BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Stadtgeschichten: Der Tag vor dem Heiligen Abend»
von Vicente G.
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Ich habe schon öfters bemerkt, daß ich mit den wenigen freien Stunden, die das Büroleben einem manchmal so außer der Reihe beschert, nicht viel anfangen kann. Die ganze Stadt scheint um fünf Uhr eine andere zu sein als um sechs Uhr. Und das eigene Zuhause scheint mir fremd. Heute morgen war der Himmel dunkelgrau, und ein feiner Nieselregen fiel auf mich herab. Ich bemerkte, daß mir mein Zeitgefühl verloren gegangen war. Welcher Winter war das heute morgen, der von diesem Jahr oder der von dem Jahr davor? Selbst die Titelseiten der Zeitungen scheinen austauschbar. Heute wie gestern wie vor fünf Jahren.

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Ich fahre am liebsten mit unserer alten Straßenbahn. Sie windet sich langsam durch Straßenschluchten und mit jedem Türöffnen kommt ein anderer Luftzug herein. Obwohl ich schon lange Zeit zu immer den gleichen Zeiten in mein Büro fahre und auch zu den gleichen Zeiten zurückkehre, habe ich doch kaum jemals einen Menschen zweimal gesehen. Es ist manchmal so, als wäre es jeden morgen eine andere Stadt, und doch bleibt sie immer wieder so gleich, daß man meinen könnte, die Zeit würde nicht vergehen. Ich wünschte mir, ich könnte auch ein anderer sein, doch bliebe sich dann wieder jede Straßenbahnfahrt gleich und wieder käme der gleiche Wunsch, ein anderer sein zu können.

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Meine kleine braune Aktentasche liegt noch auf dem Stuhl und sie wirkt etwas verloren. Jeden Tag hat sie mich begleitet, seit vielen Jahren schon, bei jedem Wetter. Mir scheint, sie ist nutzlos geworden. Die Gleichförmigkeit der Arbeitstage hat an ihr Spuren hinterlassen, am Leder gerieben und Kratzer eingefügt. Ich versuche mich zu erinnern, was mir in diesem Jahr alles passiert ist, doch kann ich kaum die verschiedenen Tage auseinanderhalten. Die Tage, Wochen und Monate verschwimmen ineinander, in einer Wiederholung des immer gleichen Tages, der nur diesen Ablauf kennt. Das Büro, der Weg dorthin und zurück, und die Stunde des Heimgekehrtseins, in welcher sogleich der Wunsch entsteht, wieder in das Büro zurückzukehren. Ich frage mich manchmal, ob dieses Einerlei von Dunkelheit und Arbeit mein Schicksal sein soll, ob mir das Leben für all meine Träume und mein Verlangen in meiner Jugend eine lange und bittere Lektion der Demütigung erteilen will.

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Als ich heute morgen um neun Uhr aufwachte, schaute ich in einen dunkelbleiernen Himmel. Heute ist ein Arbeitstag, aber wir haben im Büro frei bekommen, weil es der Tag vor Heiligabend ist. Ich wundere mich, daß schon wieder Weihnachten ist. Ich stehe in einer Küche am Fenster, in meiner Küche, die mir aber nicht mehr die meine zu sein scheint. Das fahle Licht dieses Dezembertages paßt nicht zu dem Morgenlicht aller meiner anderen Arbeitstage im Dezember. Gewöhnlich blicke ich aus meinem Küchenfenster in das Dunkel eines Wintermorgens und nur wenige erleuchtete Fenster in den Nachbarhäusern leisten mir zu dieser Zeit Gesellschaft. Heute aber haben sie mir diesen Arbeitstag geschenkt, einen ganzen Tag, zu meiner «freien Verfügung». Und ich fühle mich, als stände ich neben dem Leben eines anderen. Nichts scheint in diesen Morgen hineinzupassen und ich am allerwenigsten. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dieses Geschenk am liebsten zurückgeben zu wollen.

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Ich beschließe ein wenig in die Stadt zu gehen, in der Hoffnung, dem Tag doch noch etwas abgewinnen zu können. Umherbummeln, ohne ein Ziel, versteckt und unsichtbar zwischen den vielen anderen Menschen, den Weihnachtseinkäufern und Rastlosen, denen der Tag vor Weihnachten das Crescendo vor dem Schlußakkord ist. So werde ich heute unter ihnen sein, leise und nicht sichtbar, nicht vernehmbar als der, dem von seinem Chef dieser unerwartete Tag geschenkt wurde, und der damit ungewollt aus der Partitur seines Alltags fiel.

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Als ich meine Wohnung verlasse und den Hausflur betrete, schlägt mir eine matte Dunkelheit entgegen, obwohl es schon fast Mittag ist. Ich hatte erwartet, daß sich etwas von dem Grau des Tageslichtes in den Hausflur verirrt und den Mittag vom Morgen unterscheidet. Schließlich war ich es gewohnt, an jedem frühen Morgen in der Finsternis das Haus zu verlassen, und so hatten die Tage nichts, was sie besonders voneinander unterschied. Dunkelheit reihte sich an Dunkelheit, ein Tag ergoß sich in den nächsten Tag und nahm wieder ein neues Stückchen meiner Lebenszeit mit sich fort, ohne das ich es jemals wirklich bemerkt hätte. Die wenigen Spuren unseres Lebens schwebten in der matten Schwärze des Hausflures, die Luft des vorherigen Tages, der Geruch von Essen und Heizung, der Rauch heller Zigaretten und der dumpfe Geschmack der frischen Tageszeitungen, die in den Postkästen steckten.

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Ich gehe die Treppe hinab zur Haustür, die ewig gleichen Stufen durch das Dunkel vor einem neuen Arbeitstag, vorbei an den grauen Briefkästen, deren leere Schlitze mich an diesem Vormittag nutzlos anstarren. Eine alte Frau beugt sich über ein geöffnetes Postfach und murmelt vor sich hin. Mir kommt sie nicht bekannt vor, aber vielleicht habe ich sie hier doch schon einmal gesehen. Ich könnte kaum sagen, wer mein Nachbar ist und wer nicht, geschweige denn, jemanden von ihnen auf der Straße wiedererkennen. Mein Tag führt an den ihren vorbei, seit ich hier wohne. «Guten Morgen», grüße ich die alte Frau, worauf sie etwas verwirrt zu mir heraufblickt und mir ein paar Worte entgegenkrächzt und stammelt: «Das Päckchen, das Päckchen an meine Tochter, es muß schon in Amerika sein. Es wird doch nicht zu schwer gewesen sein, sonst kommt es nicht an. Dann hätte die Post doch schon Bescheid gesagt, nicht wahr. Die sagen doch Bescheid, wenn die Päckchen zu schwer sind, nicht wahr?» «Gewiß, das hätten sie», erwidere ich verlegen und versuche meine Hilflosigkeit hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen. Sie bleibt gebeugt und vor sich hin murmelnd an dem geöffneten Postfach stehen, mit zittrigen Händen und einem Paar hellblauer Augen, die durch die Dunkelheit des Hausflures streifen und inne halten, irgendwo an einem Punkt in der Ferne. Ich wußte nicht, ob sie mich überhaupt verstanden oder wahrgenommen hatte, und so öffnete ich die Haustür und trat ins Freie, mit einem kurzen Gefühl banger Hoffnung, im Alter ein anderes Los zu haben.

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Dennoch gab es in ihrem Leben Menschen, die sich ihrer erinnern konnten, sie hatte eine Familie gehabt, ganz im Gegensatz zu mir. Wenn eines Tages mein letzter Morgen heranbricht wird die endlose Reihe der Tage einfach nur enden, an die Dunkelheit wird sich keine weitere Dunkelheit mehr anfügen, meine Tageszeitung wird bis zum Mittag in meinem Postfach stecken, es wird im Hausflur nach Essen riechen und nach hellem Tabak und die Luft des vorherigen Tages wird die Finsternis umspülen. Einzig mein Küchenfenster wird an diesem Morgen in der Lichterkette unserer Straße fehlen, dieser kleine untrügliche Beweis meines Daseins wird ausbleiben. Bis zu dem Tag, an dem jemand anderes in meine Wohnung einzieht und in der morgendlichen Dunkelheit einen Kaffee in meiner Küche trinkt. Dann wird die Lichterkette wieder so sein, wie sie immer war; und die Stadt wird nicht mehr an mich denken.

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Die grau-kalte Luft dieses Dezembertages schlägt mir ins Gesicht und beendet meine Gedanken ohne jede Nachsicht. Ich kann den kommenden Schnee schon riechen, schlage meinen Mantelkragen hoch und gehe zur Straßenbahnhaltestelle.



Erstellt: 12. Februar 2001 – letzte Überarbeitung: 12. Februar 2001
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