BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Stadtgeschichten: Im Regen»
von Vicente G.
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Als ich heute nachmittag vom Schloßpark zu meiner Wohnung zurückging, wurde ich von einem kalten und durchdringenden Regen überrascht. Es ist genau diese Art von Regen, der Mäntel wie Schuhe gleichermaßen nachhaltig aufweicht und den ich schon längere Zeit im Verdacht habe, Vorbote heimtückischer Erkältungskrankheiten zu sein. Gewiß, diese Art von Regen erinnert mich immer an Erkältungen und nasse Füße, aber auch an eine Begebenheit mit Natalia.

Natalia ist ein wenig größer, als ich es bin, und ich bin von fast ein Meter und neunzig Höhe. Für eine Frau ist das eine eher ungewöhnliche Größe, und nicht viele Männer können ihr ohne nagende Selbstzweifel entgegentreten. Noch dazu sie schulterlanges, hellblondes Haar trägt und eisblaue Augen hat.

Ich kenne niemanden, der von ihr nicht nachhaltig geträumt hätte, nachdem er mit ihr bekannt wurde. Und ein solches Wesen im Bekanntenkreis zu haben, macht Partys und gesellige Abende schon ein wenig eintönig, da spätestens kurz nach Mitternacht die Abendgesellschaften in zwei Teile zerfallen: Die einen, die sich in der Küche herumdrücken und von billigen Weißweinen Sodbrennen haben, und die anderen, die getrieben von eitlen Hoffnungen eine Traube von Schoßhündchen um Natalia herum bilden und lustige Dressurstückchen zum Besten geben.

Mittlerweile habe ich aber gelernt, mit diesen Abenden umzugehen. Ich bleibe bis Mitternacht in der Küche und gehe dann wieder nach Hause mit der Entschuldigung, noch so viel zu tun zu haben. Bis heute hat diese Ausrede noch jeder geglaubt, doch konnte ich noch nicht herausfinden, ob ich als Buchhalter in der Tat so geschäftig wirke, oder ob ich eine Indifferenz gegenüber meinen Mitmenschen verströme, die es allen Beteiligten ermöglicht, mein Hiersein oder Nicht-Hiersein mit völliger Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit zu erleben.

Jedenfalls schätzt Natalia mein ruhiges und zurückhaltendes Wesen, und vielleicht schätzt sie noch mehr, daß ich es noch nie unternommen habe, mich in ihrer Gegenwart in ein Schoßhündchen zu verwandeln. Dann und wann, wenn wir länger als ein Viertelstündchen miteinander plaudern, wird sie wegen meiner Zurückhaltung mißtrauisch und argwöhnt schon einmal, ich würde in Wirklichkeit wohl eher Männer lieben. Diesem kleinen Moment, der sich mit schöner Regelmäßigkeit beobachten läßt und von dem ich glaube, daß er das kleine stille Zeichen einer sich regenden Kränkung darstellt, einer Kränkung, jemanden nicht durch bloße Anwesenheit in ein albernes Schoßhündchen zu verwandeln und das Ausbleiben dieser Verwandlung nicht mit manifester Liebe unter Männern erklären zu können, folgt alsbald ihr Klagen über ihre Sehnsucht nach der ‹wahren Liebe›.

Als wir uns noch nicht so lange kannten und unser erstes Gespräch miteinander führten, das länger als ein Viertelstündchen dauerte, versuchte ich, sie durch einen kleinen Beitrag über ‹Sehnsucht› und ‹wahre Liebe› zu beeindrucken. Daraufhin fragte sie mich völlig unbeirrt, ob ich auch Zigaretten rauchen würde und ob es mir in der Stadt gefiele. Lange Zeit, nämlich fast ein Jahr lang, war ich dann dem Glauben verfallen, ich hätte sie vielleicht auf irgendeine Art und Weise in Verlegenheit gebracht.

Dieser Glaube hielt sich bei mir bis zur nächsten Party, zu der ich eingeladen wurde und bis zu unserem nächsten Gespräch, welches länger als ein Viertelstündchen dauerte. Wieder argwöhnte sie, ich würde mir wohl mehr aus Männern machen und sie fragte mich, ob ich denn immer noch alleine wäre. Und dann klagte sie wieder, über ihre Sehnsucht nach der wahren Liebe. Etwas irritiert von dem Verlauf unserer kleinen Unterhaltung brachte ich schließlich kein Wort mehr heraus. Kein Beitrag von mir über wahre Liebe und Sehnsucht. Und dann, ich wollte es kaum fassen, die gleichen Fragen: Ob ich Zigaretten rauchen würde und wie es mir in der Stadt gefiele. Ich antwortete ihr, seit ich hier sei, hätte ich vermehrt Sodbrennen. Es müßte wohl an den Weißweinen liegen.

Ihre Aufmerksamkeit war bei diesem Treffen aber längst von mir fort und galt allein Didier, ihrem neuen Freund, der sich – von ihr unbemerkt – plötzlich von hinten an sie herangeschlichen hatte, um sie zu umarmen und zu liebkosen. Didier, der Informatiker aus Paris, der vor einem halben Jahr in die Stadt gezogen war, zu seiner langjährigen Freundin, Susanne. Susanne, Natalia und Didier lebten im gleichen Mietshaus und es bedarf keiner sonderlichen Phantasie, sich auszumalen, wie sich die Geschichte weiterentwickelte. Didier entdeckte schließlich eines Tages die eisblauen Augen seiner Nachbarin Natalia und bald darauf entdeckte Susanne, was es mit Didier und Natalia auf sich hatte.

Von dieser Geschichte sind mir dann mehrere Versionen erzählt worden. Susanne soll Didier eine fürchterliche Szene gemacht haben und daraufhin habe er sie geschlagen. Einer anderen Version dieser Geschichte zufolge sei Susanne mit einem Messer auf Didier losgegangen und Didier habe sich verteidigt und ihr dabei eine Ohrfeige verpaßt. Was immer sich dort wirklich abgespielt haben mag, es waren mehr Gefühle darinnen, als ich mitfühlen konnte. Vielleicht ist das einer der wenigen Vorzüge, die es hat, Buchhalter zu sein. Gefühle, gleich ob sie schön oder fürchterlich sind, verlieren sich zwischen Zahlenkolonnen und Aktenbergen, und nach einer Zeit schwindet ihre Bedeutung gänzlich.

Die Tage in der Buchhaltung gingen weiter ihren Weg, Zahlen reihten sich an Zahlen und Aktenordner lehnten sich an Aktenordner. Schließlich wurde es wieder Herbst und anläßlich eines bestimmten Feiertages sollte ein neues Büro- und Verwaltungszentrum einer Automobilfirma in dieser Stadt eingeweiht werden. Die Zeitungen waren schon Wochen vorher voll von diesem Ereignis und die Großen in Politik und Wirtschaft beeilten sich, diesen besonderen Tag als historisch denkwürdig herauszupolieren. Mir selber lag weder etwas an diesem Feiertag, noch an der Einweihung dieses neuen Bürokomplexes. Ich bin in dieser Hinsicht eher etwas altmodisch und mit der modernen Architektur kann ich nur wenig anfangen. Häßlich, ausgesprochen häßlich! Das wäre mir eingefallen, hätte mich jemand nach meiner Meinung gefragt. Aber es ist wohl eher unwahrscheinlich, als einfacher Buchhalter zu den wichtigen Dingen im Lauf der Welt nach seiner Meinung befragt zu werden.

Ich hatte mir für diesen Feiertag noch nichts vorgenommen und schon gar nicht mit dem Gedanken gespielt, dem Festakt beizuwohnen, obwohl alle Bürger dieser Stadt herzlich dazu eingeladen waren. Schließlich überredeten mich meine Kollegen in der Buchhaltung, dort hinzugehen; und weil ich mich dagegen nicht recht zu wehren wußte, willigte ich in diesen Vorschlag ein.

Wir verabredeten, uns am Ausgang des U-Bahnhofes zu treffen, der eigens für diesen neuen Büro- und Verwaltungskomplex angelegt worden war. Ich fand es merkwürdig, daß die Stadt extra einen neuen U-Bahnhof für die Bürogebäude eines großen Automobilkonzernes errichtet hatte. Sollte es die pessimistische Vorwegnahme drohender Energie- oder Umweltkrisen sein? Oder die stille Solidarität mit den einfachen Menschen, die sich ein Auto dieser Marke niemals würden leisten können? Ich hatte errechnet, daß ich vier Jahre lang mein gesamtes Gehalt zur Seite legen müßte, um mir ein Auto dieser Marke kaufen zu können.

Versunken in der Tätigkeit, die ohnehin meinen ganzen Alltag bestimmt, dem Hin- und Herschieben von Zahlenreihen, erreichte ich die U-Bahn-Station, an der wir verabredet waren. Ich stieg aus und gelangte über eine nicht funktionierende Rolltreppe an die Oberfläche. Meine Arbeitskollegen winkten mir zu und wir gingen zu dem Festplatz. Menschenmengen drängten sich und mir war es dabei sehr unbehaglich. Ich schaffte es schließlich, einen der vorderen Plätze zu erreichen, dort wo mehrere Reihen mit Stühlen standen. Leider war auf diesen kein Platz mehr frei, und ich mußte stehen. Ein Rednerpult auf einer Bühne war zu sehen und eine große Projektionswand, Scheinwerfer, Blumen und allerlei hektisch umherirrende Menschen mit dunklen Anzügen und vornehmen Krawatten.

Meine Kollegen hatte ich in dem Gewühl verloren. Aber ich war auch ein wenig froh darum, schließlich mußten wir uns ohnehin gegenseitig die ganze Arbeitswoche ertragen. Der Wind frischte auf und hoch über dem Festplatz, zwischen den Bürotürmen, die einen kleinen Blick auf den Himmel freigaben, konnte ich sehen, wie sich Wolken zu einem Unwetter zusammenballten. Mein Blick schweifte hilflos suchend zwischen den drängenden Menschen und dem aufziehenden Unwetter hin und her. Ich hatte nur einen dünnen Mantel an und keinen Regenschirm dabei. Als ich versuchte, einen Weg zu einem Unterstand zu finden, ohne mich durch eine Wand von Schaulustigen drängen zu müssen, sah ich plötzlich – ganz in der Nähe – Didier. Ziemlich überrascht versuchte ich ihm zuzuwinken und mich bemerkbar zu machen. Sein Blick schien aber nicht von der Bühne loskommen zu wollen.

Der Regen setzte ein. Die Betriebsamkeit auf der Bühne nahm zu, und nun ließ der Automobilkonzern Regenschirme verteilen. Freundliche Mädchen gingen an den Stuhlreihen entlang und die Männer in den dunklen Anzügen mit den vornehmen Krawatten schienen das ganze Treiben zu dirigieren. Meine Überraschung war groß, als ein hochgewachsenes Mädchen mit hellblonden Haaren und eisblauen Augen auf mich zusteuerte und mir einen Regenschirm dieses Automobilkonzerns geben wollte. «Natalia!», rief ich freudig aufgeregt aus. Sie lächelte mir zu. Doch als sie im Begriff war, mir einen Regenschirm zu geben, trat einer dieser Männer mit dunklem Anzug auf sie zu und herrschte sie an: «Nur für VIP-Gäste!» Verlegen schaute sie fort und überreichte den Schirm einem graubärtigen Herrn mit Nickelbrille.

So stand ich denn mit vielen anderen Gästen – ohne Schirm – im Regen und lauschte den Großen aus Politik und Wirtschaft, wie sie sich über die Zukunft im allgemeinen und über die Zukunft Deutschlands ausgossen.

Berührt war ich, berührt von Natalias Lächeln. Eine kleine Träne lief mir über die Wange und mischte sich unmerklich mit dem Regen, der mir an meinem Gesicht herunterrann.

Was ich Natalia wohl antworten werde, wenn sie mich wieder fragt, ob mir die Stadt gefiele?



Kommentare:

21. Februar 2002
Lieber Vicente,
als Connaisseur hochgewachsener Frauen möchte ich mich kurz für Deine exzellente Beobachtungsbuchhaltung bedanken. Allerdings mußte ich erst an einer bestimmten Variation dieser ‹Spezies› scheitern, um zu lernen, mich zwischen den Flüchtlingen in der Küche und den Dackeln zu ihren Füßen zu positionieren. Schön auch, wie Du zeigst, daß die männliche Verweigerung, als Spiegel zu dienen, gerade an ihre Wirkung gewöhnte Frauen aus der Reserve lockt. Natürlich kann das nur – vor allem bei Krönchenträgerinnen – zu allzu vorhersagbaren verbalen Reaktionen führen. Aber manchmal bleibt eben doch ein Blick hängen, der dem Weiblichen sein Geheimnis zurück gibt. Und dafür hat sich der Einsatz dann gelohnt.
Wirklich eine schöne Geschichte.
Beste Grüße,
Stefan



Erstellt: 12. Februar 2001 – letzte Überarbeitung: 12. Februar 2001
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