BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Sozial-konstruktivistische Marginalien (3): ‹Wissen› versus ‹Erwägen›» von Albertine Devilder & Lisa Blausonne
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Welch ein Unterfangen,
sich hinter Worten verstecken zu wollen!
Man ist ja - diese Worte selbst.
(Christian Morgenstern)

Einführung

Lieber Leser, liebe Leserin, zum Glück können wir in dieser dritten Randbemerkung auf zwei Unterscheidungen zurückgreifen, die wir in den ersten beiden Marginalia-Traktaten eingeführt haben. Zum einen ist das
Realismus versus Idealismus

Wir leben in einer großen Zeit des ‹Wissens›. Täglich, stündlich, minütlich erfahren wir von ‹Fakten›, die für unser Leben eine Rolle spielen sollen - und seien es auch nur die ‹wirklich günstigsten› Tarife für sonntägliche Telefonate ins Festnetz. Und genauso pausenlos und unerbittlich wird von Wissenschaftlern neues Wissen geschaffen, welches dann in die Lehrpläne von Fachschulen oder zumindest in die Gesundheitsseiten von Regionalzeitungen diffundiert. Dem gesunden Menschenverstand ist dabei ganz fraglos klar, daß die immer neuen Wissensbestände nicht nur auf irgendeine Art und Weise von den dazu berufenen Fachleuten ‹entdeckt› werden, sondern, und dies ist ja viel interessanter, daß ‹neues› Wissen grundsätzlich entdeckbar ist. Diese Position nennt man ‹Realismus›, und wir haben sie hier im Skepsis-Reservat schon an anderer Stelle als die ‹Epistemologie der Moderne› skizziert.

Die epistemologische Position des Realismus ist überaus weit verbreitet. Denn nicht nur versteht sie jeder gleich auf Anhieb («Ich seh' doch, was ich sehe!»), nein, sie wird auch gezielt und bewußt in Alltag und Wissenschaft propagiert, damit Politiker und Wissenschaftler sich ganz naiv und unverfroren der ‹Wirklichkeit› bemächtigen und ihren mit ‹Wissen› geschmückten Reden einen Strahlenkranz ‹objektiver› Geltung beifügen dürfen. Wer etwas weiß, erfährt Achtung, Ansehen, Bedeutung und Profil - und schafft sich eine Reputation.

Daß sich Beobachtungen aller Art - in Alltag und Wissenschaft - mit dem erkenntnistheoretischen Modell des ‹Realismus› nicht so gut vereinbaren lassen, merken Wissenschaftler ziemlich schnell. Und wie lösen sie dieses kleine Problem? Ach, das ist leicht, nehmen wir als Beispiel etwa die Schule der Kognitionspsychologie, die postuliert, daß Menschen ‹Informationen verarbeiten›, eine These, die naturgemäß außerordentlich mehrheitsfähig ist. In diesem Modell der ‹Informationsverarbeitung› wird zunächst behauptet, daß ein Objekt der real vorhandenen Außenwelt von einem Subjekt abbildend wahrgenommen wird. Oder anders, das Objekt gerät auf eine bestimmte Art und Weise als Spiegelbild in das Gehirn des ‹erkennenden› Subjekts. So weit, so gut. Leider aber sehen, hören, riechen und schmecken Menschen bei gleichbleibendem Reizangebot die unterschiedlichsten Sachen! Wie kann das sein, wenn doch die Welt da draußen sich treulich im Hirn der Erkennenden ‹abbildet›? Nun, das Problem wird elegant gelöst, in dem den ‹erkennenden› Wesen mehr oder minder bewußte Affekte, Unaufmerksamkeiten, Ablenkungen, Voreingenommenheiten oder beliebig viele andere störende Kognitionen unterstellt werden, die die eigentlich klar widergespiegelte Außenwelt verfälschen. Hier wird also gesagt, daß mit einer mangelnden oder voreingenommenen Aufmerksamkeit das ‹erkennende› Subjekt dem Objekt in der Welt ‹eingreifend› gegenüber tritt.

Die ‹realistischen› epistemologischen Modelle enthalten sekundär also auch einen konstruktiven Teil. Zwar sei die Welt grundsätzlich objektiv erkennbar, so wie sie sich uns darbiete, leider aber hätten wir als erkennende Menschen allerlei Schwächen, da wir unbedacht oder gar absichtlich ‹Informationen› übersähen, fokussierten und filterten. Gerne wird in diesem Zusammenhang auch darüber fabuliert, daß unsere Aufmerksamkeit beim Erkennen der Wirklichkeit biologistischen Beschränkungen unterliege, die mit der ‹Anpassung› an Umweltgegebenheiten oder gar mit dem ‹Überleben der Art› zu tun hätten. Na ja, Sinn macht das nicht, und die Beobachtung, daß nicht einmal zwei Menschen ein und dasselbe sehen, hören, riechen oder schmecken, kann dieser biologistische Schlenker nun wirklich nicht erklären.

Soziale Konstruktivistinnen vertreten eher eine idealistische Position. Sie nehmen an, daß bei jeder uns möglichen ‹Wahrnehmung› das Wahrzunehmende sozial imprägniert ist und ihm, bevor wir überhaupt die Augen aufmachen, eine Bedeutung bereits zugewiesen wurde. Oder anders, Bedeutungszuweisung und Bedeutungskonstruktion sind der primäre Prozeß, der einem kognitiven Zugriff auf die Welt, einem Erkennen, vorausgeht und nicht nachgeht. Die Suche nach der Bedeutung von etwas ‹Gesehenem› ist hier gleichbedeutend mit der Erzeugung oder der Erfindung der Bedeutung von etwas ‹Gesehenem›.

Unter Aufmerksamkeit stellen wir uns also nicht einen Mechanismus vor, der die Auswahl aus bedeutungslos in der Welt daliegenden Dingen steuert, nein, Aufmerksamkeit führt für uns zu einer Sichtbarmachung von etwas, das schon von jemand anderem gedeutet wurde. Diese Deutung, diese Andeutung, der unsere Erkenntnis, gleichsam aus dem Dunklen heraus, zu folgen hat, ist nämlich nicht primär eine individuelle, subjekteigene, private, sondern eine kommunale Deutung, eine Andeutung im sozialen Raum. Unsere Wahrnehmung folgt sozialen Pfaden. Und unsere Aufmerksamkeit folgt Wegen, die unser sozialer Raum schon längst beschritten hat, und so sind die bedeutendsten Gebäude am Wegesrand von unserem sozialen Kollektiv schon längst beschildert worden, bevor wir sie betreten. Und gerade daß wir meinen, die Schilder seien von uns ganz persönlich erfunden, seien also ganz privat, ist eine der mächtigsten sozialen Konstruktionen. Und natürlich gibt es eine Fülle von Dingen und Gebäuden am Wegesrand, auf die wir keinen Blick werfen, die wir nicht ‹erkennen›, weil, warum auch immer, ihnen niemand aus unserem sozialen Raum ein Schild mit einem Namen umgehängt hat.


Wissen versus Erwägen

Damit sind wir am Ziel dieses Traktates angekommen. Wir möchten im folgenden unsere Vermutung erläutern, daß die Epistemologie des Realismus eine kurzatmige ‹Welt des Wissens› erzeugt. Denn im Realismus giert man nach ‹Informationen›, nach Tagesaktualitäten, nach der ‹Top-Meldung›, dem ‹Wissen des Tages›, das nach ganz kurzer Halbwertzeit - meist schon am nächsten Tag - wieder vergessen wird. Die Epistemologie des Realismus ist somit am besten aufgehoben in Fachschulen aller Art - und in schlechten Zeitungen und Zeitschriften.

Die Epistemologie des Sozialen Konstruktivismus erzeugt eine Welt des Erwägens. Hier geht es nicht um das ‹Wissen des Tages›, sondern um ein achtsames, bedächtiges Bedenken und Durchdenken einer Angelegenheit. Da langfristige Entwicklungen im Mittelpunkt der Überlegungen stehen, ist die Epistemologie des Konstruktivismus am besten aufgehoben in Universitäten im alten Sinne - und in den wenigen beglückend guten Zeitungen.

In der so überaus verbreiteten und lärmenden Welt des Wissens geht es immer um die Wirklichkeit selbst, die erkannt wurde. Und wenn zwei Menschen, Politiker etwa, etwas Unterschiedliches über ein und dieselbe Wirklichkeit ‹wissen›, dann kann der jeweils andere Erkennende nur ein Scharlatan, ein Dummkopf, ein Täuscher, ein Trickser sein, denn die jeweils eigene Weltsicht hat sich ja ganz rein und objektiv aus der Beobachtung der Welt, aus der ‹Datenlage› ergeben. Kontrahenten in der Welt des Wissens sind sich unerträglich sicher über die Bedeutung ihres Wissens und ihre Art, Fragen an die Welt zu richten, und so werfen sie sich Zahlen um die Ohren, ziehen lustige Statistiken heran und beharren endlos auf dem Anspruch, daß es immer eine richtige und eindeutige Antwort gebe.

In einer Welt des Erwägens geht es in erster Linie nicht um schnelle und wohlfeile Antworten, sondern um die Qualität der Fragen, die wir an die Wirklichkeit richten. Und damit eröffnet sich ein ethischer Raum. Im Realismus sind die Dinge wie sie sind, und niemand hat dafür eine Verantwortung, denn hier werden die ‹sich stellenden› Fragen objektiv und gnadenlos untersucht. In einer Welt des Erwägens trägt der bereits Verantwortung, der die Fragen an die Welt formuliert, d.h., er sollte vor seinen möglichen Erkenntnisoperationen die Fragen auf ihre Fragwürdigkeit befragen. Und Erwägende sind sich ziemlich einig, daß es nicht nur mehrere verschiedene Erkenntniswege gibt, sondern daß Erkenntnisse, also Aussagen über die Welt, immer ambivalent sind, denn sie zeigen etwas und verbergen gleichzeitig etwas anderes, ja, sie sind oft auch widersprüchlich und in ihren Möglichkeiten und Konsequenzen gar nicht genau zu erfassen.

Was in den oben kontrastierten Unterschieden zwischen Wissen und Erwägen deutlich wird, ist die bedauerliche Inkommensurabilität zwischen realistischem und konstruktivistischem Diskurs. Aus den jeweiligen Epistemologien des Wissens und Erwägens erwachsen zwei spezifische wissenschaftstheoretische, anthropologische und methodologische Universen, zwei Grundhaltungen gegenüber den Aufgaben und Zielen von Erkenntnis, die sich völlig unterscheiden.


Plädoyer für eine Erwägungskultur

Es ist außerordentlich schwer, sich im Durcheinander der Jetztzeit aus einer Welt des Wissens zu verabschieden und zu wagen, eine Welt des Erwägens zu betreten. Wir möchten im folgenden zeigen, was man aufgibt und was man gewinnen kann:
Lieber Leser, auf was lassen Sie sich ein, wenn Sie die lärmende Wißbarkeits-Welt verlassen und sich einer Erwägungskultur anschließen? Auf ein Abenteuer? Können Sie sich Diskurse jenseits der Wißbarkeits-Welt überhaupt vorstellen, also Diskurse, die nicht darauf angelegt sind und geführt werden, um als ‹Wissender› zu siegen und ‹Unwissende› zu besiegen? Sie können sich einen solchen Diskurs vorstellen? Sie freuen sich darauf, in großer Offenheit, im Einklang mit sich selbst, und mit Freude und Witz die grundlegenden Probleme unserer Zeit mit anderen Menschen zu erwägen? Willkommen bei den ‹Happy few›!



Kommentare


Gedanken zu "Wissen" versus "Erwägen"

Erwägungskultur - ja, ist schon ein schöner Begriff, weckt Assoziationen zu nachdenklichem Prüfen des rechten Gewichts, rechte Hand linke Hand, spielerisches Pendeln zwischen skeptischem Denken und gefühlsmäßigem stimmig kriegen ........

Ich, Leser, bin im psychotherapeutischen Feld tätig und - auch wenn es mich an universitäre Gefilde verschlagen hat - im Grunde genommen Handwerker. Diese von Ihnen - Frau Devilder und Frau Blausonne - vorgeschlagene Erwägungskultur passt ja sehr gut zur Praxis einer bestimmten Art psychotherapeutisch zu arbeiten, auch wenn diese Art nicht gerade Konjunktur hat. Sie erinnert an sozialkonstruktionistische Ansätze des Nicht-Wissens, des Spiels mit Erzählungen und Geschichten, des «Tip on the shoulder» einer Insoo Kim Berg (Lösungsfokussierter Ansatz).

In Ihrem Plädoyer und den Fragen am Ende Ihrer Marginalie skizzieren Sie, was zu gewinnen wäre und was zu verlieren. Ich will mal aus meiner Praxis der Arbeit mit Studierenden, Auszubildenden und Klienten einen Versuch wagen: Studierenden eine Erwägungskultur anzubieten fällt aktuell recht schwer. Auch wenn sich immer wieder ein paar Unerschrockene in Seminare zu erkenntnistheoretischen Fragen der Psychotherapie einfinden (in denen übrigens auch die Texte der Bochumer Arbeitsgruppe gewürdigt und gelesen werden), so fällt das Standhalten gegenüber der geballten Ladung ‹Wissen› aus den Vorlesungen und Lehrbüchern den Betroffenen doch recht schwer. Und angesichts der erwartbaren Abfrage von Wissen in den anstehenden Prüfungen und später bei der Ausbildung zum ‹Psychologischen Psychotherapeuten› kann das Schaukeln der Gedanken eher temporär befreiend, inspirierend und manchmal sogar beglückend erlebt werden.

Auszubildende, Supervisand/inn/en in postgradualen Gängen zum/zur Psychologischen Psychotherapeutin/en erleben einerseits greifbar nur allzu oft das Scheitern des ‹Wissens› aus Lehrbüchern und konvergent predigenden Seminarleiter/inne/n. Und ziehen doch meist den Schluss daraus, dass sie die einzig richtige Lösung nur nicht einzig richtig angewandt hätten. Divergenz hat keine Konjunktur in Zeiten der empirisch validierten Behandlungsrichtlinien. Erst mal mag man sich lieber den Verheißungen der Wissenskultur hingeben als den Verlockungen der Erwägungskultur. Ja, die Auszubildenden können sich wohl nur sehr zögerlich den Gewinn des Erwägens vorstellen. Und das nimmt auch nicht Wunder angesichts der gewaltigen Werbekampagnen der Wissensvertreter/innen.

Aber auch die Klient/inn/en sind getränkt mit u.a. medial forcierten Erwartungen an das Wissen der Expert/inn/en und fordern dieses ein (was nun wieder die Auszubildenden in Bedrängnis bringt). Manchmal, wenn es gelingt Klienten zu Erwägungen einzuladen, entstehen wirklich schöne Prozesse des ‹Sich-auf-den-Weg-machens› gepaart mit Gefühlen der Selbstbemächtigung, des Auslotens von Perspektiven und der Vielfalt. Und manchmal erlebt man das Beharren auf der einen richtigen Lösung, die der Experte nicht hergibt (also unterstellte Bösartigkeit) oder nicht weiß (also Anmaßung, weil er ja gar kein Experte ist).

Happy few? Na ja, kommt drauf an wie man es dreht.

Freundliche Grüße

Peter



Erstellt: 9. Juni 2005 - letzte Überarbeitung: 22. August 2005
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