BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Schrödingers Katze wird autistisch»
von Claudia Drenda
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Boomtown

Mit dem Wort Autismus herumzuwerfen ist schwer im kommen. Warum? Na ja, vielleicht sind die Leute genervt von dem Mangel an Kontakt, oder Zitate sind nicht mehr so befriedigend, und Ironie ändert sich eh gerade. Und in dieser Phase kommt also solch ein Modebegriff auf. Klar, da werden neue Helden ins Rennen geschickt, allerdings vorab schon entschärft und pathologisiert. Oder ist es der erste zarte Versuch der Bürger, auch nicht zu müssen? Perfide finde ich das. Auf allen möglichen Subkulturflyern taucht das inzwischen hier auf. Ein Boom. Und ich finde das verdächtig und verflucht geschickt eingefädelt: In einer Talkshow tritt ein Autist auf und erzählt, man könne sich dagegen entscheiden, in seinem schönen Traumschloß wohnen zu bleiben. Im Flyer zu «Murlin Murlo», einem Theaterstück von Nikolai Koljada, das gerade hier angelaufen ist, steht: «Die seelischen und moralischen Nöte der Menschen im zerfallenden Sowjetsozialismus verbinden die Figuren aus Murlin Murlo mit all denen, für die in der leistungsorientierten Welt der globalen Märkte kein Platz existiert. Sie leben abseits, bestenfalls geduldet von einer Gesellschaft, die Empfindsamkeit als Schwäche betrachtet und in der Visionen Autisten vorbehalten bleiben.» Nur nebenbei, ich habe das Stück gesehen, keine der Figuren war autistisch. Was machen die da? Auf der einen Seite also noch Herrn Kluge, der tönt, die zwei Vermögen von Menschen seien «Eigensinn» und «Lebenszeit». Und auf der anderen das neue Modewort: «Autistisch».


Schrödingers Katze wird autistisch

Mir ist das über den Weg gelaufen erstmals vor einem Jahr. Ich fahre in diese Stadt, das zweite mal zu dem «netten Mann». Schon schlagenden Herzens und noch neugierig, was es wohl wird. Angekommen lande ich mitten in einer Party. Nette Leute, kein bißchen sexy, aber erwachsen auf eine Art, die ich anfing, lebenswert zu finden. Gegen Ende erzähle ich wem, der ganz harmlos aussieht, so seit zehn Jahren wie in der zwölften Klasse, erzähle ihm die Geschichte von meinem welkenden Gummibaum:

Eine Nacht zu lange hatte ich ihn auf der Dachterrasse gelassen, er hatte Frost bekommen und ist in seinem Winterlager auf der Halbetage im Hausflur in einem melodramatischen Akt in Etappen gestorben, sehr eindrucksvoll. Ein Mahnmal meines schlechten Gewissens. Zwei Wochen lang habe ich die Wohnung verlassen, ein paar Schritte getan, ihn gesehen und unwillkürlich jedesmal laut gesagt: «Oh Gott, der Gummibaum!» Um dann schamig ein paar gefallene Blätter verschwinden zu lassen, wenn ich dran vorbeikam. Nach ein paar Tagen fing ich an, selber schon genervt von dem immergleichen Satz, der da stereotyp und lauthals aus mir heraus sprach, mir Gedanken über unsere Nachbarn zu machen, deren Wohnküchentisch genau hinter ihrer Eingangstür steht. Ob die nicht langsam auch mal genervt sind oder wenigstens anfangen, mich unheimlich zu finden. Flurgeräusche hört man astrein, bekannter Effekt. Und da meinte dann dieser Typ auf der Party in einem fiesen Unterprima-Tonfall: «Nein, ich glaube, deine Nachbarn finden dich interessant, weil du autistisch bist.» Ich habe mich fast verschluckt vor Lachen. Quer durch den Raum habe ich gerufen. «Hey, netter Mann, weißt Du, was der Typ hier grad gesagt hat? Meine Nachbarn fänden mich interessant, weil ich autistisch bin!!»


Die Grenzen des Selbstgesprächs

Hier steht gerade die Sonne senkrecht und kann mich trotzdem nicht erfreuen. Fast alttestamentarisch habe ich die Demontage eingeleitet und vollzogen. Ärgert dich ein Auge, reiß es dir aus. Es waren die Grenzen des Selbstgesprächs lange überschritten. Es mangelte mir an der Aneignung meiner Lebensverhältnisse. Jedesmal, wenn eine Haltung beieinander war, mit der ich ausziehen konnte, mich um mich zu kümmern, ist über kurz oder lang – beim Abgleich mit ihm – mein System weggebrochen. Es verlor die Angemessenheit in Sachen Weltkontakt.

Beim ersten Bruch des Verlaufs, als ich nach elf Tagen ausgezogen bin aus gemeinsam bewohntem Raum, hatte ich Lust, leider schon im Auto, ihm eine zu scheuern. Eine Ohrfeige. Oder eher ein Stoß. Er hatte was gesagt wie: «Bis in drei Wochen, dann bin ich wieder in der Stadt.» Hatte nur das «Baby» hintendran vergessen, dann wäre es wenigstens richtig schlecht gewesen. Aber dann hatte ich ihn kurz vor Augen und wollte doch nicht schlagen. Statt dessen gab's prompt die Wortwahl, daß ich sein Verhalten durchschnittlich fände. Durchschnittlich ist – für mich – maximal böse.

Dieses mal aber sind mir die Texte und Strukturen der letzten sechs Wochen, in denen ich sehr rege war, verlorengegangen. Im Handumdrehen aus nichtigem Anlaß. Nicht mehr erinnerbar auch nur, innerhalb von zwei Stunden. Danach habe ich mich umgesehen und nichts konnte mir was bedeuten. Weil das mir zu weit ging, zu gefährlich war einfach, habe ich abgeschworen und Sprachtaten folgen lassen, eigene und provozierte, egal wie willkürlich. Darin war ich eh verfangen. In undynamischer Willkür. Jetzt wächst erst mal Gras.

Was mich vielleicht so lange aufgehalten, zu einigem Nichtstun geführt hat auch, war ein fast kindliches: «Ich habe mich noch nie vertan.» Zu Begreifen, daß meine Reaktion auf ihn ganz wunderbar war, daß das was mit meiner Geschichte zu tun hat, und daß sich eben keine neue, gemeinsame ergibt, in der man mal sehen kann, was wird. Und zu begreifen, daß er eine andere Geschichte hat, andere Prioritäten – das war nicht leicht zu nehmen. Metaphysik und Sozialisation. Und Entscheidungen. Und ein «so halt». Immerhin ist mir «eifersüchtig» erspart geblieben und was sonst noch hätte Raum greifen können in dieser eigenwilligen Machtlosigkeit.


Wenn du schreiben willst…

Es gab mal einen Rat, Eco oder irgendein anderer Pragmatiker. Wenn du schreiben willst, setz dich hin und schreib. Such dir keinen Job, schreib, wenn du schon mußt. So ähnlich habe ich das auch mal in der Liebe gesehen. Wenn du willst, liebe halt. Und der Aufbruch diesmal war klar mit der Idee eines schönen Lebens verbunden. Aber ich habe die Kränkung, nein, die Folgenlosigkeit schlecht vertragen. Und da ist etwas wie ein Zauber nicht mehr da, der mich grundernährt hat.

Jetzt also sitze ich und fange an auszuschlachten, anzueignen. Gestern habe ich an einem Plot gebastelt. Die guten Sätze wollte ich sammeln, die ich gemacht hatte unterwegs. Eine Geschichte oder viele sollten es werden. Ich habe Geschichten. Haufenweise. Ich weiß schon. Dann werd ich eben eine Weile schreiben statt lieben. Punkt. Und dann mal weitersehen. Diesmal steht einer Kontinuität nicht mehr viel im Wege. Schreibend leben, das wollte ich, das war mal klar, bevor ich küssen wollte diesmal. Und statt mich in ein Kämmerchen zu schließen, zu bauen, die hübschen meiner Gedanken zu systematisieren und ein paar Testballons auszusenden, bin ich lieber ausgezogen in die Welt selber. Und finde diesen «netten Mann», an dem ich mich so trickreich verschwurbelt und meine Tentakeln verknotet habe. Und meine Ideen mußten nachziehen. Das ist eine alte Angewohnheit von mir, bei relevanten Zügen meine Orientierung zu riskieren. Kann sein, das ist eine Unschuldsproduktionsmaschine. Wenn es gut geht, macht das Glück und Kontakt. Ging diesmal nicht gut.


Antimaterie

Nicht gut, weil das, was ich klar hatte und wollen konnte, eben nicht so war wie ich fand. Oder schon war, aber nicht wurde. Und das entwickelte leider die Dynamik von Antimaterie. Anstatt daß mein anmutiges Gehirn seinen Job macht und eine Aufmerksamkeitsökonomie abwirft, in der ich mir ein Leben hätte ausdenken können, war ich beschäftigt mit Eskalationsmanagement. «Ich habe mich noch nie vertan!» war als befristete Gewißheit abgelaufen, «Ich habe mich vertan!» eine glatte Lüge. Damit hatte ich mir gültig ein Ei gelegt. Nachdem also ein von mir volllegitimierter Vertreter von Welt und ich einander nicht so lange freundlich mißverstanden haben, bis wir uns folgenreich und gegenseitig zugeneigt waren in irgend für mich akzeptabler Symmetrie, stand ich irritiert und gereizt dem Geschehen gegenüber. Mitten in einer hingegen wieder recht dynamischen Fehlkalkulation, die so gesehen rumdrohte mit Stumpfsinn, Isolation, Armut. In einer Stadt, wo man bei jedem Blinzeln schon wieder zwei mögliche Züge verpaßt hat.

Irgendwann, nach Wochen in einem Park, nachts, endlich mal wieder allein mit ihm, dachte ich, ich müßte mich mal outen. Denn es gab immer nur ein paar Stunden, und in der Zeit hatte ich wenig Lust zu reden. Viel lieber habe ich die Klappe gehalten und abgepaßt, wann ich nicht mehr anders kann, als ihn zu küssen. Und ich hatte keine Fragen. «So halt», die Floskel hatte ich aufgeschnappt von ihm und auch das mochte ich. Nun aber wollte ich ihn auf's laufende ziehen, was passiert gerade. Es sagen auch noch. Nachts. Im Park. Daß, wenn ich mich lasse und ihn lasse, es Liebe ist einfach. Oder wird. Das weiß ich nicht mehr genau. Und er sagt: «Hab ich da auch was mit zu tun?»

Ok, keiner hat hier auf mich gewartet. Je nun, das war klar. Aber daß sogar der Mann, der mich eingeladen hatte, mit ihm zu wohnen eine Weile, nichts kommuniziert als: «Entschuldigung, dich gibt es leider gar nicht und schön, daß du trotzdem auch noch ungebeten wieder verschwindest!» Wau. Die Reste dessen, was ich meinte, schon zu wissen, wurden nun über Strecken allabendlich von der Straßenreinigung abgeholt.

Die Kehrseite der Medaille aber war, daß wenn er in dieser Version dastand als «durchschnittlich» ich dann aber als – «autistisch»: «Hab ich da auch was mit zu tun?» Nun war es ja nicht so, daß ich ihn je aus der Ferne angehimmelt hätte, konnte ich mich beruhigen. Bis ich meinen Korb endlich ergattert hatte, war meine Zuneigung ontologisch gedeckt, mit allem, was so dazu gehört in Tagen und Nächten. Aber genau der Gedankengang barg dann doch die Spitze, daß ich die Welt zu persönlich nähme. Die Welt. Ihn die Welt zu nennen, das war möglicherweise der Anfang meiner Karriere als romantische Frau selber. Lausig. Lustig. Das weiß ich noch nicht.


Sätze

Was man sich für Ärger einhandeln kann mit falschen Sätzen! Jetzt geht es zunächst einmal um eine Änderung meines Weltkontaktes. Denn mit schlechten Texten wollte ich umgehen lernen, gesagt mitten in mein Gesicht. Rauszukriegen ist, wann ich die Füße stillzuhalten habe und wann zu laufen laufen, wann die Klappe zu halten und wann was sagen. Und wie sich die Welt vom Halse halten – und in Kontakt bleiben. Und meine Reisebegleiter sind Sätze wie: «Schwachsinn lassen!», oder «Ich werde kein Leben führen, das mir nicht angehört!», oder «Geh, da schlafen, wo du aufwachen willst!», – was immerhin dazu geführt hat, daß ich da bin, wo mir gefällt, was ich sehe – ja, und ein Zauberwort: «Währenddessen!» Im Giftschrank ist ein: «Denken hilft!» Zur Mahnung dient ein: «Gesellschaft ist kein Spaß!» Und unterwegs hilft ein «Wildentschlossen!» Aber mein treuester Begleiter, auf den ich mich immer verlassen kann, ist ein «Circa!» Ausgesprochen hat es den schönen Vorteil, so präzis und konkret zu klingen. Aber nur für Autisten.



Kommentare:


3. Oktober 2002

Hallo Lieblingskatze,
da mir meine Therapeutin geraten hat, etwas offensiver gegen meine notorische Schüchternheit zu arbeiten, habe ich mich Dir ja nun bei unserem zufälligen Treffen persönlich vorgestellt. Deine vollkommen berechtigte Frage nach dem Grund für das Ausbleiben einer Reaktion auf Deinen letzten Aufsatz konnte und wollte ich dann aber doch nicht ohne eine gewisse Bedenkzeit beantworten. Hier also die versprochene Erklärung:
Eigentlich ist die Antwort recht einfach, bedarf aber aus Gründen der Höflichkeit einer Erläuterung. Ich war schlicht ein wenig enttäuscht, habe von da aus die Kurve zu einer positiven Reaktion nicht bekommen und es daher vorgezogen ganz zu schweigen. Die Geschichte selbst finde ich stilistisch wieder geradezu beeindruckend. Es ist förmlich greifbar, wie Du durch die fragmentarischen Splitter der Geschichte hindurchscheinst, und Dich über eine erzählerische Klammer bemühst, verständlich zu werden. Allerdings, und das hat mich geschmerzt, hast Du den Tonfall gewechselt. Zumindest konnte ich den offensiven Stolz der vorangegangenen Erlebnisse von Schrödingers Katze nicht wiederfinden.
Deine ersten Texte haben frischen Wind in das doch ein wenig zum Biederen neigende Skepsis-Reservat getragen. In Deinem letzten Text hast Du nach meiner Lesart die Flucht nach vorn zu Gunsten einer Beziehung aufgegegeben, an deren Qualität Du Deine Befindlichkeit festmachst. Da dies weder meinem Geschmack noch meinem Verständnis des Schrödinger-Problems entspricht, konnte ich keinen Anknüpfungspunkt für einen Leserbrief finden.
Ich hoffe, ich habe einigermaßen den rechten Ton gefunden, ohne Dir zu nahe zu treten. Ich hätte meiner nach wie vor hohen Wertschätzung gerne noch durch ein drittes Geschenk Ausdruck verliehen. Ich finde aber gerade meine Ausgabe von {.Alice im Wunderland.} nicht, und reiche von der Grinsekatze dann vielleicht etwas nach, wenn wir uns in diesem Leben noch einmal in vivo begegnen.
Alles Gute, Stefan



Erstellt: 23. April 2002 – letzte Überarbeitung: 3. Oktober 2002
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