BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Rausch»
von Lisa Blausonne
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Es ist die Jahreszeit, in der die Pappeln vor dem Fenster rauschen. Es ist die Zeit, in der sich die Luft nicht entscheiden kann, ob es warm werden soll oder nicht. Luftströmungen vermischen sich unerklärt.

Der Ablauf meiner Tage ist wirr, kein Tag will dem anderen gleichen. Kontinuität, dieses Gespenst aus dem geordneten Alltag, habe ich vor langer Zeit verscheucht, um durchzuatmen, um die Sinne klarer zu halten, um mich in die Offenheit von 24 Stunden hinein zu stürzen. Jeder Tag erscheint neu, enthebt sich einer Routine. Nie soll die unterdrückte Sehnsucht nach einem Ankommen gestillt werden. Immer in der Schwebe bleiben, immer im Spiel: Der Preis der Ruhelosigkeit. Oder der Gewinn. Keine feste Stelle, keine feste Beziehung, viele Reisen: Reisejournalismus. Ich vagabundiere durch mein Leben und lese Geschichten auf.

Jederzeit alten Staub abklopfen, immer wieder vergegenwärtigen, dass ein anderes Leben vielleicht möglich ist. Ich nehme dabei Abschied von Menschen und Orten, zu oft. Es macht wenig Sinn, sich die alten Fotos wieder und wieder auf dem Rechner anzuschauen. Jene Zeit bleibt lebendig, aber nicht durch die Betrachtung von Bildern.

Die letzen Tage verbracht in Askese, mit keinem Menschen gesprochen, mich nur Text und Tee gewidmet: der Kopf ist klar. Der ewige Kampf zwischen Apollo und Dionysos zeichnet sich wieder ab. Eine Verschmelzung zwischen wilder Regung und maßvoller Begrenzung, eine Balance würde die Seele wieder ruhig im Körper ruhen lassen. Meine Seele aber wohnt im Haus, indem eine nie enden wollende Umwälzung stattfindet. Ich sammle die vertrockneten Blüten der Orchideen in meiner Wohnung auf, die auf den Boden getropft sind, werfe sie durch das Fenster in den Vorgarten und verlasse das Haus.

Es ist Nacht. Ich fahre gedankenverloren in eine andere Stadt und betrete eine Bar. Durch die roten Strahlen einer Lampe tanzt träge der Staub. Eine enge Wendel-Treppe führt mich nach oben, Musik lockt, ich trete ein, eine Frau in Robe empfängt mich, ich zahle Eintritt, ich bin im Salon. Das Licht wirkt milchig durch die Rauchschwaden und die Hitze; ich sehe gepflegte Menschen an Holztischen vor Rotweingläsern sitzen und auf die Tanzfläche schauen. Ein Klavier, eine Violine, fließende Bewegungen der Paare auf dem Parkett. Männerarme halten grazile Frauenkörper, führen sachte. Die Paare verschmelzen im Einklang mit der Musik, aus ihren Gebärden spricht die Verzauberung. Keine Geste erscheint künstlich, auch nicht dem Fremden. Tanz als lautlose Poesie. Schweiß. Zwei Frauen tanzen eng, ohne sich anzusehen, selbstvergessen. Lächeln, Gänsehaut am Décolleté . Der Körper wird zum Resonanzraum der Melodien, Rhythmus ersetzt den Puls, d´Arienzo, Pugliese, Piazzolla erfüllen das Bewusstsein. Sehnsucht wird zur Bewegung. Geschlossene Augen, halboffene Münder, Lippen, die sich nicht bewegen und doch sprechen. Der Raum voll Rauch, Hitze, entrückte Blicke über Schultern. Die Japanerin im hellbeigen Rock wirkt zerbrechlich. Unechter, bunter Schmuck blitzt unter vereinzelten Lichtstrahlen. Netzstrumpfhosen, Abendkleider, Jeans: Es ist der Tango, der vereint -- für den Moment des Tanzes. Niemand spricht, kaum ist der Name des anderen bekannt. Körperlichkeit ohne Versprechen.

Die tanzenden Menschen bewegen sich ruhig und gleichmäßig - wie Wellen des Ozeans. Die offenen Haare der Frauen sind wie Seetang unter Wasser, schwerelos und weich. Und wenn ich tanze, bin ich ein Stein ohne Gewicht, der durch tiefes Wasser fällt; die Milchstrasse sah, weil der glatte Ozean das All widerspiegelt. Ich falle fliegend, drehe mich, den Kopf unter, merke, wie die Luftblasen am Körper entlang nach oben steigen, ich schwebe, ohne Anstrengung, verliere die Orientierung, verliere die Kontrolle und lache darüber - still. Ich falle sanft ins Dunkle und Blaue, finde eine Strömung, die das Wasser um mich herum rauschen lässt, falle weiter und weiter, sehe kein Licht, kein unten und oben, fühle mich sicher und aufgehoben.

Ist der Tanz zu Ende, zuckt ein kleiner Schmerz durch meinen Körper, mein Fuß tritt unvermittelt hart auf wie beim Flamenco; zur Verzückung gesellt sich das Grausen, das im Ozean verhallt, in dem die Meerjungfrauen zu Schaum wurden und oben auf den Wellen tanzen und singen. Sie wissen, sie werden nie den Boden mehr sehen, nie die Welt unterhalb der bewegten Stille erkennen, nie im vollen Ernst im eigenen Garten stehen und Laub kehren.



Kommentare:

15. Juni 2003

Lisa,
Tango als erotisches Wechselspiel von Formvollendung und -vernichtung, die See als Fluchtpunkt fließender Existenzentwürfe? Ein wundervoller Reisebericht aus dem Jenseits von Gut und Böse.
Berührt,
S.



Erstellt: 29. Mai 2003 – letzte Überarbeitung: 14. August 2003
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