BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Regenhaut»
von Lisa Blausonne
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Wir verharren mitten im Gespräch auf der Straße und schauen beide in die gleiche Richtung, ohne uns dabei ansehen zu können. Grau-blaue Nachtfarben. In der Nähe befindet sich das Haus, in dem du wohnst. Der Asphalt ist nass vom Regen, der uns beim Schlendern um die Häuserblocks die Sicht nahm und nun aussetzt. Wir starren auf das Gebäude schräg gegenüber und lesen die Werbe-Schrift über dem Eingang; wir lesen in Zeitlupe, als gelte der Reklame unser höchstes Interesse, und werden gewahr, dass das Schild mit der Aufschrift orange-grün ist. Es wird schon immer orange-grün gewesen sein, den ganzen langen Sommer hinweg, in dem wir so viele Male an dieser Stelle in meinem Auto saßen und plauderten. Aber es hat uns bisher nie interessiert. Nun ist es Herbst; eigentlich ist es bereits Winter, das Herbstgefühl wurde in diesem Jahr übersprungen: Zu schnell sind die Blätter von den Bäumen gefallen, zu wenig Spaziergänge in warm-roten Wäldern mit sanft wehenden Kastanienblättern - der Herbst wurde in drei Tagen abgehandelt und zu rasch von der Kälte ersetzt.

Du arbeitest in dem Café, in dem ich bis gestern jeden Tag meine Mittagspause verbrachte. Das Büro, in dem ich für fünf Monate arbeitete, befindet sich gleich neben dem Café. Ich wollte nicht, dass du abends alleine auf diesen leeren Straßen gehst, und da wir zur gleichen Zeit Feierabend hatten, fuhr ich dich nach Hause. Dreimal die Woche. Anfangs waren unsere Gespräche zurückhaltend, ohne Verbindung; du redetest über deine Gäste, ich über den Redaktionsalltag. Irgendwann gewöhnten wir uns eine Gute-Nacht-Umarmung an, plötzlich voller Sehnsucht, die sich zwischen deinen Wimpern verirrte, bald folgte ich dir in deine Wohnung.

Deine helle Haut schimmert. Wir stehen vor dem Abschied, dem letzten, dem Abschied bis irgendwann. Ich verlasse die Stadt. «Es muss dieses irgendwann geben. Das ist Glaube, Liebe, Hoffnung», sagst du und lächelst schief. Du hast heute zwei winzig-silbrige Glitzersteine auf die Unterlider deiner Augen geklebt; die Lichtreflexion ist so minimal, dass ich irritiert bin, nie sicher, ob dort am Rande deiner hellen, seeblauen Augen nicht Tränen glänzen.

«Ich glaube, alles wird gut». Du schaust auf die Uhr, aber es gibt keine Zeitangaben. Wir sind aus der Zeit gefallen, wie in ein weiches, frisch bezogenes Federbett. «Der Uhrzeiger lügt sowieso; es ist kaum möglich, dass bereits vier Stunden vergangen sind», sagst du. Wir gehen langsam zum Wagen, mit dem ich wegfahren werde. Und bevor ich den Schlüssel aus der Handtasche nehme, ziehst du mich am Auto vorüber, und wir gehen die Straße bis zum Ende weiter, als gäbe es dort ein anderes Ziel. Aber es gibt nur diesen Moment. Es ist der falsche Zeitpunkt.

Die Straße endet an einem verwaisten Feld, auf dem die Überreste eines abgerissenen Hauses stehen, gesäumt von drei kahlen, hohen Bäumen. Von ihren Ästen, die im Licht der Straßenlaterne aussehen wie ausgestopfte, glänzende Aale, tropft langsam der Regen ab. Wir sagen unser Mantra auf: «Ich werde dich vermissen.» - «Ich werde dich auch vermissen.» «Wie die Szene wohl aussehen mag: Zwei Frauen stehen einander zugeneigt in ihren gelben Regenmänteln am Ende dieser Gasse und regen sich nicht. Und das mitten in der Woche - um diese Zeit.» Ich friere. Bevor wir zu viele Belanglosigkeiten austauschen, gehen wir zügig zurück.

Du fragst mich, ob ich dich liebe. «Für mich ist Liebe ungerichtet. Ich liebe. Aber nicht jemanden. Ein Beisammensein mit jemandem ist eine achtsame Entscheidung, kein romantisches Schicksal. Ich kann dir nicht geben, was du Liebe nennst. Liebe ist. Sie ist da, ich kann sie erfühlen und wenn ich genügend Ruhe habe, herstellen. Aber du wirst keine Projektionsfläche dafür. Denn ich brauche keine Projektionsfläche. Du sagst, ich soll dir Liebe geben; was sollte das sein? Wie würdest du diese erkennen? Du denkst durch Gesten, in Worten, die dich stärken, dich anerkennen, dich wärmen? Aber all das kannst du dir selber am besten geben: Stärke, Wärme, Anerkennung. Niemand sonst wird es dir geben! Es ist eine fatale Illusion, dass du glaubst, man müsse die richtige finden, die dir das geben kann. Es wird diese richtige nie geben. Ich bleibe allein.» «Das klingt hart.» Ich schaue sie an, wortlos. Ich erinnere ihre weiche Haut unterhalb der Ohren, kenne meinen Blick auf ihre Augenbrauen, wenn sie - wie jetzt - auf den Boden schaut, weiß um jede Ader ihrer Hände, erahne ihren wundersamen Geruch nach roten Petunien. Ich steige in mein Auto und sehe durch die nassen Scheiben, wie sie sich umdreht und geht. Ich fahre über die grünen Lichtspiegelungen auf den Pfützen der leeren Kreuzung und habe eine Gänsehaut.



Erstellt: 7. Dezember 2003 - letzte Überarbeitung: 7. Dezember 2003
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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