BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Lehre vom Gegenteil»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2015)
von Albertine Devilder, Henriette Orheim & Lisa Blausonne
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«Um sich eine richtige Anschauung vom Wesen der Dinge zu bilden,
muß man jedes Wort in der dem allgemeinen Gebrauch
entgegengesetzten Bedeutung verstehen.
‹Menschenfeind› zum Beispiel heißt ‹Menschenfreund›;
‹schlechter Franzose› soviel wie ein ‹guter Bürger›,
der seine Stimme gegen gewisse abscheuliche Mißbräuche erhebt;
‹Philosoph› ein ‹gradliniger Mensch›, der weiß, daß zweimal zwei vier ist, usw.»
(Nicolas Chamfort)

Einführung

Im politischen Alltag sind wir es – ganz im Sinne des obigen Aphorismus – schon seit langer Zeit gewohnt, öffentlich daher gesagten Worten nicht nur zu mißtrauen, sondern schlicht zu erwarten, daß mit deren Herbeizitieren sich in Bälde ein ‹Wesen der Dinge› eröffnen wird, das sich ‹in Wirklichkeit› als das direkte Gegenstück zu dem von diesen Worten her eigentlich zu erwartenden erweist. Nun ja, im politischen Alltag geht es um Aufmerksamkeits-Management und Deutungsmacht, und vielleicht ist das ‹Volk› im großen und ganzen so dumm oder so desinteressiert, daß es der Euphemismen und Umdeutungen geradezu bedarf, die wir aus George Orwells Roman ‹1984› kennen: ‹War is Peace›, ‹Freedom is Slavery›, ‹Ignorance is Strength›. Seltsam, wie uns diese Formulierungen berühren, wie nahe sie uns kommen, wenn wir – nachdenklich gestimmt - einen Blick auf den derzeitigen Weltenlauf werfen. Die Lehre vom Gegenteil? Könnte sein.

Ziemlich uninteressant im politischen Alltag ist nun, daß die sich in der Wortwahl offenbarende Unredlichkeit, Unehrlichkeit, Heuchelei, Scheinheiligkeit, Doppelzüngigkeit und Bigotterie oft noch als besondere politische Kunstfertigkeit der Akteure und Macher – sie tragen gerne so schöne Namen wie ‹Generalsekretär› – ausgegeben und bejubelt wird. Das ist aber, wie gerade gesagt, nicht der Rede wert, denn «es ist leicht erklärlich, daß die Unredlichen und selbst die Dummköpfe in der Welt immer besser fortkommen als die ehrlichen und die geistreichen Leute. Den Unredlichen und Dummköpfen fällt es leichter, mit dem Ton der Welt Schritt zu halten, der im allgemeinen aus Unredlichkeit und Dummheit besteht.» (Nicolas Chamfort)

‹Mit dem Ton der Welt Schritt halten›? Ist das nicht eine wunderbare Formulierung, von einem Denker, der im 18. Jahrhundert lebte? Genauer, von 1741 - 1791? Und erinnert uns dies nicht an einen Satz von Robert Musil, den er – in seinem Roman ‹Der Mann ohne Eigenschaften› –dem ‹›Propheten› Meingast in den Mund legt? «Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht!» Ach ja, besser kann man das ganze Gewese, daß Politiker veranstalten, gar nicht zusammenfassen: Tun, was (ohnehin) geschieht. Wunderbar! Endgültig!

Was wir in diesem Traktat nun beschreiben möchten, hat zwar direkt nichts mit dem politischen Alltag und dem ewigen Deutungskampf zu tun, es ähnelt diesem jedoch in wesentlichen Punkten. Denn wir, die oben genannten Autorinnen, beobachten seit Jahren bei einer ziemlich großen Zahl von Mitmenschen ein außerordentlich interessantes psychologisches Phänomen, welches sich ebenfalls als eine ‹Lehre vom Gegenteil› erweisen könnte. Schauen wir uns zunächst einige Beispiele an, die zeigen, daß auch im Alltag ganz erstaunliche Widersprüchlichkeiten zwischen Gesprochenem und Verhalten, zwischen Ankündigung und Ergebnis, zwischen Schein und Sein zu beobachten sind.


Einige Beobachtungen Das mag genügen. Weitere Exempel sind überflüssig. Das Prinzip steht.


Die Lehre vom Gegenteil

Beschreibungen

Beschreiben wir, was wir in den Beispielen sehen: Zunächst einmal sollten wir festhalten, daß es sich bei den oben skizzierten Lebensäußerungen nicht um Nachlässigkeiten, Flüchtigkeitsfehler oder allfällige Versprecher (‹slips of the tongue›) handelt, nein, hier wird etwas herzhaft und authentisch in großer momentaner Gegenwärtigkeit gesagt. Das Wort ‹momentan› ist wichtig, denn die Äußerungen beziehen sich auf eine Aktualität, wie wir gleich sehen werden.

Auffällig ist nun unbedingt, daß sich eine Lebensäußerung der oben beschriebenen Art nicht auf das eigene Tun bezieht, nicht beziehen kann, denn dies unterscheidet sich wesentlich vom Gesagten. Ja, das eigene Tun hat in ganz krasser, nicht zu übersehender Weise, mit dem Sprechen darüber nichts zu tun, zwischen dem Verhalten und der Rede über das Verhalten besteht kein Zusammenhang. Wir sollten diese Konstellation jedoch nicht als Lüge bezeichnen. Das klingt so geplant, gewollt, so attributiv an einem mutmaßlichen ‹Charakter› orientiert. Das kann uns nicht interessieren.

Wir halten lieber als Beobachtung fest, daß die sich äußernden Personen in den obigen Beispielen ganz offensichtlich keinen ‹Zugang› zu ihrem eigenen Verhalten haben, daß ihnen – punktuell zumindest – keine angemessene Selbstwahrnehmung möglich ist. Wir möchten dieses Phänomen ein mangelhaftes ‹Selbst-Monitoring› nennen. Da gibt es Personen-Systeme, die sich – punktuell zumindest – in unübersehbarer Weise nicht selbst beobachten und somit keinen Zugang zu dem haben, was sie tun. Sie können nicht aus sich hinaussteigen, um sich von einer Metaebene aus zu betrachten.

Als letzte Beschreibung möchten wir noch festhalten, daß in den Lebensäußerungen der oben aufgeführten Art oft Formulierungen erscheinen wie ‹überhaupt nicht›, ‹niemals›, ‹völlig› oder ‹immer›. Diese adverbialen Maximalia sind in der Lehre vom Gegenteil von großer Bedeutung. Offensichtlich soll es hier keinen Zwischenraum in der Bewertung geben, gewollt sind gleichsam nur Endpunkte einer Skala, und die mittleren Töne sind weggefallen. Das ist sehr interessant. Ist da so ein Schub, so eine Überzeugungs-Drängeligkeit, als wolle man über etwas zart Erahntes hinweg bügeln?


Erklärungen

Erklären wir, was wir in den Beispielen sehen: Nun, sobald es um ein ‹Drängeln› geht, womöglich noch in ganz und gar ‹unbewußter› Weise, liegt es nahe, das große und ehrwürdige Theorie-Gebäude der Psychoanalyse aufzusuchen, sich dort ein wenig umzusehen und dann nach Herzenslust zu spekulieren, welch geheime Quellen hier den Mund der Menschen bewegen. Aber das tun wir nicht. Wir ziehen auch, wie oben bereits angedeutet, keine defizitären Eigenschaften oder unlauteren Motive von Menschen heran. Nein, statt dessen, so denken wir, nähern wir uns einer möglichen Erklärung, wenn wir das oben geschilderte erste Beispiel erneut betrachten und in Gedanken etwas verändern. Schauen Sie sich den Diskurs noch einmal an, liebe Leserin und lieber Leser. Ok? Gut, und nun stellen wir uns vor, das Gespräch wäre übereinstimmend in eine Richtung gegangen, die die Erfreulichkeit des Sparens und den übergeordneten Sinn des Geizes betont hätte. Wir würden um jeden Einsatz wetten, daß die oben Erwähnte unter diesen Umständen statt eines «Ich habe noch nie auf den Preis geachtet!» ein «Ich achte auch immer auf den Preis!» geäußert hätte.

Und damit sind wir sehr nahe am Faszinosum der ‹Lehre vom Gegenteil›. Es scheint so, als ginge es bei diesen überraschenden Lebensäußerungen um soziale Zugehörigkeit, um Kräfte in einem sozialen Raum: «Ich verhalte mich so wie ihr, deswegen bin auch ich gut, bin ebenso gut, bin genau so viel wert wie ihr!» Der Selbstwert wird hier also hergestellt durch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Raum. Ein sehr schöner Gedanke. Die dem eigenen Verhalten so arg widersprechende Äußerung ist keine Lüge, keine unbewußte Drängelei, sondern eine schlichte Selbstwert-Herstellung in einem konkreten sozialen Raum, in dem soeben eine Werte-Agenda definiert wurde. Das ‹bevölkerte Selbst› (Gergen) hat sich ein ‹Volk› ausgesucht, zu dem es gehören möchte, dessen Meinung und Anerkennung ihm wichtig ist: Das Selbst möchte bewundert, geliebt, gelobt werden, es möchte dabei sein. Trägt diese so völlig einfache Erklärung? Wir denken: Ja. Nur nebenbei: Evident ist, daß sich dieser Effekt nicht ergibt, wenn jemand sich nicht zu einem sozialen Raum zählt. Dennoch wird es auch hier sehr interessante Anpassungs- und Übereinstimmungsbestrebungen geben, wie sie aus der Forensik bekannt sind. Doch das führt hier zu weit.

Wir sehen, wie die ‹Lehre vom Gegenteil› mit dem theoretischen Modell des ‹Sozialen Konstruktivismus› recht gut erklärt werden kann. Unsere Vorstellung von sozialen Räumen und Kontexten, in denen wir leben und uns bewegen, könnte theoretisch tragen. Da wir Personen als Diskursprodukte, also als ‹Personentexte› sehen, erscheint es uns ganz plausibel, daß ‹Personentexte› sich in laufende Texte einklinken, die in dem sozialen Raum aufgesagt werden, in dem sich die ‹Personentexte› eben gerade aufhalten. Ohne ein Selbst-Monitoring schlüpft ein ‹Personentext› in einem bestimmten Kontext in eine Text-Anforderungsnische, in einen Sagbarkeits-Slot, und sagt etwas, was in seinem nicht-sprachlichen Verhalten nicht zu finden ist. Und eine Minute später, wenn sich der Konnotations-Wind, wenn sich die Werte-Agenda im sozialen Raum gedreht hat, schimpft das ‹Selbst› als ‹Personentext› auf etwas, was es soeben noch gut fand. Das ‹Selbst› hält Schritt mit dem Ton des sozialen Raumes! Das ‹Selbst› hält sich also an die Devise: ‹Tun, was (ohnehin) geschieht!› Ein Bedürfnis, eine Notwendigkeit, ein Drang zum Selbst-Monitoring ist nicht zu erkennen. Die Lehre vom Gegenteil. Toll. Und der ‹Soziale Konstruktivismus› kann das erklären. Das ist doch was!


Schmankerl

Erich Fromm, der große und so oft mißachtete Gelehrte, skizziert in ‹Die Furcht vor der Freiheit› (1941/2013, S. 143f.) eine wunderbare Szene, mit deren Hilfe Sie, geneigte Leserin und unwilliger Leser, über unsere Theorie der Feldkräfte im sozialen Raum nachdenken können:
«Eine Frau hat von einer Nachbarin einen Glaskrug ausgeliehen und zerbrochen. Als sie aufgefordert wird, ihn zurückzugeben, antwortet sie: "Erstens habe ich ihn schon zurückgegeben; zweitens habe ich ihn mir nie von Ihnen ausgeliehen; und drittens war er schon kaputt, als Sie ihn mir gegeben haben."»



Ins Netz gestellt am 17. Februar 2015
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