BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skeptische Bemerkungen zu einigen beliebten Modellen der Verhaltenserklärung (1): Einführung» von Albertine Devilder
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Kommt eine Frau zum Arzt und sagt:
‹Herr Doktor, zu Hause sitzt mein Mann
und redet und redet.›
Der Arzt: ‹Ja, was redet er denn?›
Die Frau: ‹Das sagt er nicht.›

Zum einen

Eine unserer liebsten Beschäftigungen im Alltag ist das Aufsagen von Erklärungen für Verhaltensweisen aller Art. Irgendjemand hat was getan - und wir haben dazu die passenden Erklärungen. Schleichen wir uns ganz vorsichtig in die Nähe eines Küchentisches und ‹hören einfach mal rein› in das laufende Programm der Sagbarkeiten: Klar, das geht noch eine ganze Weile so weiter, aber wir haben genug gehört. Ja, die Sprachfiguren kreisen im Raum, in endlosen Wiederholungen und Variationen. Ein Panoptikum des Sagbaren.

Wenn wir uns den netten Witz anschauen, der das Motto dieser Einführung bildet, können wir uns die sehr gute Frage stellen, was wir denn so ‹sagen›, wenn wir über das Verhalten anderer Leute ‹reden›. Wir liefern im Alltag beinahe pausenlos Verhaltenserklärungen aller Art ab, nur, was sagen wir da? Auf was wollen wir hinaus? Auf was beziehen wir uns? Nun, in fast allen Fällen wissen die Redenden das nicht. Die Redenden plündern die im lokalen Sprachraum herum schwebenden ‹Verhaltenserklärungen› und ‹impliziten Theorien›, reden sie nach, sagen sie auf, ohne zu wissen, was sie da sagen. Wäre es nicht viel schöner, zu wissen, was man so sagt, zu wissen, welcher ‹impliziten Theorie› man folgt? Wäre es nicht viel schöner, das ‹implizite› explizit zu machen? Das ist das eine.


Zum anderen

Wenn wir über andere Menschen, oder über uns selbst, sprechen, ist es ganz und gar unmöglich, sich in keinem Modell, in keinem theoretischen Gerüst von Verhaltenserklärungen zu bewegen. Man kann nicht kein Modell, keine Theorie haben. Klar, wenn man sich nicht auskennt und die folgenden Traktate über einige beliebte Modelle der Verhaltenserklärung nicht gelesen hat, dann ist gut zu beobachten, wie die Redenden zwischen den verschiedenen Modellen hin und her springen und gelegentlich auf grandiose Modell-Kombinationen und Collagen kommen, die noch von keinem Modell erfaßt wurden. Das ist nett. Aber die Vorstellung, zu wissen, wovon man spricht, in welchem geschichtsträchtigen Modell von Verhaltenserklärungen man sich gerade bewegt, welche erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen erfüllt sein müßten, um so reden zu können und zu wissen, wie kühn man unter Umständen die engen Grenzen des Modells überschreitet, kurz, die Vorstellung also, daß es ohne Modelle gar nicht geht, erscheint mir sehr angenehm. Das ist das andere.


Zum dritten

In der Rubrik ‹Wahrheiten und Wirklichkeiten› des Skepsis-Reservates gibt es unter der sammelnden Überschrift ‹Perspektiven einer sozialkonstruktivistischen Psychologie› eine ganze Reihe von Beiträgen, in denen Autoren und Autorinnen der Bochumer Arbeitsgruppe aus verschiedenster Perspektive das erläutern, was uns am Herzen liegt: Eine postmoderne Psychologie, die mit ihrem systemischen und konstruktivistischen Anspruch viele Mängel und Schwächen traditioneller Modelle der Verhaltenserklärung überwinden und transzendieren soll. Wir haben das Modell, mit dem wir uns in Alltag und Wissenschaft beobachtend den Menschen nähern, schon ziemlich weit entwickelt und haben dessen Grenzen und Konsequenzen erwogen. Wir haben unsere ‹implizite› Theorie explizit gemacht. Und natürlich glauben wir, daß unser Modell einer Psychologie wesentlich andere Handlungsmöglichkeiten erlaubt, als traditionelle Modelle. Nur, das haben wir bisher in Bezug auf die traditionellen Modelle noch nicht angemessen begründet. Und das ist nun der dritte Grund, diese kleine Reihe von Traktaten zu verfassen: Wir möchten gerne einige gängige und beliebte Modelle der Verhaltenserklärung, die in keinem ‹Küchen-Diskurs› fehlen, skeptisch beleuchten und zeigen, welche Konsequenzen sich aus ihnen ergeben.


Verhaltenserklärungen und das Bild vom Palimpsest

Wenn wir uns herkömmliche Verhaltenserklärungen in Alltag und Wissenschaft ansehen, dann drängt sich ein Bild auf, welches ‹psychologische› Erklärungen trefflich charakterisiert, das Bild vom Palimpsest. Ein Palimpsest (griechisch: ‹wieder abgekratzt›) ist ein altes Schriftstück, eine Handschrift (z.B. aus Papyrus oder Pergament), auf dem man, um Papier zu sparen, die ursprüngliche alte Schrift gelöscht oder ausradiert und eine neue Schrift aufgetragen hat.

Dies Bild des Palimpsest paßt nun ganz wunderbar zum Selbstverständnis der traditionellen Psychologie in Alltag und Wissenschaft, die nämlich ganz offensichtlich die Person als Palimpsest sieht! Die Oberfläche einer Person, die derzeit sichtbare Schrift, ist das ‹Verhalten›, das Sagbare und Zeigbare in aktuellen kommunalen Systemen. Nur, dafür interessiert sich die Psychologie nicht, denn sie möchte daran glauben, daß unter dem Sagbaren und Zeigbaren das ‹Eigentliche›, die alte Schrift, die zu erkennende und zu entdeckende Person schimmert. Die traditionelle Psychologie in Alltag und Wissenschaft bemüht sich also, das Sagbare und Zeigbare von Personen, die Kulturoberfläche, das vielen Personen gemeinsame, das ‹triviale›, ‹uninteressante›, ‹gewöhnliche›, ‹kommunale› abzuwischen und wegzukratzen, ja, zu ignorieren, um an die Spuren der ursprünglichen Schriften heranzukommen, an das eigentliche Individuum. Was jemand tut? Ach Gott, uninteressant! Aber warum er das tut! Da wird es spannend!

Wie wir in unserem Arbeitspapier Nr. 11 gezeigt haben, wird in den verschiedenen Kulturepochen nach einem jeweils anderen ‹Eigentlichen›, nach einem jeweils anderen die Person bestimmenden Inhalt gesucht. Und die Psychologie kann auf ihrer Suche nach dem Eigentlichen, nach dem in der Person schlummernden und das ‹Verhalten› verursachenden Mysterium, selbstredend die von der jeweiligen Kultur vorgegeben Bahnen der Plausibilität nicht verlassen. Auch Forscherinnen existieren durch ihr Hineingeborenwerden in eine bestimmte Kulturepoche und in eine bestimmte Gemeinde von Wissenschaftlerinnen zu einem großen Teil, bevor sie selbst als Person zum Zuge kommen. Keiner kann z.B. in einer bestimmten Kulturepoche Professor für Psychologie werden, wenn er den Menschen seiner Gemeinde nicht das erzählt, was sie schon immer gewußt oder zumindest geahnt haben.

Schauen wir noch einmal näher hin, denn es ist schon seltsam. Die Psychologie versucht - sich in den Gemeinsamkeiten einer Kultur bewegend - die in eben dieser Kultur entstandenen Gemeinsamkeiten von Menschen zu ignorieren. Und sie glaubt, während ihrer Untersuchungen und Erforschungen, selbst von den Kultur-Trivialisierungen nicht behelligt zu werden und den eigentlichen Inhalt, der die Personen zu Personen macht, entdecken zu können. Und um dies Eigentliche entdecken zu können werden komplizierteste und geheimnisvollste statistische Methoden angewandt, die die kulturelle Imprägnierung abwaschen sollen. Komisch? Komisch!

In unserem Arbeitspapier Nr. 11 haben wir drei wesentliche Unterscheidungen getroffen: Romantik, Moderne und Postmoderne. Nun, Modelle wie unsere ‹sozial-konstruktivistische› Psychologie, die nur in der Postmoderne entstehen konnte und entstanden ist, haben wir in unserer großen Rubrik ‹Perspektiven einer sozialkonstruktivistischen Psychologie› im Skepsis-Reservat skizziert. Was fehlt, sind Modelle der Verhaltenserklärung, wie sie in Romantik und Moderne entstanden sind. Dieser kulturphysiognomische Blick ist sehr spannend, denn zu verschiedenen Zeiten geraten eben verschiedene kulturell definierte psychische ‹Gegenstände› in den Aufmerksamkeitsbereich der Wissenschaft Psychologie. Oder anders: In unterschiedlichen Kulturepochen werden unterschiedliche Texte über Menschen aufgesagt.

In dieser Reihe von Traktaten werden wir die wesentlichen Textgattungen aus Romantik und Moderne vorstellen und insbesondere zu erwägen suchen, was sich daraus ergibt, wenn man diese Texte nachspricht. Es ist schön, zu wissen, was man sagt, wenn man redet.



Erstellt: 25. November 2005 - letzte Überarbeitung: 25. November 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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