BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Nachtstück»
von Lisa Blausonne
Als PDF-Datei laden

Ein Nachbar steht da mit dunkelblauem Anzug, sein weißes Hemd hängt aus der Hose. Die Krawatte hat er bereits abgenommen und in seiner Wohnung nebenan gelassen. Lässig, ein wenig gebeugt lehnt er am Türrahmen und lächelt, müde, aber er lächelt sie an. «Kann ich? Der Flur ist kalt.» Bitte, sie läßt ihn rein.

«Wieder totgeschlagen. Wieder haben sie mich totgeschlagen», murmelt er und holt seine hellrote Tabakpackung hervor. Sie sitzen in der Küche, die er schon kennt, am Holztisch ohne Tischdecke. «Mein armer kleiner Manager», denkt sie gelangweilt, denn sie weiß, was kommt, und starrt durch die Luft. Er schaut nicht auf, beschäftigt sich mit dem Gras, das er fein säuberlich zerpflückt. Durch das offene Fenster dringen Geräusche von der Straße; ein Feuerwehrauto, eine Straßenbahn, Autos.

«Manchmal verstehe ich das nicht. Wir verschenken uns an die anderen», sagt er und zerbröselt achtlos seinen Tabak über die grünen Spitzen. Er blinzelt von der Seite, leckt an seinem Blättchen und klebt den Joint zu. «Wir können das doch nicht in Geld berechnen, die Zeit, die wir arbeiten. Ich arbeite elf Stunden am Tag, bekomme dafür rund 500 DM. Was ist das für ein unglaublicher Stundenlohn – fragt man. Aber falsch, völlig falsch: Ich verkaufe keine elf Stunden, sondern mein verdammtes Leben! Das ist jenseits der Abwägung von Leistung und Gegenleistung. Ich könnte von ein paar Tagen Arbeit leben – tue es aber nicht, nein, sondern arbeite den ganzen Monat, das ganze bepisste Jahr. Ich verkaufe keine Arbeitszeit, nein, ich tausche: Geld oder Leben. Ich nehme Geld und habe kein Leben mehr. So ein Dreck.»

Sie hockt im weißen Morgenmantel neben ihm am Küchentisch. Spielt mit ihren Stulpen und schaut teilnahmslos aus dem Fenster. Draußen fließt der Abend entlang, hinterläßt grau-rote Spuren am Himmel. Hat er Angst, nur benutzt, verbraucht zu werden?

«Und warum mache ich das?? He, warum? Weil ich es satt habe, mich zu fragen, warum ich den Scheiß mache, mache ich es einfach. Dann habe ich keine Zeit mehr, mir Gedanken zu machen. So sieht das aus. Mir ist es zu schwierig, mir zu überlegen, was ich aus dem Tag machen soll, aus mir, meinem Leben und so weiter. Es ist anstrengend.» Er sieht sie an – erzürnt, bestimmt. Doch irgendwie kindlich, denkt sie.

«Sag' was, bitte!» «Sieh' nicht so böse», meint sie, droht mit dem grünen Feuerzeug und nimmt ihm den Joint ab. Eine kleine Flamme, ein verhaltener Zug, sie hat sich erst vor kurzem das Rauchen abgewöhnt. Da tut die Lunge weh, wenn man nicht aufpaßt. «Immerhin», sagt sie, «hast Du noch Ruhe, dir einen zu rauchen.» Er starrt fassungslos, vielleicht versteht sie ihn nicht. Hat sie überhaupt schon mal gearbeitet? Also, so richtig gearbeitet, 14 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche usw.? Was macht sie eigentlich den ganzen Tag? Eigentlich ist es ihm egal. «Was meinst Du? Zu rauchen ist echt einfach. Abschalten. Peng.» Er lehnt sich zurück. Sie schüttelt lautlos den Kopf, hält den Atem und also den Rauch an. Dann atmet sie tief ein und sagt: «Die meisten deiner Art halten sich für zu alt zum Rauchen. Selbst da haben sie noch Angst vor ihren Träumen. Du hast das noch nicht aufgegeben. So sieht das aus.» Sie denkt: Ist es nun traurig, daß seine Träume in diesem farblosen Nebel hängen bleiben und nur auf diesem einfallslosen Weg für ihn sichtbar werden?

«Und was soll ich machen? Ich bin 36, sozusagen in der Blüte meines Lebens, ha. Ein Witz. Ich habe jetzt schon keine eigenen Ideen mehr; ich realisiere die Ideen von anderen, glaube ich.» «Mach' die Augen zu und horche. Hör' dir zu, du wirst dir sagen, was gut ist. Wir vertun uns da selten.» Sagt sie. Und fragt sich beiläufig, ob sie eventuell in letzter Zeit zuviel Coelho gelesen hat. Oder warum ihr Simmel aus der Schulzeit einfällt: «Ich höre mich aber nicht mehr! Ich habe das Horchen und Warten verlernt.» Eskapismus in seiner reinen Form, denkt sie. Und träumt aus dem Fenster; ein Leben auf dem Mond, der immer scheint, in einem Zimmer aus Rosenblüten.

«Mmh. – Wann hast Du das erste Mal geraucht?» «Mit 14. Mit meinen damaligen Freunden habe ich fast zusammengewohnt. Meine Eltern trennten sich und waren mit sich selbst zu sehr beschäftigt.» Das mußte reichen zur Erklärung; hoffte sie wenigstens. Sie wollte nicht soviel reden über sich. «Mann, ich war 18 oder 19, das war auf einer Fahrt in den Süden, Italien oder so, und mein bester Kumpel hatte das Mega-Zeug mit…» «Ich hasse diese alten Kiff-Geschichten!!» «Okay. Sorry.»

Sie rauchen, beide, jetzt schweigsam. Qualm zieht durch den Raum. Er schaut sich um, denkt, daß er von seinen wenigen, aber regelmäßigen Besuchen nur die Küche kennt. Er weiß nicht, was er wirklich hier zu tun hat. Sie trafen sich ein paar Mal beim Einkaufen im Supermarkt nebenan; sie hat ihn einmal beim Schokoladen-Kauf beraten. Seitdem nicken sie sich zu, wenn sie an der Kasse stehen. Dann hat er sie beim Müllrausbringen gesehen und wußte, daß sie Nachbarn sind. Er hat wenig Kontakte hier in der Stadt und abends oft keine Lust, etwas zu organisieren; manchmal kommt auch nichts im Fernsehen, also besucht er sie. Er weiß nicht, ob sie einen Schreibtisch besitzt, wie ihr Schlafzimmer aussieht; ob sie zwei Kopfkissen hat? Er kennt auch ihr Fotolabor nicht, hinten, in der kleinen Kammer neben der Badewanne.

Sie schauen ruhig auf das kleine Aquarium, das mit Farben spielt. Grün, blau, grün, blau, grün, blau. Geteilte Einsamkeit. «Du hast das Licht zum Leuchten erst gebracht», zitiert er, schaut sie nicht an, denn er meint sie gar nicht, dreht gedankenverloren an seinem Ring an der Hand. Shakespeare; wann hat er das wohl gelesen. Er hat doch nie Zeit, etwas zu lesen. Wahrscheinlich hat er vergessen, von wem das Zitat ist. Es ist nur eine leise warme Spur in seinem armen Kopf.

Sie steht auf, kocht Tee. Sie kocht immer Tee, wenn Worte ihr nicht mehr weiterhelfen.



Kommentare:


17. April 2002

Liebe Lisa,
Dein kleiner Prosa-Text «‹Keine andere›» ist wunderbar. Und jetzt noch das «Nachtstück»! Und nicht zu vergessen Dein «Zusehen». Tja, liebe Lisa, seit Tagen grübele ich und möchte mein Gehirn entlasten, indem ich Adjektive, Genre-Worte, Bilder, Überschriften suche, welche Deine Texte trefflich zusammenfassen und in einen Rahmen setzen könnten. Ich brauche Worte, um Deine Texte, die mich sehr berühren, beunruhigen, aber auch seltsamerweise friedlich stimmen, in irgendeine Wort-Ecke legen zu können. Du weißt ja, das Denken kommt zur Ruhe, sobald es zum Wort gekommen ist. Ach, da sind so viele innere Bewegungen in Deinen Texten, so viel Klarheit, auch so viel Dunkles, dennoch leuchten sie, sind auch hell, und ich weiß nicht wieso.
Auf jeden Fall ist folgendes geschehen: Ich hatte gestern einen eher «dunklen› Abend, ohne Hoffnung, aber mit Zwischentönen, ein Mann in meiner Nähe war mir nicht nah, er hatte, wie in Deinem «Nachtstück», mit sich zu tun, er war zwar neben mir, aber er sah mich nicht. Er war in seiner Welt. Draußen, irgendwo. Ich las – purer Zufall – «Heimkehr nach Tipasa» von Albert Camus. Aber eigentlich träumte ich mehr, wie ein Leben auch aussehen könnte. Drinnen, irgendwie. Und ich hatte die gleich folgende Stelle schon überlesen, bis ich auf einmal etwas wacher wurde, zurückblätterte, und die Stelle noch einmal las. Und da wußte ich, dies ist das Motto, das über allen Texten von Lisa Blausonne schweben sollte. Hier ist es nun, und ich habe nur ein Wort verändert, damit das Motto auch schweben kann: «Im Herzen ihres Werkes, auch wenn es dunkel ist, strahlt eine unversiegbare Sonne, dieselbe, deren Schrei sich heute über Ebene und Hügel erhebt.»
Gabriele



Erstellt: 15. April 2002 – letzte Überarbeitung: 17. April 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.