BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Unerfreuliche Gespräche»
von Albertine Devilder
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Was der Fall ist
Zersetzende Macht des Gesprächs.
Man begreift, warum das Meditieren
wie die Tat Schweigen braucht.
(Emile Michel Cioran)

Was liegt näher als zu sprechen? Was ist wünschenswerter, als mit anderen Menschen zu sprechen? Was ist schöner, als sich mit anderen in Gesprächen zu finden? Doch, warum sind wir so oft traurig und verstimmt nach Gesprächen mit Mitmenschen? Was stimmt nicht an dem, was nicht stimmte? Warum sind wir - nun ja - so oft unglücklich nach einem Gespräch, während sich unsere ‹Gesprächspartner› offensichtlich und ausgesprochen gut ‹unterhalten› haben? Gute Frage, und ziemlich leicht zu beantworten. Schauen wir uns zur Einführung Bereiche des sozialen Wortwechsels an, um die es in diesem Traktat nicht geht:


Diskussionen und Dispute
Wir lernen disputieren - leider nur,
um zu widersprechen.
(Michel de Montaigne)

In unserem Arbeitspapier Nr. 5 haben wir zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsphase genau zweiundvierzig verschiedene Skriptarten oder Skriptgattungen und damit so ungefähr alles in Diskussionen Sagbare gesammelt, zusammen gestellt und geordnet. Mögen auch etliche Sprachfiguren heute etwas antiquiert klingen, so ist die Logik des Diskutierens - des Widersprechens also - doch immer noch unverändert. Diskussionen, insbesondere im TV, sind fast nie ein ‹Meinungsaustausch› oder eine gemeinsame Suche nach Möglichkeiten, die Welt zu sehen, sondern fast immer ein Streitgespräch und Wortgefecht, in dem standardisierte Worthülsen von gut gekleideten Vertretern unter Anleitung einer ‹Sonnenhüterin› eindringlich vorgetragen werden. Das ist für eine ‹Gesellschaft des Spektakels› wichtig, für uns aber uninteressant, denn in Diskussionen dieser Art geht es nicht um Wahrheit und Ethos, sondern um Macht, Sieg, Häme und Krieg. Wir können also mit dem Aphorismus von Michel de Montaigne «Die meisten Disputationen gehören - wie alle anderen Verbalinjurien - verboten und bestraft» weiter gehen und uns um das kümmern, was wir hier untersuchen wollen:


Unerfreuliche Gespräche
Im Umgang mit anderen
wollen wir immer nur
unsere Ware loswerden.
(Michel de Montaigne)

Schauen wir uns ‹Gespräche› an, die wir selbst initiieren oder in die wir ‹verwickelt› werden. Von wenigen überaus erfreulichen Ausnahmen abgesehen, sind wir im Alltag auch nach Gesprächen mit Verwandten, Bekannten oder Freunden nicht besonders gut gestimmt. Wohl gemerkt, wir sprechen jetzt ausdrücklich nicht über die oben hingetuschten Diskussionen und Disputationen, nein, auch in sogenannten ‹Gesprächen› erfahren und erleben wir sehr oft nicht das, was wir uns erhofften. Und was erhofften wir uns? Dazu später mehr. Und was erfahren wir in Gesprächen des Alltags? Dazu dies:

Ich habe in den letzten Wochen verschiedene Beobachtungen zusammen getragen. Überraschend für mich war, wie eindeutig die von mir erhobenen Befunde über verschiedene Situationen und Personen hinweg konvergierten. Alter, Geschlecht und Bildung spielten eine Rolle bei den Gesprächsinhalten, kaum jedoch bei dem, was ich im folgenden als die vier Bestimmungsstücke eines unerfreulichen und somit überflüssigen ‹Gespräches› skizzieren möchte:
Fazit

Helmut Hansen hat in seinem Traktat mit dem Titel ‹Als ‹Ich› in der Dienstleistungsgesellschaft› die wesentlichen ‹Ich›-Mythen der Postmoderne zusammen gestellt und mit dem sehr schönen Etikett ‹offensive Autopoiese› versehen. Dieser Begriff ist wahrlich gut gewählt. Und er erleichtert es uns, unsere Beobachtungen in unerfreulichen Gesprächen zusammenfassend ausdrücken zu können.

Da sprechen also zwei oder mehr Leute miteinander, aber sie sprechen eben nicht miteinander, denn einer dominiert mit einem nervigen Monologisieren, mit apodiktischen Urteilen oder sinnlosem, wahllosem, automatischen Widersprechen. Einer im sozialen Raum des Gespräches nimmt sich das für ihn wohl selbstverständlich erscheinende Recht, den Diskurs nach seinen Gewohnheiten gestalten zu dürfen - und der oder die anderen sind keine ‹Gesprächspartner›, nicht einmal ‹Gesprächsteilnehmer› oder ‹Gesprächssteilhaber›, nein, sie sind Staffage und werden geduldet als Claqueure.

Deswegen möchte ich Helmut Hansens Begriff von der ‹offensiven Autopoiese› erweitern und verschönern durch die Rede vom ‹apodiktischen Solipsismus› und von der ‹apodiktischen Autopoiese›. Hach, wer auch nur einmal zum Beispiel einen Nachmittag mit einer älteren Lady verbracht hat, die in einer endlosen Redeflut alle Merkmale eines für uns unerfreulichen Gespräches vorführte und sich dabei offensichtlich sehr wohl fühlte, der wird für die Wortschöpfung dankbar sein: ‹Apodiktische Autopoiese›! Ja! Jetzt haben wir wenigstens ein Wort für das, worunter wir leiden!


Ausblick
Groß betrachtet ist alles Gespräch
nur - Selbstgespräch.
(Christian Morgenstern)

Was kann ein Gespräch leisten, wozu kann es führen? Sollen wir dem radikal-skeptischen Nominalisten Maurice Maeterlinck vertrauen, der der Sprache nicht traut? «Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte können die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z.B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen.» Ja, da stimme ich aus vollem Herzen zu. Und wenn ich dennoch mit jemandem sprechen möchte?

Oder sollen wir Arthur Schopenhauer vertrauen: «Jede Gemeinschaft mit Andern, jede Unterhaltung, hat nur Statt unter der Bedingung gegenseitiger Beschränkung, gegenseitiger Selbstverleugnung; daher muß man in jedes Gespräch sich nur mit Resignation einlassen.» Sollte es nicht möglich sein, Gespräche zu führen, aus denen man ohne Resignation, ja gleichsam bereichert und erfrischt heraus kommt? Doch. Das wäre ein ideales Gespräch.

Und was wäre ein ideales Gespräch? Nun, ein wechselseitiges Geben, ein Schenken, ein Verschenken von Sprachfiguren, Ideen und Weisen der Welterzeugung. Denn was ist schöner, als mit Menschen, die man schätzt, sprechend das Große und Eigentliche zu suchen? Wunderbares Versprechen des Gesprächs: Suchen, sehnen, forschen, die Welt beschreiben, umschreiben, erfinden - mit Worten. Das Gespräch als Oase, als Sanktuarium, als Zufluchtsort und Freistatt? Ja.

Und wenn Christian Morgenstern im Motto zu diesem Absatz sagt «Groß betrachtet ist alles Gespräch nur - Selbstgespräch», zeigen sich sogleich die Möglichkeiten, die zu einem gelungenen, befriedigenden Gespräch führen können. Es geht darum, den ‹anderen› in seinem ‹Selbstgespräch› zu unterstützen durch Bekräftigungen und Stichwortgebungen aller Art, und ihn dann im Rahmen eines wohl gestalteten ‹turn-takings› am eigenen Selbstgespräch teilhaben zu lassen, indem man ihn und seine Weise der Welterzeugung in das eigene Verfertigen von Worten einbezieht.

Ach! Wunderbares Versprechen des Gesprächs.



Erstellt: 21. April 2006 - letzte Überarbeitung: 25. April 2006
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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