BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Über die Suprematie des Unwesentlichen»
von Helmut Hansen
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Denn es stellt sich leider heraus,
daß der Mensch ein unheilbar urteilendes Wesen ist.
Er ist nicht bloß genötigt, sich gewisser ''allgemeiner'' Maßstäbe zu bedienen,
die gleich schlechten Zollstöcken sich bei jeder
Veränderung der öffentlichen Temperatur vergrößern oder verkleinern,
sondern er fühlt außerdem den Drang in sich,
alle Tatsachen, die in seinen Gesichtskreis treten,
zu interpretieren, zu beschönigen, zu verleumden,
kurz, durch sein ganz individuelles Urteil zu fälschen und umzulügen,
wobei er sich allerdings in der exkulpierenden Lage
des unwiderstehlichen Zwanges befindet.
(Egon Friedell)»

Einführung

Die Weisen der Welterzeugung, die mit der Ideologie eines ‹Sozialen Konstruktivismus› einher kommen, öffnen uns die Augen für mancherlei spannende Beobachtung in unserem überschaubaren Leben. So gibt es in diesem Skepsis-Reservat schon einige Texte, die – zusammen genommen – eine kleine Psychologie des Alltags entwerfen könnten. Hier nur einige Beispiele:

Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne haben in ihrem Essay ‹Die Lehre vom Gegenteil› beschrieben, wie wir – nicht nur in der Politik – immer wieder mit Äußerungen konfrontiert werden, die die Wirklichkeit einfach nicht treffen. So schildern sie zum Beispiel Leute, die ständig vor dem TV sitzen, und uns dennoch mit Inbrunst den mit adverbialen Maximalia versehenen Satz an den Kopf werfen «Also ich gucke mir eigentlich nie was im TV an!» Erstaunlich? Nö.

Albertine Devilder hat in ihrem Traktätchen über ‹Unerfreuliche Gespräche› trennscharf analysiert, wie weit es die Ich-Monster der Postmoderne in Situationen des sozialen ‹Austauschs› schon gebracht haben, wenn sie – wieder einmal – uns durch ein die Nerven rauben und unsere Freude an saumseligen Diskursen zerpatschen.

Albertine Devilder zeigt in einem anderen kleinen Essay über den postmodernen Gesprächsalltag, wie die Diskurse unserer Kulturinsassen auf dem Entwicklungsniveau von 12-jährigen Kindern stehen geblieben sind. Ja, das ist ‹wirklich› eine sehr nette Beobachtung. Kein Wunder also, daß Deutschland in seinen ‹Bildungsbemühungen› – nach allen möglichen Kriterien beurteilt – im europäischen Vergleich weit zurück gefallen ist.

Und Artus P. Feldmann hat in seinem Essay über die ‹Philosophie des Als ob› gezeigt, wie weit in der alltäglich-unerträglichen politischen Rede der Postmoderne Signifikat und Signifikant auseinander fallen, und wie die einschlägig bekannten Wichtigkeitswichtel sich vermutlich immer wieder darüber kaputt lachen, mit wie einfachen Signifikanten (also den Ausdrucksseiten sprachlicher Zeichen, den Namen, den Worten, den Etiketten) sie auf diametral entgegengesetzte Signifikate (also den Inhalt eines sprachlichen Zeichens, dem Gemeinten, dem, auf das verwiesen werden soll) zeigen können, und keiner merkt es. Keiner? Doch, Soziale Konstruktivistinnen. Wir sehen, daß Politiker ‹tun, was ohnehin geschieht›. Aber selbst dieses Tun erweist sich als ein ‹Als ob›. Nicolas Chamfort sagte es Ende des 18. Jahrhunderts so: «Es ist leicht erklärlich, daß die Unredlichen und selbst die Dummköpfe in der Welt immer besser fortkommen als die ehrlichen und die geistreichen Leute. Den Unredlichen und Dummköpfen fällt es leichter, mit dem Ton der Welt Schritt zu halten, der im allgemeinen aus Unredlichkeit und Dummheit besteht.»


Entscheiden und Unterscheiden

Wenn der von der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› überaus hoch geschätzte Egon Friedell in dem eingangs zitierten Motto sagt, daß Menschen in ihrem Meinen und Urteilen über die Wirklichkeit einen «Drang verspürten, Tatsachen, zu interpretieren, zu beschönigen, zu verleumden, zu fälschen und umzulügen», um eine Passung herzustellen zu der von ihnen in ihrem sozialen Raum zu erwartenden ‹Wirklichkeit›, dann stellt sich die spannende Frage, warum fast alle Menschen dazu neigen, sich mit unwesentlichen Entscheidungen zu befassen. Klar, jeder Mensch behauptet, permanent ganz individuelle Entscheidungen zu treffen, doch Entscheidungen setzen Unterscheidungen voraus, also das Behaupten von Unterschieden, die für die betreffende Person einen Unterschied machen. Fragen wir noch einmal: Wie kommt es, daß fast alle Menschen in ihr Leben Unterschiede implementieren, die für sie eigentlich keinen Unterschied machen?

Sind sie neugierig geworden, liebe Leserin, lieber Leser? Ok, dann können wir weiter gehen und erwägen, was für diese gewagte These spricht.


Die Suprematie des Unwesentlichen

Alle empfindsamen Menschen ahnen oder wissen, daß das politische Tagesgeschäft darin besteht, Unwesentliches zu sagen und das Wesentliche zu verschweigen. Heute morgen hörte ich im Radio, daß irgendein Wichtigkeitswichtel gesagt habe, «jetzt ginge es um die Geschlossenheit und Einigkeit der Partei!» Nun, das erinnert an den Diskurs über Sekundärtugenden in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Und dies zu Recht. Denn Geschlossenheit und Einigkeit kann man auch innerhalb einer Bande von Schwerverbrechern verlangen. Wir sehen auf Anhieb: Die Worte ‹Geschlossenheit› und ‹Einigkeit› zeigen zunächst auf gar nichts, und vor allem zeigen sie nicht auf das, um das es geht, auf das Ziel, auf das, worauf man hinaus will!

Nehmen wir noch ein anderes Beispiel aus der Politik, welches das Prinzip des Unwesentlichen anmutig illustrieren kann. Seit Monaten nun schon verlangen die ‹Herren des Wörterbuchs› von den von ihnen abhängigen Politikern und den in den finalen Kapitalismus eingebetteten Journalisten, eine sogenannte ‹Linkspartei› zu verteufeln und deren Anführer als Demagogen und bösartige Charismatiker hinzustellen. Das ist für den finalen Kapitalismus sehr wichtig, denn die ‹Linken› zeigen auf all die Verwerfungen, die der finale Kapitalismus mit sich bringt. Henriette Orheim und Helmut Hansen beschreiben in ihrem Essay «Abschied von den ‹Nachrichten›» sehr schön, wie Politiker und Journalisten täglich sagen und schreiben müssen,
«daß ‹im Einzelfall› jetzt eine Entlassung, eine Preiserhöhung, eine Schlechterstellung, eine Lohnsenkung, eine Verarmung zwar nicht so leicht zu verkraften sei, daß man aber im Großen und Ganzen doch sehen müsse, daß diese Entwicklung gut für uns alle sei. Dieser Duktus ist in fast jedem Medium völlig gleich. Die Hauptaufgabe von postmodernen Journalisten ist es, der immer größer werdenden Zahl von armen Kulturinsassen zu erklären, daß alles in Ordnung sei, wenn die Arbeitnehmer in Deutschland sich an fernöstlichen Löhnen zu orientieren hätten und die Manager an amerikanischen Gehältern.»
Wenden wir uns nun von der Schaubühne der Politik ab – auch wenn es schwer fällt – und schauen auf unseren Alltag. Sogleich fällt uns eine Fülle von Beispielen ein, in denen das Prinzip des Unwesentlichen gefeiert wird. Nehmen wir nur einige wenige, die wir bestimmten inhaltlichen Gruppen zuordnen: Genug. Wenn Sie, geneigter Leser, geneigte Leserin, sich ein wenig umschauen in ihrem persönlichen Alltag, dann werden Sie überrascht sein, wie viele der vielen Entscheidungen und Unterscheidungen, die Sie – und viel öfter andere für Sie – treffen, gänzlich unwesentlich sind. Diese Erkenntnis könnte eine große Befreiung für Sie werden.


Vom Prinzip des Wesentlichen

Geneigter Leser, geneigte Leserin, wie Sie sehen, habe ich in den obigen Beispielen die eigentlich erforderlichen ‹wesentlichen› Gegensätzlichkeiten nicht skizziert. In einer früheren Version dieses Traktates hatte ich gar die Absicht, überhaupt nicht auf die kontrastierend wesentlichen Unterscheidungen zu zeigen, sondern deren Erfindung Ihnen zu überlassen. Nun, das wäre echt eine sehr coole Geste gewesen, doch haben einige mir geneigte Freundinnen mich davon überzeugt, daß es besser wäre, das Prinzip des Wesentlichen an Hand der oben genannten Beispielgruppen heraus zu arbeiten und bestrickend zu beleuchten.

Ausblick

Wenn man sich erst einmal auf den Blickwinkel, die Weltsicht eingelassen hat, daß die Suprematie des Unwesentlichen allumfassend ist, wird man immer mehr schöne und einleuchtende Beispiele bei sich und anderen entdecken, die dem Prinzip des Unwesentlichen folgen könnten. Und wie angenehm ist es dann, sich zu überlegen, welche Unterscheidung in eben diesem einen Fall die wesentliche wäre! Ja, man könnte ‹Wesentlichkeits-Partys› veranstalten, um sich im allgemeinen Trubel und bei Speis und Trank von einigen Unwesentlichkeiten zu verabschieden und dem Lockruf des Wesentlichen zu folgen.

Den ganz wenigen Lesern und Leserinnen, die dieses Traktätchen bis hierhin gelesen und immer noch ein seltsames Gefühl bei dem Gedanken haben, zwischen wesentlichen und unwesentlichen Unterscheidungen unterscheiden zu müssen, gebe ich noch einen Aphorismus unseres geliebten Egon Friedell an die Hand, der in aller Kürze und in großer Eleganz das beim Namen nennt, was ich im wesentlichen in diesem kleinen Essay sagen wollte:
«Der Unterschied des Künstlers von den übrigen Menschen besteht darin, daß er die Dinge nicht auf ihre Nützlichkeit hin ansieht, sondern auf ihr Wesen.»




Erstellt: 6. September 2008 – letzte Überarbeitung: 15. September 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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