist schon wirklich schlau. Und wer sich über die Passung zwischen diesem Satz und der Jetztzeit ganz im klaren ist, braucht diesen Text eigentlich nicht mehr weiter zu lesen, denn er ist bereits ein Wissender.

Sie sind noch da? O.k. Dann noch ein Beispiel: Jemand ruft uns an und sagt: «Warum hast du dich nicht mal gemeldet?» Das ist schon eine beachtliche Dikurseröffnung, die von Anfang an auf das Gewissensspiel setzt und die Schuldfrage festlegt. Gekonnt, wirklich. Aber wir sind ja auch nicht von gestern und flöten zurück: «Und warum hast Du Dich nicht mal gemeldet?» So geht das, kurz mal ans Netz gehen und einen Volley zurückschlagen.

Es gibt aber auch Diskurskontexte, wo das Wort ‹Gewissen› vom Diskurspartner so eingebracht wird, daß wir meinen könnten, es handele sich wirklich um eine - altmodische - Frage des Gewissens. Ein Beispiel: Ein Bekannter ruft uns an und sagt: «Du, ich habe echt ein schlechtes Gewissen, Dich nicht eher angerufen zu haben, aber Du kannst Dir nicht vorstellen, was gestern in der Agentur los war.» Meist folgt dann eine beeindruckende Litanei von Alltagstaten, Arbeitsvolumina und anderen Wichtigkeiten. Und wir fragen uns, was das soll, hier rühmt einer seine Taten und seine Bedeutsamkeit, hier rückt einer sein ‹Ich› ins beste Licht, aber hier schämt sich doch keiner. Das Wort ‹Gewissen› ist in diesem Beispiel in seiner zeitgemäßen Bedeutung angelangt, im Nichts.

Noch ein letztes Beispiel für die derzeitige Verwendung des Wortes ‹Gewissen›: Manchmal sitzen wir mit Leuten zusammen, die erzählen, sie hätten ein schlechtes Gewissen, weil sie zuviel arbeiteten, rauchten, tränken, oder weil sie zuviel Zeit mit dem und dem verbrächten und zu wenig Zeit hätten für dies und das. Uns beschleicht dann kurz der Verdacht, diese Leute wollten Ideen, wie sie ihr Gewissen dadurch erleichtern könnten, daß sie ihr Leben bewußter und stressfreier gestalten. Aber wenn wir dann diese Klage-Suada, diesen Selbstbezichtigungsrausch unterbrechen und nur ganz kleine, vorsichtige Vorschläge unterbreiten, was sich denn so ändern ließe in diesem ‹Zuviel-Leben›, dann empören sie sich und beteuern, alles sei o.k. Tja, warum müssen wir uns das dann anhören? Warum tun die Leute hier so, als hätten sie Gewissensbisse und jammern sich und uns die Ohren voll, anstatt sich und uns mit schönen Dingen zu beglücken?


4. Freiheit, Ethik und das Böse

Von Rüdiger Safranski [5] Rüdiger Safranski (1999): Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. 5. Auflage 2003. haben wir den faszinierenden Gedanken, daß ‹Freiheit› sich entwickelt durch ein «Nein», daß Freiheit erfahren wird in der Reaktion auf ein Verbot. Und daß diese Reaktion dann immer eine ethische Entscheidung ist, so oder so.

Betrachten wir diesen Weg, diesen denkbaren Fall. Da ist also an einem oder mehreren biographisch wichtigen Punkten in einer Ontogenese von einem dazu Berechtigten ein «Nein» zu hören, welches sich nicht auf etwas Belangloses bezieht, sondern die Einhaltung einer sozial bedeutsamen Regel anempfiehlt, oder deren Nichteinhaltung durch Androhung und Vorwegnahme möglicher - hier immer als unangenehm geschilderter - Konsequenzen aller Art auszuschließen versucht. Sich über dieses «Nein» nun hinwegzusetzen, bedeutet für den sich zu einer Person entwickelnden, sich die Freiheit zu nehmen, selbst eine aktuelle Entscheidung zwischen «Gut» und «Böse» zu fällen und somit ein ‹Richtig› und ‹Falsch› für sich selbst zu definieren. Die grenzenlose Freiheit nach dem Übersteigen eines von außen definierten «Neins» kann auf der einen Seite dazu führen, daß der über das «Nein» zu einem «Nein» Befreite sich eine eigene ethische Ordnung und Orientierung in Richtung einer autonomen Moral und eines eigenen Gewissens konstruiert und somit das ‹Wählen› lernt. Oder aber er benutzt die Mißachtung des «Neins», um, befreit von dieser einen Vorschrift, von nun an überhaupt Regeln seines sozialen Raumes zu verletzen und sich dem «Bösen» zuzuwenden. [6] Siehe hierzu beispielhaft: Georges Bataille (1983): Gilles De Rais. Leben und Prozeß eines Kindermörders. Gifkendorf: Merlin Verlag. «Das Böse gehört zum Drama der menschlichen Freiheit. Es ist der Preis der Freiheit.» [7] Rüdiger Safranski (1999), a.a.O. Seite 13.

Damit haben wir die beiden möglichen Wege nach einem «Nein» beschrieben: Aus einem «Nein» kann sich ein eigenes Wertesystem entwickeln, oder die Ablehnung von sozial und kommunal definierten Werten, das «Böse». Wir müssen jetzt nicht darüber sprechen, was das «Böse» ist, das zu definieren ist die Aufgabe lokaler sozialer Systeme. Wir müssen auch nicht diskurrieren, daß es nach der Entscheidung für etwas «Böses» viele Rückkehrmöglichkeiten und Umleitungen hin zu einer erneuten Wertorientierung geben kann; oder daß gerade in einer autonomen Moral das «Böse» schlummern mag. Statt dessen fragen wir uns, was entstehen mag, wenn an einem oder mehreren biographisch wichtigen Punkten in einer Ontogenese von einem dazu Berechtigten regelmäßig ein «Ja» zu hören ist, wenn es also keine Grenzziehung, keine Hürden, keine Verbote, keine Vorwegnahme von Konsequenzen, keine Drohung mit negativen Ausgängen gibt, wenn der Erziehungsstil sich somit als postmodernes ‹Laisssez-faire› erweist und die Beziehung zwischen Erziehungsberechtigten und Erzogenen auf Gleichgültigkeit beruht? Entsteht bei diesen ‹Schlaraffenlandkindern› [8] Vgl. dazu Holger Wyrwa (1998): Die Schlaraffenlandkinder. Weinheim und Berlin: Beltz Quadriga Verlag. nicht ein Gefühl von Allmacht? So viele Möglichkeiten! So viele Beliebigkeiten! So viele Ansprüche! Und alles geschieht nach eigenem Gusto, denn ‹jeder einzelne muß ja alles selbst am besten wissen›! Wir haben oft den Eindruck, als sei dieser heute nur noch dumm klingende All-Begründungs-Satz in der Kiffer-Szene entstanden.

Wenn wir uns an die im zweiten Teil dieser kleinen Reihe skizzierten verwahrlosen, haltlosen, schamlosen, schuldlosen, anspruchsunverschämten postmodernen ‹Übermenschen› erinnern und uns deren Reflektions- und Reversibilitätsniveau betrachten, könnten wir auf den Gedanken kommen, daß dieses dem von ausschließlich am Lustprinzip orientierten Kindern entspricht. Sind die postmodernen ‹Übermenschen› vielleicht gar nicht ‹erwachsen›, sind sie schlicht Kinder? Bekiffte Kinder? Ein schöner Gedanke. [9] Sehr empfehlenswert in diesem Kontext ist das folgende Buch von Robert Bly (1996): Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen zu werden. München: Kindler. Denn aus einem dauerhaften «Ja» zu allen möglichen kindlichen oral-kaptativen Wünschen, das sich letztlich als ein «Ist-mir-doch-egal» derjenigen, die den Auftrag haben, Kinder zu erziehen, erweist, erwächst - über einen ‹Alles-ist-erlaubt-Mythos› - Unfreiheit. Oder andersherum: Die Welt nur von sich aus zu denken, schafft keine Freiheit.

Wir vermuten, daß selbst bei denen, die, vor der Wahl stehend, sich dem monströsen Bösen zuneigen, die Psyche von Ennui, Überdruß und Unfreiheit beherrscht wird. Aus einem «Nein» kann eine persönliche Freiheit erwachsen, denn das Verbot birgt die Möglichkeit der Wahl. [10] «Die Geburt des Neins und die der Freiheit gehören zusammen. Mit dem ersten göttlichen Nein, als Kompliment an die Freiheit des Menschen, tritt etwas verhängnisvoll Neues in die Welt. Denn nun kann auch der Mensch ‹nein› sagen. Er sagt ‹nein› zum Verbot, er setzt sich darüber hinweg. Die Folge davon wird sein, daß er nun auch zu sich selbst ‹nein› sagen kann.» Rüdiger Safranski (1999), a.a.O. Seite 26.

Noch einen Weg müssen wir betrachten. Da ist an einem oder mehreren biographisch wichtigen Punkten in einer Ontogenese von einem dazu Berechtigten ein «Nein» zu hören, und die so ‹erzogene› Person kommt gar nicht auf den Gedanken, sich über dieses «Nein» hinwegzusetzen oder sich selbst eine Entscheidung anzumaßen, was «Gut» oder «Böse» sei. Statt dessen erfüllt sie brav und willig Anforderungen, Aufträge und Befehle aller Art. Denken wir eine Weile nach. Ist diese Regeleinhalterin frei? Ist ein streng die Gesetze einhaltender Pharisäer frei? Nein, das können wir uns nicht vorstellen. Und wir denken sogleich an den Mitte des vorigen Jahrhunderts von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford [11] Theodor Wiesengrund Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford (1950): The Authoritarian Personality. New York, Evanston, London: Harper & Row (Harper & Brothers). skizzierten «autoritären Charakter», der sich selbst nach der Ausführung der allerbösesten Grausamkeiten darauf beruft, diese Taten seien ihm ‹befohlen› worden. Ist ein Dauerregeleinhalter also frei? Vermutlich nicht, denn er kommt ja gar nicht in die Situation, das «Drama der Freiheit» zu erleben. Er versteckt sich hinter dem Rücken von Mächtigen, von Auftraggebern. Wohl nicht ohne Grund wird der Pharisäer im Volksmund mit einem bigotten, hochmütigen und selbstgerechten Heuchler in eins gesetzt. Denn er wird sich seine kleinen persönlichen ‹Extra-Freiheiten› schon nehmen, ohne sich gegen den Zeitgeist zu stellen. Ach, aber es sind so unwesentliche, so kleinlich-peinliche ‹Extra-Freiheiten›! Ein Steuerbetrug etwa.

Machen wir noch einen kleinen Schlenker zur Geburt der Freiheit aus dem «Nein». Stellen wir uns unsere final-kapitalistische Gesellschaft des Spektakels vor: Zig TV-Kanäle, hunderte, tausende Angebote im Billigmarkt. Und überall plärrt es: «Wähle mich! Nimm mich! Billig, aber nur heute! Kaufen, marsch, marsch! Geizkontrolle!» Fragen wir uns: Wählen können, nur wählen können aus dem unübersehbaren Angebot des ‹Marktes›, ohne ein «Nein» oder wenigstens ein drohendes «Wozu kaufst Du das?», ist das ‹Freiheit›? Wir vermuten: Nein! Wer zwischen allem wählen kann, wählt zwischen nichts und nichts. Müssen wir uns den Endverbraucher als armen und unfreien Menschen vorstellen? Ja, und mit jedem Kauf steigert sich seine Unfreiheit. Punkt.

Nur ein Riß in der Wahrnehmung der Wirklichkeit schafft Freiheit. Und ein Gewissen.


5. Gewissen tut not

Unsere kleine Reihe von Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen geht zu Ende. Im ersten Teil formulierten wir unser Erkenntnisinteresse, unseren Verstehenswunsch und stellten einige Situationen vor, die uns interessieren. Im zweiten Teil zogen wir Victor Hugos Dreieck aus Religion, Pólis und Natur heran, welches über Jahrhunderte hinweg den Menschen Halt gab, in das sie eingebunden waren, von dem sie gehalten wurden. Die derzeitige Verachtung von Religion, Pólis und Natur zeigt uns, wie weit sich die Insassen unserer spektaklistischen Gesellschaft von lebensnotwendigen Maßstäben und Unausweichlichkeiten entfernt haben. Und damit haben wir eine wichtige Voraussetzung für postmoderne Scham- und Schuldlosigkeiten aller Art benannt. Statt des alten Dreiecks wird heute eine neue Macht, der Markt, bedingungslos verehrt, und neue Räume und Möglichkeiten des Schämens haben mit der mangelnden Verehrung dieser Macht zu tun. Markt und Medien produzieren heute immer mehr Menschen mit einer Medienidentität, die sich als «Übermenschen» gerieren.

Im dritten Teil unserer Skizzen fragten wir uns, ob sich die Postmoderne als Epoche der Schuldlosigkeit bezeichnen ließe, indem wir die Tendenzen zum ‹Vulgären› analysierten. Aber immer wieder landeten wir beim postmodernen ‹Ich›, welches aus seiner Grandiosität heraus wie eine Art Eintrittskarte in die Welt erscheint, als eine Art Berechtigung, sich so zu benehmen, wie es ihm gerade einfällt.

Im vorigen Kapitel dieses Essays nun haben wir Safranskis Vermutung beschrieben, daß ein ‹Gewissen› nur entsteht aus der Freiheit, ‹Nein› zu Regeln, Vorschriften und Verboten sagen zu können. Und schon stellt sich die Frage, was dann aber in den Zeiten ist, in denen es keine akzeptierten Regeln und Vorschriften, ja nicht einmal Tabus gibt, und in denen einem ‹Ich› (fast) alles erlaubt ist? Was aber also ist in Zeiten, in denen es einem ‹Ich› insbesondere erlaubt ist, nicht auf andere zu achten, sondern seine eigenen Interessen durchzusetzen? Was entwickelt sich da? Ein Gewissen?

Es gibt eine ganz wunderbare Szene in Spike Jonzes «Being John Malkovich» von 1999. Maxine (gespielt von Catherine Keener) sagt dort: «The thing is, the way that I see it, I think, the world is divided into those who go after what they want and then those who don't, right? The passionate ones, the ones who go after what they want, well, they may not get what they want. But at least they remain vital, you know? So when they lie on their death beds, they have few regrets, right? And the ones who don't go after what they want, well, who gives a shit about them anyway?»

Maxine als Ikone der Postmoderne, als ‹Übermensch›, stark, andere austricksend oder ausbeutend, immer an sich selbst denkend, immer gnadenlos auf ihren Vorteil aus! Maxine als Prototyp der vielen postmodernen ‹Ich-Besitzer›, die nehmen und nehmen, die alles haben wollen, was möglich ist, die aber nichts geben. Heinz von Foersters Gedanke, daß es ihr besser geht, wenn es anderen besser geht, ist ihr völlig unverständlich.

Leben ist leidvoll und Menschen machen viele Fehler. Und damit umzugehen heißt, eigene Verfehlungen zu sehen, zu erkennen, als zur eigenen Person zugehörig zu erleben, ihre Unvermeidlichkeit zu bejahen und schließlich sich so den Konsequenzen seiner Taten im sozialen Raum bewußt zu werden, Scham- und Schuldgefühle zu erleben, um dann, später, mit Hilfe von Reflexionen da wieder herauszukommen, sich zu ent-schuldigen! In der derzeitigen außengeleiteten Kultur sind solch anspruchsvollen inneren Diskurse nicht beliebt, man mag zwar gerne in den Spiegel schauen und sich an seinem Phänotyp erfreuen, aber von dem, was da unter der Haut ist, will man nicht viel wissen. Selbstpräsentation ist leichter als Selbsterkenntnis!

Eine Freundin von uns sagte vor kurzem, als wir mit ihr über diese Reihe von Texten sprachen, tatsächlich etwas, was als Motto für dieses angehende neue Jahrtausend gelten könnte: «Bewußtsein ist gut, Leben ist besser.» Liebe Leserin, lieber Leser, nehmen Sie diesen Spruch jetzt sogleich als kleinen Instant-Verortungs-Test dafür, ob sie in der Jetztzeit angekommen sind: Sie sind es, wenn Sie dem Spruch aus vollem Herzen zustimmen können; und Sie sind von vorvorgestern, wenn Sie dies nicht können.

Der Wahn von der Grandiosität des eigenen ‹Ichs› und die damit verbundene zunehmende Scham-, Schuld- und Gewissenlosigkeit erinnert uns wehmütig an das romantische Menschenbild, das Jean-Jacques Rousseau in seinen «Confessions» von 1782 entwarf: Die Tugend, so Rousseau, habe ihren Ursprung im Gefühlsleben des Menschen, denn Gefühle seien von Natur aus gut. Deswegen könnten Gefühle auch sehr wohl einen Maßstab bilden für die eigenen Handlungen. Und so tritt in Rousseaus utopischem Entwurf eine innere Moral an die Stelle äußerer verbindlicher Gesetze und das Zusammenleben der Menschen, die jeweils als einzelne Wesen den Impulsen ihrer «unverdorbenen» Natur folgen, vollzieht sich in größter Harmonie.

Ob Rousseau Recht haben könnte, wird sich vermutlich nie erweisen, denn er vergaß die vielen umtriebigen Agenten, die in einer ‹Gesellschaft des Spektakels› daran arbeiten, die Menschen von sich zu entfernen: So wirken denn auch die meisten Zeitgeistinsassen der Jetzt-Kultur nicht wie Rousseau'sche Helden, sondern wie die ‹Haupt- und Staatsperson› aus George Sands «Horace»: Gutaussehend, körperbewußt, eitel, dumm, aber schlau, mit einem überaus ausgeprägten Selbstbewußtsein - und ohne alle moralischen Skrupel. Ein Held eben. Ein Held seiner Zeit. Ein Held unserer Zeit. [12] Wir erinnern hier sehr gerne an Michail Jurjewitsch Lermontows großartigen Roman «Ein Held unserer Zeit» von 1840. Lesen Sie ihn! Und Sie lernen etwas - über die heutige Zeit!

Und wenn man diesen Helden in einer der wenigen Stunden, in denen ein Reflexionsdiskurs in Ansätzen möglich ist, auf die Pelle rückt und ihnen ein «Statement» abverlangt bezüglich ihres So-Seins und der Trümmer, die ihren Weg säumen, dann, ja dann berufen sie sich auf ihr schieres Menschsein und versteigen sich zu einem: «Das machen doch alle so!» oder einem «Das ist doch menschlich!» oder gar zu einem «Wir sind doch alle nur Menschen!» Das lassen wir aber nicht durchgehen. Da halten wir uns an den ‹Kardinal von Wien›:

«Menschen, Menschen san mer alle - ist keine Entschuldigung, sondern eine Anmaßung.» [13] Karl Kraus in «Die Fackel» Nr. 323, vom 18.5.1911. Seite 16.



Kommentare


18. Juni

Liebe Lisa, liebe Henriette,

ich arbeite als Psychotherapeutin viel mit Jugendlichen und deren Eltern. Natürlich systemisch und so, klar. Und ich möchte euch sagen, ihr habt es wirklich klar erfaßt. Mangelnde Scham- und Schuldgefühle spielen heute eine große Rolle und führen zu vielen Problemen zwischen Eltern und Kindern, falls nicht längst eine völlige Gleichgültigkeit eingekehrt ist. Laßt mich noch ein paar Ergänzungen «aus der Praxis» zu euren Texten machen:

  • Ein Grundproblem ist, daß sehr viele (nicht nur junge) Leute heute keine Haltung haben zu irgendetwas, das außerhalb ihres Egos liegt. Sie müssen ‹cool› sein. Dies bedeutet aber eben auch, daß sie für nichts einstehen, was sie nicht direkt angeht, was nicht direkt ihren Interessen entspricht. So haben sie auch keine Bedenken, ganz klar auf ihren Vorteil bedacht zu sein. Das Motto ist: Ich muß mein Ding durchziehen, ich muß mein Ego präsentieren, herausstellen und behaupten.
  • Der Schaden, den jemand anrichtet, interessiert fast niemanden, darüber wird hinweg gesehen. Nur wenn man selbst direkt davon betroffen ist, dann gibt es Aufregungen und es wird lamentiert. Hier zeigt sich das große derzeitige Problem: Von einem Ereignis in seiner sozialen Gemeinschaft betroffen zu sein, ohne direkt als Ich involviert zu sein, scheint mir die wesentliche Grundlage für die Ausbildung von Scham- und Schuldgefühlen. Aber Narrationen dazu werden seltener.
  • Mit dem Begriff «Medienidentität» habt ihr es meiner Ansicht nach genau getroffen. Ich beobachte immer mehr Jugendliche, die super gestylt und mit einer großen Wichtigkeit in meine Praxis kommen. Viele lassen ihre Baseball-Kappe auf dem Kopf, als wäre diese festgewachsen. Und sie sind schlau im tit-for-tat, im Triangulieren, im andere ausspielen und tanzen lassen, sie haben eine Smalltalk-Schläue ohne Tiefe. Und genau das haben sie in den Medien gelernt, in den soaps. Da sie aber trotzdem in einem sozialen Sinn ganz ungebildet und sogar hilflos sind, begreifen sie nicht, warum ihre Eltern möchten, daß sie eine Therapie machen sollen. Und wie soll ich ihnen das erklären? Ich fühle mich dann oft so hilflos wie die Eltern in dem wunderbaren Roman «Was ich liebte» von Siri Hustvedt. Ja, genau so.
  • Der soziale Raum, in dem sich die Scham- und Schuldlosen bewegen, wird ausschließlich funktional gesehen: Er muß die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse dauernd garantieren, sonst ist man völlig fertig und braucht sofort Hilfe. So kommen ab und zu Leute von sich aus zur Therapie, und könnt ihr euch vorstellen, was die dann von mir erwarten? Sie sagen, daß sie assertiver werden wollen, daß sie lernen wollen, sich durchzusetzen. Am Anfang habe ich das ein paar Mal geglaubt. Heute weiß ich, daß sie längst voll assertiv sind, daß aber leider die Welt, die sie erleben, nicht so ist, wie sie es gerne hätten. Und genau das können sie nicht ertragen! Und das Wort «Ertragen» ist in diesem Zusammenhang ganz wichtig. Denn wenn sie etwas nicht «ertragen» können, sind sie «völlig» fertig und «wissen nicht mehr weiter». Da müssen dann andere kommen und den Dreck wegräumen. Es ist ganz erstaunlich, diese Klientel hat überhaupt keine Assertivitätsprobleme, es fluppt bei ihnen nur nicht immer so, wie sie das gerne hätten. Und dann tun sie so, als hätten sie ein permanentes posttraumatisches Belastungssyndrom. Trauma? Welches Trauma?
  • Ununterbrochen wird das eigene Ego sprachlich umkreist. Ist es Hysterie? Der Abschied von Scham und Schuld ist aber gleichzeitig auch ein Abschied vom Ekel, und genau das ist eine Emotionsphobie. Also ist es vermutlich eher eine «Borderline-Störung», die hier endemisch wird.
  • Wenn die Empfindung von Scham und Schuld verloren geht, wohin tendiert dann das Verhalten von Menschen? Was leitet ihr Verhalten, ihr Ich-Gewese. Wer steuert das Verhalten, wenn Scham und Schuld verloren gehen?
  • Für einen einzelnen Menschen mag der von euch beschriebene Abschied von Schuld und Scham wunderbar sein, für die Gesellschaft, für soziale Gemeinschaften aller Art, ist es eine Katastrophe.

  • Ich hoffe, ihr könnt mit meinen Gedanken was anfangen, auch wenn sie nicht ganz so geordnet sind wie eure Texte.

    Liebe Grüße an euch beide

    von
    Andrea



    Erstellt: 15. Juni 2004 - letzte Überarbeitung: 18. Juni 2004
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