BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Aphorismen (2)»
von Holger Wyrwa
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Für den Einzelnen ist das Denken nur das Weitergeben von Meinungen, die man ihm beigebracht hat. Das Weitergeben von Meinungen aber beendet jegliche gedankliche Schwangerschaft. Auch eine Scheinschwangerschaft. Einen Gedanke hingegen muß man fühlen, ihn in Wehen erleben und ihn unter Schmerzen gebären. Ansonsten ist es kein Gedanke. Ein Gedanke ist ein seltenes Ereignis und kein beliebiger Brotaufstrich, den man in jedem Supermarkt bekommt.

Ungedachte Gedanken, ungefragte Fragen sind die Voraussetzungen für das Funktionieren eines arterhaltenden Systems. Fraglosigkeit und Gedankenlosigkeit halten es in Gang. Eine Unterbrechung? Es wäre nicht auszudenken.

«Wer verstehen will, muß denken!», sagte der Verstand. «Wer erleben will, muß fühlen!», erklärte das Gefühl. «Ich tue beides, ohne das jeweils andere!», entgegnete das Paradox.

Das sogenannte Verantwortungsgefühl ist eine legale Möglichkeit, sich in das Leben anderer einzumischen.

«Das Leben ist eine einzige Ersatzbefriedigung!» klagte die Lebenshoffnung und verschied.

Vielleicht setzen wir unserem Dasein nur deshalb kein vorzeitiges Ende, weil wir die Hoffnung nicht aufgeben können, daß in unserem Leben doch noch einmal etwas Außergewöhnliches geschehen wird.

Die einzige mögliche Antwort auf die Unverschämtheiten dieser Zeit ist Polemik.

Der Mensch ist damit zufrieden, wie er gemacht worden ist.

Das Ziel des Mächtigen: Die Menschheit als gut funktionierenden Muskel eines einzigen Willens.

Das Abartige liegt weniger im Abnormalen als im Normalen.

Ein Mensch spricht angesichts des Todes eines geliebten Menschen: «Man müßte viel bewußter leben!» Was ist davon zu halten? Eine Erektion im Kopf, die ohne geistigen Erguß schon nach wenigen Augenblicken in sich zusammenfällt. Gelegentliche Momente der Tiefsinnigkeit, flüchtige Auseinandersetzungen mit sich selbst – die bei jedem Menschen irgendwann einmal vorkommen – haben keine Bedeutung, wenn sie auf diese Momente beschränkt bleiben. Es ist nur eine Abart der Oberflächlichkeit, eine Oberflächentiefsinnigkeit sozusagen. Denn das gewohnte Leben geht ja sofort weiter!

Wenn man schon sonst nichts zu bieten hat, dann muß man wenigstens eine gute Optik bieten.

Der Mensch ist ein Stück Fleisch, das zappelt.

Die einzig wahre Unterhaltung ist die Zwiesprache mit mich selbst.

Alles Reale war einmal Erfundenes.

Wiederkäuen kann man nicht als denken bezeichnen.

Die sogenannte Natürlichkeit ist auch nur eine in die Jahre gekommene Künstlichkeit.

Die Zeit hat in den Gesichtern der Menschen, die wir nach vielen Jahren plötzlich wiedersehen, Gestalt angenommen. Wenn es einen Beweis für die allgegenwärtige Präsenz der Zeit gibt, dann bei solchen Gelegenheiten: In den ausgegrabenen Erinnerungen unserer vergangenen Vorstellungen.

«Warum liebst Du mich nicht mehr?» fragte die 44 jährige Frau ihren 50 jährigen Mann. «Weil Du dem Tod so nahe bist», antwortete er und zog mit seiner 20 jährigen Geliebten zusammen.

Ohne den Weg in die Innerlichkeit sind wir nichts und werden wir nichts.

Die Weite des Lebens ist ganz nahe.

«Mein Gott, wie schrecklich!», sagt ein Mensch zu einem anderen, angesichts eines schweren Verlustes. Eine bedeutungslose Aussage. Denn in den meisten Fällen ist dies nur eine sozialisationsbedingte Kontraktion der Gehirnmuskulatur, kein Erkenntnisakt.

Manche Mütter verstehen es, den banalsten Äußerungen ihrer Kinder den Rang einer außergewöhnlichen Erkenntnis zu geben.

Die Schönheit des Lebens ist seine Bewegung.

Der Sinn des Lebens: Das Leben selbst.

Fernsehen macht Kinder froh und Erwachsene ebenso.

Zen ist keine Bewegung. Zen ist kein Stillstand.

Es gibt Menschen, die alles überrennen mit ihrer falschen Energie.

Wir sterben als Fremde in unseren eigenen Körpern, ohne jemals den Reichtum, der in uns verborgen liegt, entdeckt zu haben.

In ein Gesicht sehen können, ohne es als Interpretationsfläche zu mißbrauchen!

Nicht wenige junge Menschen sind Talkmaster der Unempfänglichkeit für Takt und Einfühlungsvermögen.



Erstellt: 15. Juni 2001 – letzte Überarbeitung: 2. Dezember 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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