BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Über Verzweiflung»
von Helmut Hansen
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«Wir sehen vermittels der Sprache.
Das Wort isoliert, definiert, erschafft die Grenzen des Gegenstands.
Willkürlich und flottierend zergliedert die Sprache die Welt.»
(Siri Hustvedt)

In den letzten Monaten haben die Autoren und Autorinnen des Skepsis-Reservates wieder zu einigen genuin sozial-konstruktivistischen Themen gefunden. So beschreibt Albertine Devilder in ihrem Essay vom ‹Faktenkerker› ihr Unbehagen angesichts der ‹überflüssigen und nichts sagenden und in einer schlichten Sprache daher kommenden Wirklichkeits- und Wahrheitsbehauptungen›, denen sie sich bei Menschenversammlungen aller Art ausgesetzt sieht. Was sie immer wieder vermißt, ist eine skeptizistische Erwägungskultur, oder zumindest doch hin und wieder einmal einen Ruf aus übervollem Herzen: «Es könnte doch auch ganz anders sein!»

Nein, dieser sozial-konstruktivistische Hauptsatz ist bei unkonstruktivistischen Menschen mit ihrem ‹abschließenden Vokabular› (Richard Rorty) leider nur selten zu hören. In ihrem Essay über ‹Konstruktivismus und der ‹gesunde› Menschenverstand› hat Albertine die Distanz zwischen einer naiv-realistischen und einer sozial-konstruktivistischen Position näher beschrieben und klar gemacht, wie verfahren die Lage für einen naiven Realisten ist, wenn er spürt, daß die Worte, die Begriffe, die Metaphern, mit denen er in die Welt zielt, diese nicht treffen. Und wenn dazu seine Einbettung in seine sozialen Räume ihm so selbstverständlich und unzweifelhaft erscheint, daß er an eine Veränderung des alltäglich bedenkenlos Hingenommenen gar nicht zu denken wagt, dann kann und wird der naive Realist verzweifeln.


Ein verzweifelter ‹gesunder› Menschenverstand

«Am unverständlichsten reden die Leute daher,
denen die Sprache zu nichts weiter dient als sich verständlich zu machen.»
(Karl Kraus)

«Die meisten Menschen sprechen nicht, zitieren nur.
Man könnte ruhig fast alles, was sie sagen,
in Anführungsstriche setzen;
denn es ist überkommen,
nicht im Augenblick des Entstehens geboren.»
(Christian Morgenstern)

Wir müssen die – angesichts seiner Verzweiflung – aussichtslose Lage des naiven Realisten mit seinem so gelobten ‹gesunden› Menschenverstand noch etwas näher skizzieren, um uns in die schreckliche Verlorenheit und Verlassenheit seiner Psyche einfühlen zu können.

In meinem Essay ‹Über die Suprematie des Unwesentlichen› habe ich verschiedene Bereiche des Alltags aufgezählt, in denen Menschen im Alltag zu unwesentlichen Unterscheidungen neigen, also zu denen, die am Kern ihres Lebensproblems vorbei gehen. Die soziale Konstruktion des eigenen Lebens und die nachgelebten Lebensregeln nicht als Zurichtung zu empfinden, sondern als Ausdruck des eigenen freien Willens, das ist die tragischste Komponente eines ungelebten Lebens. Ich will nur ein Beispiel nennen: Eine unwesentliche Unterscheidung führt zu der Frage, welches Reiheneigenheim man sich soeben noch leisten könne; eine wesentliche Unterscheidung dazu, ob man sich ein solches überhaupt leisten möchte. Andere Beispiele funktionieren nach eben diesem Muster.

Ein weiteres und zutiefst bedrückendes Problem besteht darin, daß zwei Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand fast nie über das sprechen, über das sie aus psychohygienischen Gründen sprechen sollten und müßten. Wenn das Unwesentliche regiert, das Wesentliche unwissentlich ausgeklammert wird, wenn die soziale Zurichtung gar nicht als solche empfunden wird, wenn das Gelebte und Gesagte selbstverständlich ist und in Sprechblasen aus dem Ozean des Plausiblen empor steigt, dann zeigt sich die sich entwickelnde Lebens- und Beziehungs-Tragik darin, daß man nicht miteinander spricht. Denn es ist ja alles gesagt. Immer.

Falls man überhaupt miteinander spricht, dann klebt man fest in ‹Unerfreulichen Gesprächen›, wie es Albertine Devilder untersucht hat: ‹Monologisieren, Apodiktisch Urteilen, Widersprechen, Keine Reversibilität zulassen›. Und überhaupt: Wie soll man sprechen? Und worüber? Was gibt es denn zu sagen? Eine Frau sagte mal in einer psychotherapeutischen Sitzung auf die Frage, warum sie mit ihrem Mann nicht spreche: «Ich weiß doch, was der sagt.» Und damit ist alles gesagt.

Die Konsequenz aus diesem unwissentlichen Defizit (und vielen anderen) ist, eines Tages in einem noch nicht abbezahlten Reiheneigenheim aufzuwachen und verzweifelt zu sein, obwohl man doch – so wie die anderen – ‹alles richtig gemacht hat›.

Erschwerend kommt hinzu, daß das Selbst-Beobachtungssystem von Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand so schwach entwickelt ist, daß sie haarsträubende Widersprüchlichkeiten bezüglich ihres Verhaltens locker in einem Satz unterbringen können. Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne beschreiben in ihrem Essay diese erstaunliche Lehre vom Gegenteil, die uns immer wieder begegnet. Wir müssen uns also nicht nur fragen, wie jemand aus einer Verzweiflung herausfinden soll, wenn er doch nur das getan hat, was alle tun, sondern auch, wie jemand aus einer Verzweiflung herausfinden soll, wenn er sich bei dem, was er sagt und tut, nicht zusehen kann.

Und da ist noch ein Punkt (neben vielen anderen, auf die wir hier nicht eingehen können): Wenn wir uns, wie es Albertine Devilder in ihrem Essay zu ‹Piagets ‹konkret-operationaler› Entwicklungsphase und dem postmodernen Gesprächs-Alltag› getan hat, einmal die Qualität der Gespräche ansehen, denen wir im Alltag des ‹gesunden› Menschenverstandes ausgesetzt sind, dann stellen wir fest: «90 % der Erzählungen bestehen aus dem Aufzählen konkreter Ereignisse oder aus dem Berichten über konkrete Operationen, mit den dazugehörigen nachgespielten Intonationskonturen und paralinguistischen Merkmalen. 90 % unserer Mitmenschen schaffen es also nicht, sich bei ihrem Bericht von konkreten Ereignissen zu lösen.»

Halten wir fest: Geknechtet von einer Suprematie des Unwesentlichen, eingebunden in unerfreuliche Gespräche, nicht in der Lage, Ereignisse aus dem eigenen Lebensbereich abstrakt zusammenfassen und beleuchten zu können und ohne ein ausgeprägtes Selbstbeobachtungssystem steht eine normale Kulturinsassin vor dem ergreifenden Erlebnis, daß die Wörter, mit denen sie die Welt zu greifen versucht, nicht greifen.

Und dies ist die wichtigste Frage, die daraus folgt, dies ist der Kern meines kleinen Essays: Wo soll denn Verzweiflung entstehen, wenn nicht in der Normalität, in der Selbstverständlichkeit, in der Kommunikationsunfähigkeit, in der Sprachlosigkeit, kurz, in einer plausiblen Welt? Wo wird denn schon eine ganze Familie ‹ausgelöscht›, wenn nicht in einem Reiheneigenheim? Und wer ‹löscht› denn schon seine ganze Familie aus, wenn nicht ein überaus achtbarer, untadeliger, freundlicher, höflicher, hilfsbereiter und unauffälliger Mensch, der nie Ärger gemacht hat, ein ganz normaler Mensch also ‹wie du und ich›, der immer freundlich gegrüßt hat, sich dem TV ergab und sein Weltwissen der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes entnahm?

Ja, ich möchte dies betonen: Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß jemand, der etwa die ‹Süddeutsche Zeitung› liest, wirklich liest, seine neugeborenen Kinder aus Verzweiflung in einer Kühltruhe begräbt. «Ethik und Ästhetik sind Eins». (Ludwig Wittgenstein; Tractatus 6.421)


Auswege

«Welch ein Unterfangen, sich hinter Worten verstecken zu wollen!
Man ist ja - diese Worte selbst.»
(Christian Morgenstern)

«Das ist die Kühnheit der Sprache an sich.
Sie hält etwas fest, was eigentlich weiter will.»
(Martin Walser)

Paul Watzlawick hat in einem seiner konstruktivistischen Bücher eine wunderschöne Beschreibung geliefert, wie der ‹gesunde› Menschenverstand aus unklaren Situationen und aus Verzweiflungen herauszufinden versucht: Mit einem ‹Mehr Desselben›. Wenn ein Ruderer auf einem Fluß in eine ungünstige Strömung gerät, wird er versuchen, immer schneller und immer kräftiger zu rudern, wird er sich bemühen, immer weiter dasselbe zu tun, um einem Unheil zu entgehen. Wenn also ein Mensch mit einem ‹gesunden› Menschenverstand in eine Sackgasse seines Lebens gerät, wird er immer mehr plausible Ratschläge einholen, immer weiter der vermeintlichen Weltabbildung von Wörtern vertrauen, ja, sich immer weiter und vehementer hinter Worten zu verstecken versuchen, und dabei immer verzweifelter gegen die den Weg verschließende und die Welt da draußen versperrende Wand anrennen.

Und dies erinnert an meinen Essay über den ‹Sisyphos des Konkreten›: «Ein Sisyphos des Konkreten spielt Sisyphos, um der ‹Unermeßlichkeit› dieser Welt zu entgehen. Er bleibt im Konkreten der Fakten stehen, er schiebt die Brocken seiner Wirklichkeit täglich seine Wirklichkeitsschräge hinauf, in der einen Hoffnung, mit der grundsätzlichen Sinn- und Aussichtslosigkeit seines so kontrollierten Daseins nicht konfrontiert zu werden. Ja, ein Sisyphos des Konkreten glaubt gar, durch die tägliche Kontrolle aller relevanten Fakten bliebe er von den unendlich wiederkehrenden Qualen des Sisyphos verschont. Das Gegenteil ist der Fall. Da beginnen sie erst.»

Vielleicht ahnt ein Mensch mit einem ‹gesunden› Menschenverstand in einer der wenigen Sternstunden seines Lebens, daß das Beharren auf Fakten, das Hinzufügen von Regeln, die Verstärkung jedweder Kontrolle, das Hineinschlüpfen in die ihm nahe gelegte sozial konstruierte und plausibel erscheinende Wirklichkeit ihm nichts nützt, nichts nützen kann, denn der Ozean des Konkreten kann keine Rettung bieten, da es in ihm nur Rettungsbojen gibt, die auf die Konkretizismen und Fakten verweisen, auf Grund derer man gerade im Ozean des Konkreten ertrinkt.

Und die Rettungsbojen des Abstrakten werden übersehen. Und wenn sie nicht übersehen werden, dann werden sie – in eben diesem Moment des Ertrinkens – als Zumutung empfunden. Ja, der ‹gesunde› Menschenverstand kann sich empören und böse werden, daß ihm in seiner verzweifelten Lage solche Abstrakta entgegen schwimmen. Er möchte in seiner letzten Stunde nicht noch von philosophischen Übertriebenheiten belästigt werden. Er weiß ja nicht, daß ein Sisyphos des Großen und Ganzen auch scheitert. Nur anmutiger. Und mutiger.



Kommentare:


26. November 2008

Lieber Helmut,

Dank für Deinen sehr klaren Artikel über ‹Verzweiflung›. Ich habe schon sehr oft darüber nachgedacht, warum Menschen dazu neigen, das zu machen, was andere aus ihrem sozialen Raum auch machen, um es dann als eine eigene Entscheidung auszugeben. Und in fast allen Räumen geht es um Konkretizismen, um Fakten, die, da ‹man ja nicht blöd ist›, immer wieder zu beachten sind. Natürlich erschöpfen sich diese Fakten heute in Ranglisten, Preisen, Schulnoten, Zahlen. Und so hast Du bestimmt Recht, wenn Du sagst, daß wir fast alle im Ozean des Konkreten ertrinken.

Besonders tragisch ist nun, daß die meisten Menschen, die eben ‹nicht blöd› sind, meinen, ein Haus besitzen zu müssen. Und da sie sich, trotz eines gerade durch diesen Wunsch freiwillig gewählten Lebens in bitterer Abzahl-Armut, nur ein Reiheneigenheim leisten können, da sie in den eigentlich schönsten 25 Jahren ihres Lebens also nur mit Einschränkungen und Verzichten leben können, entsteht eine ganz unglaubliche Wut. Auf wen? Hm, auf den Staat, das Fremde, die Anderen, letztlich aber auf die Menschen, die in der Nähe sind. Also lesen wir jeden Tag etwas aus dem Genre der Verzweiflung, hören wir von Ertrinkenden die in einer Umhausung lebten, die eigentlich Freiheit, Unabhängigkeit, Besitz, Komfort und Sorglosigkeit symbolisieren sollte:

«Eine 32 Jahre alte Frau und ihre 53 Jahre alte Mutter sind das Opfer einer Familientragödie in Osnabrück geworden. Sie wurden vom 33 Jahre alten Ehemann der jüngeren Frau erstochen. Der Mann war mit einem Auto durch den Garten seiner Schwiegereltern in das Wohnzimmer eines Reihenhauses gerast und hatte anschließend Feuer in dem Gebäude gelegt.» (Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2008, Seite 10)

Der gesunde Menschenverstand kann sich ein solches ‹Familiendrama›, eine solche ‹Familientragödie› nur vorstellbar machen, indem ein hauptsächlich Handelnder zum psychisch Kranken erklärt wird. Daß man gerade im Reiheneigenheim, dem Inbegriff des ‹Normalen›, als Person besonders gefährdet ist, im Ozean des Konkreten zu ertrinken, kann, darf, wird niemals thematisiert werden. Du hast es getan. Noch einmal Dank dafür.

Evelyn



Erstellt: 15. November 2008 – letzte Überarbeitung: 18. November 2008
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